Alte Akten (Quelle: rbb)

- Massakeropfer klagen an - Mutmassliche Kriegsverbrecher leben unbehelligt in Deutschland

57 Jahre nach Kriegsende fand KONTRASTE in einer Exklusiv-Recherche mutmassliche Tatbeteiligte der Massaker von SantŽAnna di Stazzema und Marzabotto.

Auf Avanti! Das werden Sie in unserem nächsten Beitrag hören, und dann wird von der "Jagd", und von der "Treibjagd" die Rede sein!

Es war eine Treibjagd. Gejagt wurden Menschen: Frauen, Kinder, alte Männer, wehrlos, zusammengetrieben und ermordet. Geschehen in Italien 1944.Die Täter, die Teilnehmer an der "Jagd": Soldaten der SS und der Wehrmacht.

Kaum einer hat je für seine Mordstaten gebüßt.Denn: deutsche Staatsanwälte haben sich bis heute nicht für die Verbrechen interessiert! Das ist ein Justizskandal. Kontraste hat in Italien und in Deutschland recherchiert. Vor genau einem Jahr haben wir über einen ehemaligen SS-Soldaten berichtet - als Folge unserer Recherche wurde er angeklagt. Unsere Autoren René Althammer und Udo Gümpel haben weiter gesucht: sie fanden Rentner: Tatverdächtige, die sich an nichts erinnern können, glauben nie etwas Böses getan zu haben - und wenn, dann waren es halt nur - - der Krieg und die "Treibjagd".



Hamburg vor einigen Wochen

Gerhard Sommer:
Frage:
"Entschuldigen Sie Herr Sommer, wenn ich Sie stören darf. Wir sind vom Deutschen Fernsehen, von der ARD, und ich würde Sie gern etwas fragen, was sehr lange zurückliegt und was mit der Zeit in der 16. Panzergrenadier-Division zu tun hat.Sie waren damals doch in der 16. SS-Panzergrenadier-Division? Ist das korrekt?" "Das ist korrekt."
Frage: "Und Sie waren doch auch Kompanieführer im 2. Bataillon?" "Wo haben sie denn die Sachen her?"
Frage: " Das sind Dokumente, die wir aus den Unterlagen der Wehrmacht und der SS haben - aber das ist doch korrekt?" "Das ist korrekt."

Sommer war Offizier der 16. SS-Panzer-Grenadierdivision "Reichsführer SS", die von Mai bis Dezember 1944 im besetzten Italien im Einsatz war. Die Aufgabe war neben dem Fronteinsatz gegen die Allierten, die Vernichtung von Partisanen. Die Division hinterliess eine Blutspur: 2000 Zivilisten, fast alles Frauen und Kinder - wie diese Schulklasse aus der Toskana und diese Bauernfamilie bei Bologna - wurden von der SS-Division grausam ermordet.

Die Alliierten untersuchen noch im Krieg die Massenmorde. Sie ermitteln viele Tatverdächtige. Kontraste hat in den Akten der Alliierten recherchiert. Der ranghöchste Verdächtige ist der Chef der 7. Kompanie im 2. Bataillon des 35. SS-Regiments - Untersturmführer Gerhard Sommer.

Gerhard Sommer:
"Für mich ist diese Zeit jetzt erledigt, ich habe mir keinerlei Vorwürfe zu machen, Ich hab' ein absolut reines Gewissen, und weiter möchte ich jetzt von dieser Sache jetzt nichts wissen."

Zuständig für die Ermittlungen gegen nationalsozialistische Gewaltverbrecher ist die Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen. Der heutige Leiter muss einräumen, dass die KONTRASTE vorliegenden Akten der Alliierten bis heute nicht ausgewertet wurden, kein einziger Verdächtiger aus der Division identifiziert ist.

Kurt Schrimm, Oberstaatsanwalt:
Frage:
"Haben Sie denn schon mögliche Tatbeteiligte identifizieren können?"
"Soweit sind wir noch nicht. Wir sind im Augenblick dabei Namen zu sammeln und werden dann, wenn die Namensliste vollständig oder nach heutigen Erkenntnissen vollständig ist, werden wir versuchen, die Personen zu identifizieren."

Hoch oben in den Bergen der Toskana, ganz in der Nähe des Marmor-Ortes Carrara, liegt das kleine Dörfchen Sant'Anna di Stazzema.

In den frühen Morgenstunden des 12. August 1944 marschieren die vier Kompanien des 2. Bataillons ins Dorf. Angeblich verstecken sich hier Partisanen: Doch im Dorf sind nur alte Leute, Frauen und Kinder.

