Jürgen Faul (Quelle: rbb-Grafik)
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- Opfer oder Täter – Haftentschädigung für Stasi-Spitzel?

Wer als Häftling im DDR-Gefängnis für die Stasi gespitzelt hat, dem wird die Haftentschädigung gestrichen – das erscheint nur gerecht. Doch im Einzelfall prüfen die Behörden oft nicht, was die so genannten „Zellen-Informatoren“ selbst erleiden mussten. Gibt es „gute“ und „schlechte“ Häftlinge? Wo ist die Grenze zu ziehen?

Spitzel, Denunzianten, Verräter. Was sind das für Menschen? Menschen, die wir in der Regel verachten, gerade nach der Erfahrung mit zwei deutschen Diktaturen. Aber machen wir es uns damit nicht zu einfach? Was hat Menschen dazu gebracht, ihre Familien und Freunde zu observieren, und Kollegen auszuhorchen? Was ging zum Beispiel auch in den Häftlingen der DDR-Gefängnisse vor, die für die Stasi ihre Zellengenossen bespitzelten? Das zu beurteilen ist nicht einfach. Benedict-Maria Mülder und Axel Svehla.

Jürgen Faul ist verbittert. Als Minderjähriger saß er 15 Monate in der DDR im Gefängnis. Mehrfach hatte er versucht, in den Westen zu flüchten.

Nach dem Ende der DDR erhielt er für seine Haftzeit eine Entschädigung. Doch nun soll er alles zurückzahlen. Denn Jürgen Faul ließ sich in der Haft als Spitzel anwerben.

Jürgen Faul
„Für mich wird Gerechtigkeit mit zweierlei Maß gesprochen.“

KONTRASTE mit Jürgen Faul auf den Spuren seiner Vergangenheit. Im Norden Berlins gelang ihm vor 40 Jahren mit vier Schulfreunden die Flucht nach West-Berlin. Heute ist von Mauer, Stacheldraht und Todesstreifen fast nichts mehr zu sehen. Doch die Gängelung an den Schulen, der die Jugendlichen entkommen wollten – hat Faul bis heute nicht vergessen.

Jürgen Faul
„Ich hatte keinen Bock auf Pioniertücher und FDJ-Hemden und watt so alles kam. Und permanent Genosse und überall diese Götzenanbetungsbilder egal, wo man hingegangen ist. Ich hab das nicht mehr ausgehalten, hab das einfach nicht mehr ausgehalten.“

Doch die Schüler hatten Pech. Weil sie minderjährig waren, wurden sie 14 Tage später wieder nach Ost-Berlin zurückgeschickt. Ein Schock, den Faul nie verwunden hat. Wegen eines weiteren Fluchtversuchs kam er 1972 in die sogenannte „Hölle von Torgau“, dem berüchtigten DDR-Jugendgefängnis - Drill und Schikane waren hier an der Tagesordnung. Von dort kam Faul in ein anderes Gefängnis, wo er von einem Mitgefangenen in der Zelle sexuell missbraucht wurde. Dagegen suchte Jürgen Faul Schutz: ausgerechnet beim Wachpersonal. Darauf hin meldete sich der Sicherheitsoffizier.

Jürgen Faul
„Angst, pure Angst hab ich gefühlt. 2,3 Tage nach diesem Missbrauch hat mich dieser sogenannte Offizier, dieser Sicherheitsoffizier, zu sich bestellt, und ich hab mich gefühlt: total alleine. Ich konnte mit keinem reden, ich hatte eine Angst, unvorstellbar.“

Isoliert und drangsaliert von den anderen Häftlingen, suchte Faul einen verständnisvollen Beschützer und verfing sich im Netz der Staatssicherheit. Er verpflichtete sich, über seine Mitgefangenen zu berichten.

Jürgen Faul
„Das hat sich für mich so angefühlt, als ob der der Einzige ist, der mir helfen kann, der mich beschützten kann vor allem Elend und was mir da so alles angedroht worden ist, da hab ich mich natürlich bitterst getäuscht und da hab ich die Verpflichtungserklärung unterschrieben.“

Dreieinhalb Monate war Faul „Zelleninformator“, wie die Stasi ihre Spitzel im Gefängnis nannte. Seine Akte umfasst knapp 40 Seiten, enthält fünf Berichte über Gefangene, deren regimekritischen Äußerungen und Streitigkeiten.

KONTRASTE
„Wie geht es Ihnen damit heute?“
Jürgen Faul
„Ich hätte nicht schwach werden dürfen, wenn ich das heute betrachte, hätte ich nicht schwach werden dürfen. Auf der anderen Seite, mein eigenes, mein eigenes Überleben, das sollte ich ja auch nicht außer acht lassen. Ich wollte das unbeschadte alles unbeschadet überstehen. Ich wollte da wirklich raus ohne körperlichen Schmerz oder körperliche Leiden davon zu tragen.“

Mit knapp 4.000 € wurde Faul nach dem Ende der DDR für die erlittene Haft entschädigt. Dazu kam eine Opferrente. Jetzt soll er alles zurückzahlen. Die Opferrente wurde gestrichen. Denn im Gefängnis, so das Landgericht Potsdam, sei er zum Täter geworden, habe sich rechtsstaatswidrig verhalten, Zitat:
„… ohne dass im Einzelfall nachgewiesen werden muß, dass jemand tatsächlich durch Ihre Information Nachteile erlitten hat.“

Eine Entscheidung nach Bürokratenart. Dass Faul als Gefangener selbst ein Opfer war, spielt für den Vorsitzenden der Kammer für Rehabilitationsverfahren am Landgericht keine Rolle.

