Kinder in der Schule (Quelle: rbb)

- Unbewegliche Kinder, dumme Kinder? Zu wenig Sportunterricht in der Schule

Die körperliche Leistungsfähigkeit deutscher Schüler nimmt seit langem ab. Düstere Prognosen sehen gar eine rückläufige Lebenserwartung für die heutige Kindergeneration. Aber niemand fühlt sich verantwortlich. Eltern wissen nicht, wie wichtig Bewegung ist, Lehrer fühlen sich überfordert, die Politik bleibt unbeweglich. Dabei fordern Sportwissenschaftler längst täglichen Sportunterricht. Doch die zuständigen Kultusministerien blockieren Veränderungen. Chris Humbs berichtet.

Die meisten Kinder sind sehr beweglich – und zwar mit den Fingern. Bei der Fernbedienung für den Fernseher oder beim Game Boy. Rolle rückwärts oder einfach mal auf einer Holzbank balancieren: das können nur noch die wenigsten. Eigentlich müssten sich die Eltern darum kümmern, doch das klappt in vielen Familien nicht. So bleibt nur die Schule. Aber da sind die Bildungsminister genauso unbeweglich wie manche Kinder in der Turnhalle. Ein Bericht von Chris Humbs.

Eine Schule für Verkehrserziehung in Berlin. Eigentlich sollen die Kinder hier richtiges Verhalten im Straßenverkehr lernen.

Uwe Karck , Hauptkommissar, Verkehrsunfallprävention
„Keinen Fuß absetzen und so wenig wie möglich Hütchen berühren.“

Doch die Polizisten müssen den Kindern erstmal mühsam die Grundlagen des Fahrradfahrens beibringen. Gleichgewicht halten, maßvolle Gegenbewegungen, all das klappt nicht mehr.

Uwe Karck , Hauptkommissar, Verkehrsunfallprävention
„Also, das ist nicht unsere Aufgabe, den Kindern das Fahrradfahren beizubringen. Das liegt am Elternhaus eben halt. Es hat sich verschlechtert, das sagen auch andere Kollegen von mir eben halt, dass die Eltern ihre Eltern ihre Aufgabe nicht so wahrnehmen, wie es vor einigen Jahren mal gewesen ist.“

Professor Klaus Bös hat für das Robert-Koch-Institut den Bewegungsmangel der Kinder, seine Ursachen und Hintergründe analysiert. Fragt man Eltern, so die Ergebnisse, glauben diese fest daran, dass ihre Kinder sich ausreichend bewegen.

Prof. Klaus Bös, Sportwissenschaftler, Universität Karlsruhe
„Das ist falsch, da täuschen sich viele Eltern, es täuschen sich viele Entscheider, die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für Bewegung haben sich in den letzten zehn Jahren, fünfzehn Jahren gravierend verändert.“

Wenn die Kinder heute mal draußen sind, hat das meist wenig mit Bewegung zu tun. Oft hängt man nur ab. Den Laufweg zu den Freunden sparen sich die meisten, man ruft lieber an. Bolzen, Fahrradfahren, Fangen Spielen: Fehlanzeige. Zu viele Eltern verkennen die Realität und die Konsequenzen:

Prof. Klaus Bös, Sportwissenschaftler, Universität Karlsruhe
„Also Kinder können heute viel schlechter laufen, klettern, werfen.“

Was man nicht kann, macht keinen Spaß. Was keinen Spaß macht, lässt man lieber.

Die Muskeln werden kaum genutzt, sie verkümmern immer weiter. Herz und Kreislauf gehen in die Knie.

Hinzu kommt: Durch die Unbeweglichkeit steigt das Unfallrisiko.

Prof. Klaus Bös, Sportwissenschaftler, Universität Karlsruhe
„Ganz düstere Szenarien zeigen sogar, dass möglicherweise die Generation unserer Kinder nicht die gleiche Lebenserwartung hat wie die Generation der Eltern und das ist zum ersten Mal etwas, was neu ist, dieser Gedanke, denn bisher ist die Lebenserwartung permanent gestiegen.“

Das Problem erkannt haben inzwischen auch die Politiker. Im Auftrag der Kultusministerkonferenz, also des Verbunds der 16 Bildungsminister der Länder, hat Prof. Brettschneider erforscht, wie und wo der Staat eingreifen kann.

Prof. Wolf-Dietrich Brettschneider, Institut für Sportwissenschaften, Paderborn
„Wir müssen ja fragen, also was ist eigentlich der Ort in unserer Gesellschaft an dem alle Kinder erreicht werden und zwar unabhängig vom Geschlecht, unabhängig vom Bildungsniveau, unabhängig vom sozialen Stand. Und die einzige Institution, die das bewerkstelligen kann, ist eben die Schule.“

Prof. Klaus Bös, Sportwissenschaftler, Universität Karlsruhe
„Also meine Forderung an die Politik wäre, eine tägliche Sportstunde in der Grundschule.“

Doch die Schulpolitiker der 16 Länder wollen solche Konsequenzen bisher nicht ziehen. Ihre Angst: Mehr Sport bedeute weniger Unterricht in den so genannten „wichtigen“ Fächern wie Mathe, Deutsch oder Englisch.

