Kinder beim spielen (Quelle: rbb)

- Ausgrenzung - Keine freie Schulwahl für behinderte Kinder

Eine Schule in Baden-Württemberg darf keine Behinderten mehr aufnehmen. Die Landesregierung hat den Unterricht, in dem Behinderte integriert werden, für die Schulanfänger verboten. Das Schulprojekt war bislang geduldet worden. Müssen die Kinder jetzt in eine Sonderschule? Das würde gegen Völkerrecht verstoßen, denn in der UN-Konvention für die Rechte Behinderter ist ein freier Schulzugang festgelegt.

Wann haben Sie das letzte Mal einen geistig Behinderten gesehen?! Wahrscheinlich müssen Sie jetzt etwas länger nachdenken, denn Behinderte sind in Deutschland fast unsichtbar. Von klein auf an werden sie in speziellen Einrichtungen untergebracht, wo man sich bestimmt gut um sie kümmert. Aber den alltäglichen Umgang mit Nichtbehinderten – möglichst in ihrer eigenen Altersgruppe – den erleben Behinderte kaum. Sie werden eher von der Außenwelt abgeschottet. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Anna Berkhout und Chris Humbs.

Der Bundesrat. Mitte November. Hier wird eine weit reichende Entscheidung getroffen: es geht um eine Konvention der Vereinten Nationen. In Zukunft sollen auch geistig behinderte Kinder Zugang zu ganz normalen Schulen bekommen. Die UN fordert: in Deutschland muss Schluss sein mit der Diskriminierung von behinderten Kindern.

Karin Evers-Meyer (SPD), Behindertenbeauftragte der Bundesregierung
„Das Schulsystem ist diskriminierend in Deutschland ganz eindeutig. Das wird auch schon im Ausland erkannt, meine Kollegen, Behindertenbeauftragten aus aller Welt, haben mir in New York gesagt, dass wir Deutschen ja offensichtlich besser aussortieren als einsortieren könnten. Ich finde es ist jetzt die richtige Zeit, gerade mit der UN-Konvention im Rücken, die Verhältnisse zu ändern.“


Hier wurden die Verhältnisse bereits gerändert. In der Waldorfschule Emmendingen, Baden-Württemberg. Dies ist eine Schule, die im Modellversuch auch geistig Behinderte einschult. So, wie es die UN-Konvention fordert. Drei bis vier besonders Lernschwache sind in jeder Klasse. Die Eltern der Kinder sind glücklich – es entstehen Freundschaften zwischen den Schülern – egal ob behindert oder nicht.


Anne Seidler, Mutter von Henrik
„Hier fangen jetzt nach fünf Wochen an, die ersten Kontakt zu entstehen. Hendrik ist jetzt eingeladen worden zu einer Schulfreundin. Andere sprechen mich an, ob der Hendrik nicht am Nachmittag mal kommen kann. Die Kinder erzählen zu Hause und freunden sich an und das ist das Allerwichtigste für mich.“

Gemeinsames Spielen und Lernen. Von der ersten Klasse an. So wird die
Scheu vor dem Fremden, Andersartigen abgebaut.

Der Umgang miteinander wird selbstverständlich. Auch die Eltern von nicht behinderten Kindern sind von dieser Schule überzeugt:

Stefanie Schaich, Mutter von Anouk
„Zum Beispiel, wenn sie davor jemanden getroffen hat, wo vielleicht nicht so schön aussah: hat sie gesagt ‚Ihhh…’ und jetzt geht sie zum Beispiel wenn wir jemanden Behinderten treffen ganz anders damit um und macht sich Gedanken, warum die Menschen so sind und kann das viel besser annehmen und das macht mich einfach glücklich, wenn ich das sehe.“

Die 12 Klasse. Auch hier werden behinderte und nicht behinderte Kinder gemeinsam unterrichtet. Die Schüler planen ihre Abschlussreise – noch vor den Abiturprüfungen. Die Behinderten werden den Abschluss nicht schaffen. Der Lernstoff ist zu schwierig. Dennoch: Sie haben 12 Jahre lang mit den Nichtbehinderten gelernt, gefeiert und auch mal gestritten. Hier sind sie mitten im Leben, werden täglich gefordert. Anders als in einer Sonderschule, wo Behinderte getrennt von nicht behinderten Schülern gefördert werden.

