Schüler aus Brandenburg (Quell: rbb)

- Reise zum fremden Nachbarn: Brandenburger Schüler in Berlin

Nach rechtsradikalen Überfällen auf Berliner Schüler in Brandenburg treffen sich Rheinsberger Schüler mit Gleichaltrigen in Berlin: Der Versuch der Annäherung mißlingt.

Jedes Jahr machten sich zwischen sechstausend und achttausend Berliner Schulklassen auf den Weg ins benachbarte Brandenburg, zu entdecken ein dünn besiedeltes Land voll der landschaftlichen Schönheiten, für die Westberliner verschlossen bis zur Wiedervereinigung.
Nun ist der Zustrom blockiert. Denn seit Anfang dieses Jahres häuften sich überfälle von einheimischen Jugendlichen auf die Besucher aus der Vielvölkerstadt Berlin. Zwei fremde Welten begegnen sich und prallen aufeinander. "Großkotzige Bulettenfresser" auf der einen Seite, "Dorftrottel" auf der anderen, da ballt der Minderwertigkeitskomplex die Faust oder greift zum Baseballschläger.
Kontraste-Autor Sascha Adamek versucht mit einem Experiment die sprachlose Feindseligkeit zu überwinden.


Die Heinrich-Rau-Oberschule in Rheinsberg, einer brandenburgische Kleinstadt 90 Kilometer nordwestlich von Berlin. Die Klasse 7 B begibt sich auf eine ungewöhnliche Klassenfahrt. Ihr Ziel: Berlin-Kreuzberg. Dort besuchen sie gleichaltrige Schüler einer Realschule. Anlaß der Reise: ein dramatisches Ereignis vor einigen Wochen:

An dieser Bushaltestelle in Rheinsberg wurden Ende Mai zwei Kreuzberger Schüler während einer Klassenfahrt von rechten Jugendlichen übel zugerichtet. Zunächst schlugen sie einen farbigen Schüler vor ein Busfenster, dann einen türkischen Klassenkameraden ins Gesicht. Wenig später traktierten sie eine Kreuzberger Schülerin während einer Busfahrt.

Die Klassenfahrt ist für alle eine heikle Mission. Die Rheinsberger Schulleiterin und ihre Kollegin möchten vor allem eines: den Ruf ihrer Stadt retten. Der achtzehnjährige Rädelsführer des überfalls besucht auch ihre Schule, doch für die Direktorin ist anderes viel schlimmer:

Gudrun Schmetsdorf (Schulleiterin Rheinsberg)
"Daß Rheinsberg in diese Szene gestellt wird, daß Rechte hier auftreten, das weisen wir von uns, da spreche ich für ganz Rheinsberg."

Ihre Schüler ahnen bereits: die Fahrt wird ein schwieriges Unterfangen. Für sie ist Kreuzberg außerdem ein fremdes Land.

Schüler Rheinsberg
"Das ist, wo die schlimmeren Leute hinkommen, die Ausländer und so."

Frage:
"Was fällt Dir ein?"

Schülerin Rheinsberg
"Nur Negatives, daß es einen schlechten Ruf hat, wegen der Ausländer."

Schülerin Rheinsberg
"Kriminalität ist da viel."

Frage:
"Von wem weißt du das?"

"Von meinen Eltern."

Ankunft an der Borsig-Realschule Kreuzberg. Zögerliches Aussteigen. Die spontane Begrüßung aus dem Fenster verunsichert. In der Schule angekommen, scheuen die Rheinsberger vor den Kreuzberger Schülern erst einmal zurück. Die Kreuzberger können sich noch gut an den überfall in Rheinsberg erinnern. Unter ihnen sind auch die Opfer:

Schüler Kreuzberg, (Opfer)
"Der ging erstmal zu meinem Freund, hat ihn geschlagen und meinte dann zu mir: du gefällst mir auch nicht."

Frage:
"Was hast du daraufhin gesagt?

Schüler Kreuzberg, (Opfer)
"Ich konnte nichts sagen, weil er mich geschlagen hat."

Bärbel Madey, Lehrerin Kreuzberg
"Es war so, ich habe genau nebendran gestanden, er kam wirklich nicht dazu, es war ein Bruchteil von Sekunden, da krachte wirklich die Faust rein."

Ursprünglich wollten die Rheinsberger die Kreuzberger in ihre Schule einladen. Doch Schülern, Eltern und Lehrer in Kreuzberg lehnen eine neue Fahrt nach Rheinsberg ab. Sie versuchen zu erklären, warum:

Ruth Schindler, Lehrerin Kreuzberg
"Vielleicht können Sie sich das gar nicht vorstellen, was das für ausländische Eltern bedeutet, ihre Kinder in unsere Obhut zu geben und am Abend kehren wir mit drei Schreckensmeldungen zurück und das sind ja nicht die einzigen Dinge in Brandenburg. Da möchte ich einfach mal appellieren, sich zu überlegen, was es für Eltern bedeutet, da ihre Kinder wieder hinzuschicken, ich würde es als Mutter auch nicht machen."

