Vermeintlicher Kindesmissbrauch - Katholische Kirche lässt Mitarbeiter im Stich

Der Juni 2015 war für die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der katholischen Kita in Mainz-Weisenau ein Albtraum: Eine Mutter beschuldigt die Erzieher, sexualisierte Gewalt unter Kindern zugelassen zu haben. Offenbar ein Skandal, der sofort seinen Weg in die Öffentlichkeit findet. Das Bistum Mainz reagiert schnell: es kündigt allen Beschäftigten sofort. Inzwischen scheint aber klar, dass die Vorwürfe haltlos waren. Doch statt die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu rehabilitieren, schaltet die sonst Menschlichkeit einfordernde Kirche auf stur.

Anmoderation: Die katholische Kirche hat Jahrzehnte weggeschaut, wenn es um Kindesmissbrauch in ihren Schulen ging. Sie schützte nicht die Kinder sondern die vermeintlichen Diener Gottes. Über Jahre wollte sie diesen Fehler nicht eingestehen. Bis heute wartet die Öffentlichkeit auf einen Kurswechsel im Umgang mit Betroffenen und Verantwortlichen. Im letzten Sommer machte der so genannte Mainzer Kita-Skandal Schlagzeilen. Hier schien die Kirche erstmals konsequent durchzugreifen. Oder vielleicht doch nicht? Lisa Wandt und Axel Svehla berichten

Es ist Anfang Juni 2015, als das Leben von Erzieherin Sieglinde T. und ihren Kolleginnen eine jähe Wendung nimmt.

O-Ton Sieglinde T., Erzieherin

"Ich kam mir vor wie so ein räudiger Hund der aus dem Haus gejagt wurde. Geb deinen Schlüssel ab und du hast Hausverbot und du darfst da jetzt auch nicht mehr rein."

O-Ton Marion K., Erzieherin

"Ich habe an mir selbst gezweifelt. Und habe auch gesagt, sehr laut, ich werde nie mehr mit Kindern arbeiten."

O-Ton Melanie G., Erzieherin

"Ich hab mich auch ganz bewusst für 'ne katholische Einrichtung entschieden und ich bin so dermaßen enttäuscht, dass ich nicht mehr glaube, dass die Kirche meins ist."

Diesen Frauen und vier weiteren Erziehern einer katholischen Kita in Mainz wurde von heute auf morgen gekündigt. Fristlos. Der Vorwurf: Schwere Verletzung ihrer Fürsorge- und Aufsichtspflicht. Hier, in der katholischen Kita Maria Königin in Mainz Weisenau, soll sexuelle Gewalt unter Kindern zum Alltag gehört haben. Monatelang. Sofort war in allen Medien nur noch von der Horror-Kita in Mainz die Rede. Von einem Skandal. Es geht um Kinder, Sex und Gewalt.

O-Ton Tagesschau und ZDF

"Das Bistum Mainz hat sexuelle Übergriffe unter Kinder in einer katholischen Kita eingeräumt."

"Kinder sollen anderen Kindern sexuelle Gewalt angetan haben und das über Monate."

Ausgelöst wurde der vermeintliche Skandal durch den Brandbrief einer Mutter. Ihre zwei Söhne seien massiv von anderen Kindern gequält worden. Zitat:

"Er musste sich nackt ausziehen, die Vorhaut zurückschieben und danach wurde ihm auf die entblößte Eichel geschlagen."

Der Brief einer Mutter reichte also, um die Erzieherinnen öffentlich an den Pranger zu stellen - und vorzuverurteilen, ohne jeglichen Beweis: Eine Mischung aus Mutmaßungen, Angst und medialer Sensationslust.

O-Ton Reporter HR

 "Die Eltern haben Angst und die Eltern haben mir auch gesagt, dass sie auch denken, dass vielleicht die Erzieherinnen teilweise was gewusst haben. Dass sie vielleicht nicht richtig hingeguckt haben."

O-Ton Johannes-Wilhelm Rörig, Unabhängiger Beauftragter für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs  

"Das ist pädagogisches Versagen, dieses Urteil muss ich ganz klar formulieren."

O-Ton Andreas Winheller, Vorsitzender Landeselternausschuss

"Dass so etwas möglich ist, das hätte ich mir nicht träumen lassen."

Die Kita wird über Nacht dichtgemacht. Die Staatsanwaltschaft Mainz leitet Ermittlungen ein. Doch für die katholische Kirche im Bistum Mainz steht schon vorher fest: schuld sind die Erzieherinnen. Der verantwortliche Generalvikar Dietmar Giebelmann setzt vor versammelter Presse noch einen drauf.