KONTRASTE
„Könntest Du Dir vorstellen, auch auf eine andere Schule zu gehen.“
Tronje Huse, Schüler
„Nee, ich will hier bleiben und da bin ich gut aufgehoben.“
Helena Häringer, Schülerin
„Man versucht beiden Seiten dieses Miteinander beizubringen und ich find das gehört einfach zu einer ganz normalen Gesellschaft dazu, dass dieses Miteinander, dass das normal ist.“
Erhard Beck, Lehrer Waldorfschule Emmendingen
„Ich war vier Jahre in einer Sonderschule, acht Jahre in einer ganz Normalen, jetzt in der Integrativen und ich hab aus Erfahrung gemerkt, dass die Kinder in der integrativen Schule einfach noch mehr lernen und zwar von den Mitschülern und das kann eine Sonderschule nicht gewährleisten.“
Lehrerin
„Good morning, what is your name?“
Schüler
“Merlin.“

Im Klassenzimmer helfen der Lehrerin zusätzlich eine Pädagogin und eine Sozialarbeiterin.

Das kommt der ganzen Klasse zu Gute. Trotzdem – dieses Konzept ist immer noch kostengünstiger als eine traditionelle Sonderschule. Eine Ursache: weniger Bürokratie, geringere Verwaltungskosten.

Es ist ein Konzept, das alle glücklich macht – nicht nur geistige Behinderte, wie Chiara!

Also: alles gut?

Falsch!

Gloria Albrecht, Mutter von Chiara
„Wir haben sie hier angemeldet und dachten, sie kann hier auf die Schule gehen. Plötzlich hieß es: `Ne! Manche Kinder dürfen nicht in diese Schule kommen.` Und dann haben wir gesagt, wir haben uns ein Jahr Zeit genommen, die richtige Schule für Chiara zu finden. Wir fanden das diese die beste Schule ist, dass kann jetzt nicht sein, dass aus politischen Gründen Chiara hier nicht herkommen darf.“

Der Grund: Das einzige Schulmodell dieser Art wurde kurzfristig von den baden-württembergischen Behörden gestoppt. Und somit ist die erste Klasse wieder ausschließlich nicht behinderten Kindern vorbehalten, Kindern also, die keine zusätzliche Unterstützung brauchen. Die vier behinderten Kinder nehmen dennoch am Unterricht teil – illegal.

Diana Schiekofer, Mutter von Nelson
„Es kann nicht sein, dass ich das Bundesland verlassen muss, nur weil die Politik so ignorant ist und uns keine Möglichkeit lässt unser Kind so zu unterrichten, wie es die Wissenschaft und Forschung verlangt.“

Das ist eine Diskriminierung der Behinderten - sagt die UN-Konvention. Eine solche Separierung soll in der Regel nicht mehr stattfinden.

Auch der Vertreter aus Baden-Württemberg hat dieser Konvention im Bundesrat zugestimmt.

Vertreter Baden-Württemberg
„Wir haben nichts gegen die Konvention.“

Man stimmt zu, will im Kreis der Bundesländer nicht negativ auffallen.

In der Praxis: hält sich Baden-Württemberg einfach nicht daran.
Im Landesschulministerium ist man sich keiner Schuld bewusst.

Denn, der Konventionstext wird hier eigenwillig interpretiert.

Georg Wacker (CDU), Staatssekretär im Ministerium für Kultus Baden-Württemberg
„Die UN-Konvention macht an keiner Stelle Vorgaben in wie weit die Länder verpflichtet werden, bestimmte System umzusetzen.“

Doch das ist nicht richtig. Die von den Unterzeichnerstaaten ratifizierte UN-Vorgabe ist eindeutig. Darin steht, Zitat:
„Menschen mit Behinderungen werden nicht vom allgemeinen Bildungssystem ausgeschlossen…“

Und noch konkreter heißt es in der UN-Konvention – damit ist, Zitat:
„ein inklusives Bildungssystem“
Gemeint.

Inklusion ist hierbei ein Fachbegriff, der weltweit gleich übersetzt und verstanden wird: Regelschulen müssen auch für Behinderte offen sein.

Karin Evers-Meyer (SPD), Behindertenbeauftragte der Bundesregierung
„Der Inklusionsbegriff geht vom Kindergarten, in die Grundschule, dann in die weiterführenden Schulen, das heißt, wir trennen die Kinder niemals. Die bleiben immer zusammen solang wie es irgend geht. Und vor allen Dingen heißt Inklusion natürlich auch, dass Eltern für ihre behinderten Kinder wählen können, ob sie eine inklusive Schule besuchen wollen oder eine ganz bestimmte Förderschule.“

Freie Wahl? Davon will die Landesregierung nichts wissen. Behinderte gehören in die Sonderschule, weg von der Regelschule. UNO hin oder her.