Gudrun Schmetsdorf, Schulleiterin Rheinsberg
"Da müßte ich eigentlich Angst haben, in Rheinsberg zu wohnen, weil Rheinsberg scheinbar nur aus Schlägern besteht und das ist nich so. Wir sind hergekommen, um Euch zu zeigen, daß Rheinsberg ganz anders ist und deswegen hat mir das Klatschen eigentlich wehgetan. Wenn wir die Zeitung aufmachen, steht auch andauernd drin: Ausländer haben hier geklaut und dort geklaut, sind hier kriminell geworden und da kriminell geworden. Und ich muß ehrlich sagen: auch unsere Eltern in Rheinsberg haben gesagt: Was, Ihr wollt nach Kreuzberg fahren? Sind die Kinder da überhaupt sicher?"

Schüler, Kreuzberg
"Das, was die Frau da gesagt hat, mit dem Klauen, hat mit dem Schlagen doch nichts zu tun. Außerdem sind hier drei Millionen Leute, und das ist doch nicht vergleichbar mit 5000 Leuten, da ist doch klar, wenn man die Zeitung aufschlägt, das da mehr drinsteht."

Andreas Suter, Lehrer Kreuzberg
"Was wißt Ihr denn eigentlich über den Stadtbezirk Kreuzberg?"

Doch was sie über Kreuzberg denken, behalten die Rheinsberger jetzt lieber für sich. Erklärungsversuch:

Gudrun Schmetsdorf, Schulleiterin Rheinsberg
"Das bedeutet nicht, daß wir Euch nicht mögen, sondern, weil solche Situation mit so vielen ausländischen Kinder, ich weiß nicht ob es ausländische Kinder sind, Ihr seid bestimmt auch alle Deutsche. Aber Ihr seht eben anders aus, als Deutsche vom ureignen Sinne und das ist für Rheinsberger völlig neu."

Unterschiedlich Aussehen ist für Kreuzberger ganz normal. Doch für sein Aussehen bedroht und geschlagen zu werden, wie in Rheinsberg, ist für sie wiederum völlig neu.

Andreas Suter, Lehrer Kreuzberg
"Was glaubst du, wie das auf uns wirkt, im Stadtbild so viele Glatzen zu sehen, im Bus, das sind Sachen, die wieder für uns völlig neu sind, das war enorm in dieser Massivität."

Schüler, Rheinsberg
"Es ist nur ein kleiner Teil von Rechten, die gewaltbereit sind. Die meisten wollen nur dazugehören, ziehen sich Stiefel und Bomberjacken an. Sie rufen Naziparolen, aber die würden nie was machen."

Frage (Autor)
"Was sagen Sie als Schulleiterin dazu, daß es viele Rechtsradikale an der Schule gibt?"

Gudrun Schmetsdorf, Schulleiterin Rheinsberg
"Also, das würde ich erstmal wegweisen, weil man müßte sich erstmal darüber unterhalten, was Rechtsradikalismus überhaupt bedeutet und es eindeutig erwiesen, daß die Jugendlichen, die bei uns an der Schule sind und sich, ich sag' mal, von anderen unterscheiden, nicht rechtsradikal sind. Sie versuchen zwar auf sich aufmerksam zu machen, aber es sind keine rechtsradikalen Methoden, sie sind auch nicht organisiert."

Schülerin, Kreuzberg
"Wenn wir jetzt dahinkommen und sehen eine Gruppe, die so angezogen ist, dann können wir nicht hellsehen, ob die uns was tun, oder ob die nur blöde Sprüche klopfen."

Verunsicherung und Trotz bei den Rheinsbergern. Mißtrauen und Ablehnung bei den Kreuzbergern. Ein letzter Annährungsversuch. Bei einem Spaziergang wollen die Kreuzberger den Rheinsbergern ihren Kiez zeigen.

Andreas Suter, Lehrer Kreuzberg
"Wir gehen jetzt über den türkischen Basar, der ist sehr interessant..."

Doch für die türkischen Händler haben die 13jährigen Rheinsberger keinen Blick. Die Diskussion wirkt nach. Sie fühlen sich und ihren Heimatort zu Unrecht an den Pranger gestellt. Konfliktreiche Wortgefechte sind den Rheinsberger Schülern offenbar fremd.

Schülerin, Rheinsberg
"Wir sind hierhergekommen, um uns mit denen auszusprechen. Und was machen die?"

Schüler, Rheinsberg
"Die haben uns das Wort im Mund umgedreht."

Das Ende eines Verständigungsversuchs. Doch ins Land Brandenburg will auch nach der Diskussion keiner der Kreuzberger Schüler mehr fahren.


Die Konfrontation zwischen Brandenburg und Berlin ist repräsentativ für die gegenwärtige Situation zwischen Deutschland Ost und Deutschland West. Ganz unterschiedliche Existenzbedingungen haben ganz unterschiedliche Mentalitäten bewirkt. Deshalb können die jugendlichen Schläger aus Brandenburg auch nicht auf die Nenner "rechtsradikal", "ausländerfeindlich" oder "perspektivlos" reduziert werden.

Viel bedeutsamer ist, daß sie und ihre Eltern Fremdes in ihrem ummauerten Dasein nie erfahren haben. Russen waren Besatzer, Vietnamesen "Fidschies", kaserniert waren sie und abgekapselt, man war unter sich. Diese Erklärung ist keine Entschuldigung für Gewalttaten. Die übergriffe rechtfertigen aber nicht den Aufruf, kürzlich erschienen in einem Leserbrief einer Berliner Zeitung: "Boykottiert! Sollen sie Spargel aus Beelitz, äpfel aus Werder, Gurken aus dem Spreewald an ihre eigene Brut verfüttern."