Frank Tiemann, Landgericht Potsdam
„Nach dem Gesetz ist es einfach so, dass derjenige, der sich selbst zum Täter hat machen lassen, nicht in den Genuss dieser Ausgleichsleistungen kommen soll. Es gilt in diesem Fall nicht unbedingt der Grundsatz, dass Zweifel sich zu Gunsten des Antragstellers auswirken.“

Nur nach Aktenlage urteilten auch die bayerischen Behörden. Das erfuhr ein anderer ehemaliger Häftling, der im Gefängnis mit der Stasi kooperierte. Er will noch heute nicht erkannt werden. Ein Jahr Haft in Chemnitz hat ihn gebrochen. Wir nennen ihn Peter John. Bevor John 1986 begann, mit der Stasi zusammenzuarbeiten, zwang man ihn, einen angeblichen Fluchtversuch zu gestehen.

Peter John
„Was sollt ich machen. Ich hab unterschrieben …“

John wurde im Gefängnis immer wieder mit der Abschiebung in den Westen bedroht, doch Frau und Tochter wollte er um keinen Preis verlassen. Deshalb erklärte er sich – zwecks Wiedergutmachung, wie es hieß – zur inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Staatssicherheit bereit.

Peter John
„Ich bin deswegen trotzdem ein Opfer. Es kommt ja auch darauf an, welchen Druck man ausübt. Was ist einem wichtiger? Die Familie oder standhaft zu bleiben und keinen zu verpfeifen. Also für mich ist die Familie das Höchste.“

John nutzte das Vertrauen der Mitgefangenen aus, schrieb neben belanglosen Einkaufslisten auch Berichte und Einschätzungen über sie.

Peter John
„Was soll ich in dieser Lage machen? Mich weigern? Was sollte mit mir dann noch passieren? Und immer im Hinterkopf: Du wirst abgeschoben.“

Doch auch für die zuständige Regierung in Unterfranken spielt die Situation hinter der Gefängnismauer keine Rolle. Peter John soll 2.760 Euro zurückzahlen.

Carl-Wolfgang Holzapfel war selbst politischer Gefangener in der DDR. Er weiß um die häufig tragische Situation der ‚Zelleninformatoren’ und kritisiert, dass heute rein formal über ihr Schicksal entschieden werde.

Carl-Wolfgang Holzapfel, Opfervereinigung 17. Juni
„Ich kann nicht pauschal davon ausgehen, dass in dem Moment, wo einer Berichte geschrieben hat, ist er kein Opfer mehr. Sondern ich muss ganz konkret, pauschal unterstellen, wer in diese Mühle reingeraten ist und durch diese Mühle durchkam, ist potentiell Opfer, und das spricht erstmal für Entschädigung und das spricht erstmal für die Rente.“

Sicher, andere waren in der Haft stärker, konnten sich den Erpressungsversuchen der Stasi widersetzen, aber deswegen kann man Jürgen Faul und Peter John nicht mit hunderttau-senden inoffiziellen Mitarbeitern gleichsetzen, die sich außerhalb der Gefängnisse dem MfS andienten.

Carl-Wolfgang Holzapfel, Opfervereinigung 17. Juni
„Wenn einer das unter Druck macht, dann ist das sehr differenziert zu sehen, und dann kann ich eben nicht, da haben Sie vollkommen recht, pauschal sagen: Nein, wer so was macht ist ein Charakterschwein und der muss von vornherein von diesen Dingen ausgegrenzt werden. Denn wo wollen Sie die Grenze ziehen? Gibt es gute Gefangene, gibt es schlechte Gefangene? Nein, wer in der Diktatur eingesessen hat, der ist Opfer und der bleibt auch Opfer.“

Beide, Jürgen Faul und Peter John, verweigerten nach ihrer Haftentlassung die Zusammenarbeit mit der Stasi. Trotzdem: Die Frage nach ihrer persönlichen Schuld lässt sie auch Jahrzehnte später nicht los.

Jürgen Faul
„Dass das absolut eine indiskutable Sache ist, dass ich das gemacht habe. Dazu stehe ich, dass das nicht richtig war, das war absolut nicht richtig. Bedauere das auch! Bedauere das aus tiefstem Herzen. Damit geht’s mir überhaupt nicht gut. Ich schäm mich dafür auch.“

Peter John
„Ich habe im Grunde genommen nichts von mir aus gemacht. Es ist ein Unterschied bei den IMs, die freiwillig gegangen sind und die dafür bezahlt worden sind. Das ist etwas ganz anderes.“

Beitrag von Benedict-Maria Mülder und Axel Svehla