O-Ton Dietmar Giebelmann, Generalvikar Bistum Mainz

"Ich war selber in der Einrichtung und habe mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gesprochen. Wir haben weder eine wirkliche Betroffenheit noch den Versuch einer Erklärung gehört."

Keine Betroffenheit? Keine Erklärungsversuche? Die gekündigten Erzieherinnen sind von diesen Unterstellungen geschockt. Statt Nachfragen – nur Vorwürfe seitens der Kirche. Als sei alles längst klar.

O-Ton Marion K., Erzieherin

"Es wurde nicht gefragt, ja was ist denn hier eigentlich vorgefallen, sondern: wie konnte das passieren? Und darauf konnte keiner von uns 'ne Antwort geben. Weil wir der festen Meinung waren, hier ist sowas nicht passiert, sexuelle Übergriffe."

Eingeschüchtert von solch massiven Vorwürfen überprüfen sie selbstkritisch ihr Verhalten.

Kontraste

"Man fragt sich ja bestimmt auch sofort: Das kann nicht passiert sein oder das kann passiert sein?"

O-Ton Melanie G., Erzieherin

"Ja, man fragt sich tatsächlich, kann das passiert sein. Ist das auf der Toilette passiert, wo man nicht unbedingt dabei war. Man kommt schon sehr ins Zweifeln, ja. Und deshalb haben wir das von Anfang an auch sehr ernst genommen."

All diese Zweifel interessieren den kirchlichen Arbeitgeber nicht. Er will vor allem kompromissloses Durchgreifen demonstrieren. Ein Reflex. Typisch für die Kirche bei den Themen Sex und Gewalt. So sieht es Norbert Denef, der den Umgang mit solchen Konflikten in kirchlichen Einrichtungen seit Jahren analysiert:

O-Ton Norbert Denef, Vorsitzender Netzwerk b:

"Die bisherigen Muster der katholischen Kirche war: Verleugnen, verschweigen und vertuschen. Und jetzt im Vergleich versucht man, schnell wieder Ruhe reinzubringen, indem man den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern kündigt. Von heute auf morgen. Die sind weg. Und damit ist man das Problem wieder los."

Die fristlose Kündigung - ein praktisches Mittel, das unangenehme Thema loszuwerden und auf die Mitarbeiter abzuwälzen. Denn in der Kita gab es schon länger Schwierigkeiten: Personalmangel, Stress, Problemkinder. Das haben auch die Erzieher seit langem beklagt.

O-Ton Melanie G., Erzieherin:      

"Ich hab gesagt, die Kinder sind völlig unausgeglichen weil wir ihnen einfach nicht mehr das bieten können was eigentlich selbstverständlich sein sollte. Wir können nicht mehr pädagogisch hochwertvoll arbeiten. Wir sind damit beschäftigt, tatsächlich die Aufsicht zu gewährleisten, den Alltag zu gewährleisten. Mehr konnten wir mit unserem engen Personalschlüssel nicht mehr gewähren. Das habe ich dem Träger wirklich wörtlich gesagt."

Auch deshalb sind viele Eltern unzufrieden mit der Situation in der Kita. Da kommt der Brandbrief der einen Mutter gerade recht. Jeder findet nun etwas, das ihm schon länger nicht gepasst hat. Eine Fülle von Anschuldigungen, was die Erzieherinnen angeblich alles nicht mitbekommen haben. Anlass genug für den Träger, gründlich aufzuräumen.

Doch das ist überhaupt kein Grund, die Mitarbeiter fristlos rauszuschmeißen, wie Anwalt Benedict Bock betont.

O-Ton Benedict Bock, Fachanwalt für Arbeitsrecht

"Es wäre ohne weiteres möglich gewesen, solange diese Tatsachenbehauptungen noch im Raum standen, beispielsweise die Einrichtung zu schließen und die Mitarbeiter nach Hause zu schicken, sprich freizustellen, um die Zeit zu nutzen, Ermittlungen anzustellen, was ist denn dran an diesen Vorwürfen."

Doch davon will der kirchliche Träger nichts wissen. Die Kündigungen sollen um jeden Preis durchgesetzt werden. Auch vor dem Arbeitsgericht. Derweil vergehen Monate, in denen Melanie G. und ihre Kolleginnen von Arbeitslosengeld leben müssen und von ihren Nachbarn plötzlich gemieden werden.