560 Menschen werden in nur vier Stunden ermordet

Das Morden beginnt hier, an der Viehtränke Vaccareccia. Ein Überlebender, Enio Mancini, erzählt:

Enio Mancini:
"In diesem Haus wurden 70 Menschen zusammengepfercht. Kinder, Frauen, alte Leute. Kaum waren sie in die Ställe eingeschlossen, warfen die Nazi-Soldaten Handgranaten rein, und dann zündeten sie das Haus an. Nur fünf Kindern entkamen lebend aus dem Stall: Milena, Mauro, Enio, Lina e Mario."

150 Kinder entkamen nicht: Sie wurden Opfer der SS - Division.

Die 20 Tage alte Anna Pardini - sie war das jüngste Opfer.

Bis heute, 58 Jahre danach, ist noch kein einziger Verdächtiger für diesen feigen Mord vernommen, geschweige denn angeklagt worden - weder in Italien, noch in Deutschland.

Dieser Mann möchte nicht erkannt werden. Er war als SS-Unterscharführer bei dem Einsatz in Sant Anna dabei. Erstmals erzählt er im deutschen Fernsehen, wie der Einsatz ablief:

"Heinz Otte"(Deckname):
"Der Einsatz war da doch gegen Partisanen: Da hat nichts noch andere Befehle gegeben, da hat's geheissen - umlegen, den ganzen Verein. Det is wie wie bei der Jagd, bei der Treibjagd. Da wurden die Menschen zusammen getrieben: auf, avanti! Die wurden vor der Kirche, die Dorfkirche, und da war ein Platz vor der Kirche, mit einem Kruzifix, das hab in Italien öfter gesehen, und auf diesem Platz, an dem Kruzifix, da wurden die Leute zusammen getrieben, und dann wurde geschossen und dann konnte ich nicht mehr sehen."

Leopolda Bartolucci verlor den Vater bei dem Massaker auf dem Kirchplatz - sie überlebte, weil ihr Vater sie vorher weggeschickt hatte - er selber glaubte sich als Gehbehinderter sicher vor der SS.

Insgesamt ermordeten die SS 132 Menschen hier, darunter auch den Gemeindepfarrer. Die SS-Leute rissen die Bänke aus der Kirche, türmten sie über den Opfern auf und setzten alles mit Flammenwerfern in Brand.

Leopolda Bartolucci:
"Die hatten alle getötet - auf dem Kirchplatz war ein riesiger Leichenhaufen, meinen Papa haben wir nur am orthopädischen Schuh wiedererkannt - da brach meine Mutter zusammen."

In Italien ermittelt die Militärstaatsanwaltschaft von La Spezia seit 1996 gegen die Täter. Nach sechs Jahren Ermittlung wurde noch kein einziger Verdächtiger vernommen. Einziger Erfolg: die Namen der mutmasslichen Täter kennt man inzwischen.

Marco Coco, Staatsanwalt:
"Im Fall des Massakers von Sant'Anna verfügen wir nunmehr über einen kleinen Kreis von Namen, die sehr wahrscheinlich an jenem Tag dabei waren. Wir wissen, dass sie heute noch am Leben sind, und wir wissen, wo sie leben."

Damit steht der Fall Sant'Anna nach 58 Jahren kurz vor der Anklageerhebung: Der ranghöchste Tatverdächtige ist der 80jährige Gerhard Sommer.

Bei unseren Recherchen in den alliierten Akten sind wir auf weitere Namenslisten mit Tatverdächtigen gestossen. Kein Staatsanwalt hat diese Männer bis heute identifiziert und zu den Vorwürfen vernommen. Kontraste hat die ehemaligen SS-Angehörigen aufgespürt und erstmals mit den Vorwürfen konfrontiert.

In Bayern treffen wir den ehemaligen SS-Schützen Franz Stockinger. In den Akten ist der Mann sehr präzise beschrieben, mit Haarfarbe, Statur und Augenfarbe.

Franz Stockinger:
Frage:
"So ungefähr einssiebzig in der Grösse. Und dann steht hier unten, hat Frauen und Kinder ermordet und Häuser in Brand gesetzt." (Stockinger lacht) "Ach du liebe Zeit, ach du liebe Zeit, hahaha..."

Ein weiterer Verdächtiger auf der Liste - auch er soll Frauen und Kinder ermordet haben: Nach langer Recherche finden wir den ehemaligen SS-Gefreiten Piepenschneider, auch er streitet alles ab.