KONTRASTE
„Jetzt diskriminieren sie die Kinder wieder, in dem sie sie aus dem normalen Schulalltag herausnehmen und sagen: wir wollen euch wegnehmen aus dem normalen gesellschaftlichen Leben.“
Georg Wacker (CDU), Staatssekretär im Ministerium für Kultus Baden-Württemberg
„Wir diskriminieren unsere Kinder nicht in unserem Bildungssystem, sondern wir fördern sie optimal.“
KONTRASTE
„Warum beschweren sich dann so viele Eltern.“
Georg Wacker (CDU), Staatssekretär im Ministerium für Kultus Baden-Württemberg
„Diese Beschwerden in diesem Umfang nehme ich nicht war.“

Anne Seidler, Mutter von Henrik
„Das was hier passiert ist die Folge von jahrzehntelanger Trennung, wir unsere Generation sind es nicht gewöhnt mit Behinderten umzugehen () Ich habe nie mit einem Menschen mit Downsyndrom Kontakt gehabt und dann hatte ich plötzlich dieses Kind. Und wusste nichts und war völlig vor dem Nichts. Und deshalb habe ich mein Kind integriert, damit andere Kinder den Umgang lernen, damit die Eltern die Angst verlieren und wenn man jetzt sehen was die Politiker machen, sie haben selbst nie Kontakt gehabt mit Behinderten, die sind selbst nicht betroffen und deswegen können sie es sich selbst nicht vorstellen, dass es funktionieren kann.“

Nicht nur, dass die Politik nicht will. Angeblich könne man gar nichts machen: Denn das Schulgesetz untersagt die Einstellung von zusätzlichem Personal für Behinderte an normale Schulen.

Es gibt es also keine Zukunft für diese Schule. Außer: die Politik überdenkt die Gesetzgebung.

KONTRASTE
„Das heißt, die Gesetze müssten verändert werden?“
Georg Wacker (CDU), Staatssekretär im Ministerium für Kultus Baden-Württemberg
„Das Gesetzgeber theoretisch immer die Möglichkeit haben, Gesetzte zu ändern ist klar. Es stellt sich die Frage der Zweckmäßigkeit.“
KONTRASTE
„Aber man will eben nicht. Es gibt also keine Ambitionen dieses Gesetz zu ändern – von Seiten der Landesregierung.“
Georg Wacker (CDU), Staatssekretär im Ministerium für Kultus Baden-Württemberg
„Nein, weil wir alternative Angebote haben.“

Sissi Fischer, Mutter von Balthasar
„Also, wenn ich jetzt meine Wut als Mutter hier beschreiben müsste, dann würde ich jetzt in Tränen ausbrechen. Aber das werde ich vor der Kamera nicht.“

Eine Hoffnung haben die Eltern aber noch. Denn: Theoretisch bricht Völkerrecht Landesrecht. Das Landesgesetz müsste also vor diesem Hintergrund geändert werden.

Völkerrechtler Professor Poscher kennt die praktischen Auswirkungen der neuen Menschenrechtskonvention. Wenn die Politiker die Rahmenbedingungen nicht ändern wollen, können betroffene Eltern die UN um Hilfe rufen.

Prof. Ralf Poscher, Rechtswissenschaftler Universität Bochum
„Dann kommt ein Mechanismus ins Spiel, dass der Behindertenrechtsausschuss eben auch Untersuchungen durchführen kann, wenn er durch die ihm zugänglichen Informationen den Eindruck bekommt, dass die Konventionsrechte systematisch verletzt werden.“
KONTRASTE
„Ich stell mir vor, dass dann UN-Inspekteure in Deutschland unterwegs sind und, wenn es dann Anzeigen gibt, wenn es dort Beschwerden gibt, dann wird eine Blauhelmtruppe durch Deutschland marschieren, die dann nach dem Rechten guckt.“
Prof. Ralf Poscher, Rechtswissenschaftler Universität Bochum
„Ja. Also das Untersuchungsverfahren ist in der Tat darauf angelegt, dass Mitglieder des Behindertenrechtsausschusses vor Ort – in den Vertragsstaaten – Untersuchungen vornehmen können.“

Die Schule will weiter auch die behinderten Kinder unterrichten. Notfalls unter dem Schutz der Vereinten Nationen.

Baden-Württemberg ist nicht das einzige Bundesland, das die neuen Regeln nicht umsetzen will. Auch Bayern und Nordrhein-Westfalen wollen nicht, dass behinderte Kinder an ganz normalen Schulen unterrichtet werden. - Wie finden Sie das?! Diskutieren Sie mit uns im Internet. Und zwar in unserem Kontraste-Blog. Den finden Sie ganz einfach, auf unserer Internet-Seite: unter www.kontraste.de!