Der sächsische Bildungsminister gibt das auch ganz offen zu:

Steffen Flath (CDU), Staatsminister für Kultur Sachsen
„Es verbünden sich auch sehr schnell Lehrer und Eltern, ich sag, wenn die Prüfungen näher rücken dann ist es doch wichtig, dass nicht Mathe oder Physik ausfällt.“

Sport wird für Mathe geopfert. Die Gesundheit der Bildung.

Der Chef der Kultusministerkonferenz unterstreicht zwar die Bedeutung des Sports in der Schule, will sich aber auf eine Priorität des Sports vor anderen Fächern nicht festlegen.

Prof. Jürgen Zöllner, Präsident Kultusministerkonferenz
„Es gibt die anderen Aufgaben, die Schule hat, auch und sie wird sicher ihrer Aufgabe nicht gerecht wenn sie nur eine Seite betont.“

Aber sind Sport und Bildung wirklich Gegensätze? Die Friedrich-Ebert Grundschule in Bad Homburg meint: Nein!

KONTRASTE
„Wie oft habt ihr Sport in der Woche?“
Kind
„Fünf mal!“
KONTRASTE
„Jeden Tag?“
Kind
„Ja, jeden Tag.“
KONTRASTE
„Anstrengend?“
Kind
„Nein.“
Kind
„Ich renn jetzt schon ziemlich schnell, wir zischen schon immer ganz schön ab.“
KONTRASTE
„Jetzt sind ja welche dabei, die in Sport nicht ganz so gut sind, wie geht ihr mit denen muss.“
Kind
„Die fragen wir dann, ob wir die nicht ein bisschen trainieren können.“
KONTRASTE
„Was würdet ihr sagen, wenn jetzt die Politiker kämen würden und sagen würden: `macht mal mehr Mathe und weniger Sport.’ Was würdet ihr dann sagen?“
Kinder
„Nein, nö, nein!“

Schulleitung und Lehrer haben das Modell „bewegte Schule“ vor 15 Jahren in Eigeninitiative durchgesetzt. Ihre Erfahrung: Die Schüler brauchen mehr Bewegung, um sich besser konzentrieren zu können.

Die Erfolge sind erstaunlich. Um Skeptikern zu begegnen, hat die Schule mit Wissenschaftlern zusammengearbeitet, die in einer Langzeitstudie die Entwicklung der Kinder an der Modellschule untersucht haben.

Karl-Heinz Schneider, Grundschullehrer
„Heraus kam, dass die schwächsten Kinder, die motorisch schwächsten Kinder in den vier Jahren bei uns am weitesten sich verbessert haben.“

Die Kinder kommen nach Hause und motivieren die Eltern, auch in der Freizeit Sport zu treiben. Der negative Kreislauf wurde hier umgekehrt. Das alles, obwohl die Schule insgesamt nicht mehr Unterrichtstunden hat, nicht mehr Lehrer. Man bringt einfach Teile des Musik und Sachunterrichts in die Sporthalle.

Die tägliche Bewegung wirkt sich auch auf die anderen Fächer aus. Im Klassenraum ist es jetzt still. Die Kinder hatten vorher Sport – nun Mathe. Sie sind ausgeglichen, arbeiten selbstständig und konzentriert. Der Erfolg stellt sich fast automatisch ein:

Karl-Heinz Schneider, Grundschullehrer
„Das merken wir auch am Elternecho. Es gibt immer wieder Anträge von Eltern, die nicht in unserem Schulbezirk wohnen, die an unserer Schule kommen wollen. Da spielen zwei Sachen eine Rolle: Das eine ist sicherlich die Sache mit dem Sport, das hat sich herumgesprochen … Und, dass unsere Schule im Schnitt beim Übergang an weiterführende Schulen, Gymnasium, relativ gute Ergebnis erzielt. Das spielt sich auch eine Rolle.“

Und wenn die Köpfe rauchen, dann gibt es – schnell - eine bewegte Unterbrechung.

Karl-Heinz Schneider, Grundschullehrer
„Legt mal einfach die Stifte hin – hört auf die Musik – Ihr kennt das Stück. Wir machen das zusammen.“

Wenn sie mit uns über dieses Thema diskutieren wollen – ab heute können Sie das. Und zwar im Internet, im KONTRASTEBlog. Die Adresse ist www.kontraste.de.