Albert Piepenschneider:
Frage:
"Der Vorwurf, der Ihnen gemacht wird, ist, dass Sie in diesem Einsatz -" "Da soll ich dabeigewesen sein?"
Frage: "Da sollen Sie dabeigewesen sein." "Niemals, niemals."
Frage: "Und es wird Ihnen zur Last gelegt, im Rahmen dieses Einsatzes Frauen und Kinder erschossen zu haben." "Nein, niemals."

Zu Lachen gibt es hier gar nichts. Im Tagesbericht der Wehrmacht wird der Einsatz, von dem die beiden Männer nichts wissen wollen, als Erfolg extra erwähnt - mit 718 Toten.

Die Berge von Marzabotto, südlich von Bologna. Hier hat die Aufklärungsabteilung der 16. SS-Panzergrenadierdivision, zu der die beiden Männer gehörten, das grösste Kriegsverbrechen in Italien begangen.

Am Morgen des 28. September 1944 ist die 1. Kompanie auf dem Weg nach Cadotto. Hier beginnt das Massaker. Gleich zu Beginn trifft die Kompanie auf Partisanen, die sich in einem Haus verschanzt haben. In den anderen Häusern befinden sich nur Frauen und Kinder.

Der SS-Kompanie gelingt es nicht die Partisanen zu fassen - aus Rache erschiessen die SS-Männer 52 Frauen und Kinder in den anderen Häusern.

Schon 1944 hat ein ehemaliger Angehöriger der Division vor alliierten Militärstaatsanwälten ausgesagt und die Täter benannt - eine Aussage, die jahrzehntelang unbeachtet blieb.

Diese beide Männer entgingen den SS-Leuten. Sie sind die einzigen Überlebenden des Massakers in der kleinen Kapelle von Cerpiano. Unter den Opfern in der Kapelle auch Jungen und Mädchen des kirchlichen Kindergartens. Fernando Piretti überlebte:

Fernando Piretti, Überlebender:
"Sie hatten ein Maschinengewehr aufgebaut und schossen. Wir waren hier auf der einen Seite - diejenigen, die vorne standen, wurden alle richtig in der Mitte durchgesägt, richtig auf der Hälfte. Die haben wir dann an der Tür gesehen, als wir flohen. Insgesamt waren wir hier so 45,47 Leute gewesen - hier war alles voll."
Frage: "Und dann warfen sie Handgranaten?" "Sie haben Handgranaten geworfen und mit dem Maschinengewehr geschossen."

Der SS-Sturmmann Wilhelm Kneissl hatte schon 1944 ausgesagt, dass die Handgranaten von Cerpiano von einem SS-Mann namens Meier geworfen worden seien.

Der ehemalige SS-Unterscharführer Albert Meier streitet den Handgranatenwurf strikt ab - aber er gibt zu, bei der Vernichtungsaktion dabei gewesen zu sein.

Albert Meier:
Frage: "Erinnern Sie sich an die Aktion Marzabotto. Da erinnern Sie sich doch daran?" "Ja, sicher."
Frage: "Wissen Sie, es hat da ja auch Erschiessungen von Frauen und von Zivilisten gegeben - waren das jetzt Leute…" "Wir haben keine - wir haben nur Leute bestraft sozusagen nech, die wir geschnappt haben, die auch irgendwie wat verbrochen hatten."
Frage: "Und was waren das für Leute gewesen?" "Na, Zivilisten, nech."

Über die Massaker von Sant Anna und Marzabotto wurde immer wieder berichtet, doch nach den Tätern wurde jahrzehntelang nicht gesucht.

Der Leiter der zuständigen Stelle für die Aufklärung nationalsozialistischer Gewaltverbrechen gibt zu: Die Massaker waren der Dienststelle lange Zeit völlig unbekannt.

Kurt Schrimm, Oberstaatsanwalt:
"Es war so, dass der Name Sant'Anna hier erstmals in der Behörde nachweisbar auftauchte durch eine Anfrage des Bundeskriminalamtes, die wiederum basierte auf einer Anfrage der italienischen Behörden, wie gesagt aus dem Jahre 1996."

Kontraste begann vor einem Jahr die Suche nach den Verantwortlichen für den Mord auch an diesen Kindern. Wir haben fest gestellt: Viele der mutmasslichen Täter leben noch heute. Dass sie sich nie für ihre Taten verantworten mussten, ist ein deutsch-italienischer Justizskandal.