O-Ton Melanie G., Erzieherin

"Es gab auch Zeiten, da bin ich nicht mehr aus dem Haus gegangen, nachdem ich an der Kasse zufälligerweise mitbekommen hab wie zwei Mütter sich über diese Hexen aus Weisenau unterhalten haben, diese Horror-Erzieher, die man ja eigentlich steinigen müsste. Wenn man sowas hört oder mitbekommt und weiß, man ist das selbst, dann mag man sich echt nur verkrümeln."

Ein halbes Jahr nach dem Brandbrief überrascht die Staatsanwaltschaft die Öffentlichkeit mit einem Paukenschlag. Obwohl die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen sind, verkündet sie in einer Pressemitteilung: Es hätten sich die "dem Verfahren zugrundeliegenden Vorwürfe (…) nach bisherigem Ermittlungsstand nicht erhärtet; es haben sich bislang überwiegend entlastende Ergebnisse ergeben".

Eine schallende Ohrfeige für all jene, die die Erzieherinnen öffentlich an den Pranger stellten. Auch im Abschlussbericht der Polizei Mainz heißt es überdeutlich: "Vorwürfe gegen die Erzieher/Innen im Hinblick auf den Vorwurf der Vernachlässigung der Erziehungs- und Fürsorgepflicht (...) konnten so nicht bestätigt werden, wie es seitens des Bistums Mainz beschrieben und angezeigt wurde."

Wie es zu solch massiven Beschuldigungen kommen konnte, erklärt die Aussage einer Psychologin in einem Gutachten für die Staatsanwaltschaft.

"Eine suggestive Beeinflussung der Aussagen dieser Kinder durch ihre Mütter ist … sehr wahrscheinlich."

Doch selbst jetzt keine Spur von Selbstkritik oder Entschuldigung beim Bistum Mainz. Unsere Interview-Anfragen wurden alle abgelehnt. So treffen wir den verantwortlichen Generalvikar nach einer Veranstaltung der katholischen Hochschule in Mainz.

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"Warum haben Sie denn allen fristlos gekündigt ohne die Ermittlungsergebnisse abzuwarten?"

O-Ton Dietmar Giebelmann, Generalvikar Bistum Mainz

"Wir haben keinen Grund gehabt zu glauben, nicht zu glauben, was man uns gesagt hat. Im Nachhinein, nachdem was ich heute weiß, würde ich anders entscheiden."

Kontraste

"Nämlich."

O-Ton Dietmar Giebelmann, Generalvikar Bistum Mainz

"Ich, wissen sie, man muss natürlich ganz klar sagen, die Staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen jenseits des Arbeitsrechtes sind ja noch nicht abgeschlossen."

Kontraste

"Aber es gibt ja einen Zwischenbericht von der Staatsanwaltschaft, der ganz klar sagt, das was da vorgeworfen wurde, da ist höchstwahrscheinlich nichts dran."

O-Ton Dietmar Giebelmann, Generalvikar Bistum Mainz

"Höchstwahrscheinlich nichts dran, das ist ja, es ist richtig, und ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen, ich bin auch froh, dass da nichts dran ist."

Obwohl auch der Generalvikar diese entlastenden Akten kennen dürfte, versteckt er sich hinter einer Staatsanwaltschaft, die das Verfahren noch immer nicht abgeschlossen hat. Fristlos kündigen aber konnte er allen Mitarbeitern – ohne Ermittlungsergebnisse.

Das Mainzer Arbeitsgericht hat den meisten Erziehern mittlerweile Recht gegeben oder die Parteien haben sich verglichen. Bis heute aber warten die Erzieherinnen auf eine Entschuldigung der Kirche.

O-Ton Marion K., Erzieherin

"Ich würde mir wünschen, dass dieser Herr Giebelmann genauso laut und deutlich im Fernsehen vor der Kamera verkündet, dass die Kirche einen Fehler gemacht hat, dass sie uns schlecht, ungerecht behandelt hat, und sich bei uns entschuldigt."

Kontraste

"Die Mitarbeiter würden sich halt 'ne Entschuldigung wünschen."

O-Ton Dietmar Giebelmann, Generalvikar Bistum Mainz

"Das hab ich ja jetzt gehört."

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"Und sie würden sagen, die Kirche hat da gar nichts falsch gemacht?"

O-Ton Dietmar Giebelmann, Generalvikar Bistum Mainz

"Das ist ok. Dankeschön. Ja. Wiedersehen."

Abmoderation: Übrigens: Die katholische Kirche hat dieses Jahr zum Jahr der Barmherzigkeit erklärt.

Beitrag von Axel Svehla und Lisa Wandt