Gedenktafel (Quelle: rbb)

- SS-Verbrecher unbehelligt - wie die deutsche Justiz die Verfolgung von Straftätern verhindert

In den Archiven der Zentralstelle zur Verfolgung der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen in Ludwigsburg lagern Akten über Akten. Seit Jahrzehnten sammelt die Behörde akribisch alle Daten über NS-Verbrecher und Kriegsverbrechen. Viele Details, Vermerke, Fotos und Papiere wurden aus dem Ausland zugeliefert und in Ludwigsburg mit den vorhandenen Daten zusammen geführt. So entstand eine weltweit einzigartige Verbrecherkartei, die ständig aktualisiert wird. Das Unfassbare: Seit Jahren wird nur noch abgelegt, aber nicht mehr verfolgt. Udo Gümpel und René Althammer decken einen Skandal auf.

Er hat wahrscheinlich zwölf Menschen umgebracht. Mit besonderer Grausamkeit. Er wurde nie dafür bestraft. Ein Kriegsverbrechen, begangen vor sechzig Jahren.

Kontraste hat im letzten Jahr einige durch eigene Recherche gefunden. Erst dann wurde die Justiz tätig. Jetzt haben Udo Gümpel und René Althammer wieder ein Verbrechen recherchiert.

In Italien lebt die Tochter, die den grausamen Mord an der Mutter bis heute nicht vergessen kann. In Deutschland ein Täter, der nie zur Rechenschaft gezogen wurde.

Gabriella degli Esposti, Mutter von zwei Kindern. Verschleppt und ermordetvon SS-Angehörigen in Italien. Ihre Tochter Savina erinnert sich an die deutschen Besatzer:

Savina Riverberi:
"Als die SS-Männer kamen, um sie abzuholen, da war die Mamma gerade beim Kochen. Da fragte ich die Mamma: was soll ich denn jetzt machen? Sie sagte mir nur: warte auf mich, wir essen, wenn ich wieder zurück bin. Und da habe ich dann drei Tage lang mit dem Essen auf die Mamma gewartet. Ich habe keinen Bissen angerührt, weil sie doch versprochen hatte, wiederzukommen, mit mir die Suppe essen. Und ich wartete und wartete."

Dies ist der mutmassliche Mörder ihrer Mutter: der ehemalige SS-Obersturmführer Hans Schiffmann.

Ein Nazi der ersten Stunde, wie sein Personalakte belegt: 1930 Mitgliedder SA, 1932 dann der Eintritt in die SS.

Deutschland, 59 Jahre danach. Lauenau, eine Kleinstadt südlich von Hannover. Hans Schiffmann lebte hier jahrzehntelang unbehelligt. In Lauenau ist Schiffmann bestens bekannt. Bis zu seiner Pensionierung war er Polstermeister in dieser Möbelfabrik.

Von seiner Kriegszeit in Italien hat er nie gesprochen.

Gerhard Kluczny:
"Nie ein Sterbenswörtchen. Ich selber kann mich nicht über ihn beklagen, bin mit ihm immer guten Weges gewesen."
Frage:
"Sind Sie überrascht über diese Vergangenheit als SS-Offizier, den Vorwurf, ein Dutzend Menschen getötet zu haben?"
Gerhard Kluczny:
"Ja, da bin ich sogar richtig schockiert, weil ich mir das gar nicht richtig vorstellen kann."

In diesem Altersheim von Lauenau verbringt Hans Schiffmann seinen Lebensabend. Zurückgezogen und abgeschirmt.

Die Stadt Castelfranco bei Bologna: Hier führte die SS-Einheit von Hans Schiffmann im Jahre 1944 ihr Schreckensregiment.

Die Menschen hier erinnern sich noch gut an die Besatzungszeit. Auf der Gedenktafel: die Namen der Opfer der Massenerschiessungen durchdie deutsche SS. Ganz oben: Gabriella degli Esposti.

Dies war der letzte Weg der zwölf Gefangenen an jenem 17 Dezember. Nachdem die SS-Männer sie tagelang gefoltert hatten, wurden sie dann am Flussufer des Panaro ermordet und verscharrt.

Als der Schnee schmilzt, findet man die Leichen.

Savina Riverberi:
"Als man die Mamma ausgrub, da hatte sie keine Haare mehr auf dem Kopf. Mein Vater erkannte sie aber trotzdem - an ihrem grünen Kleid, an der Küchenschürze und an den Schuhen."

Das Militärgericht von La Spezia. Hier begann vor zwei Monaten der Mord-Prozess gegen den ehemaligen SS-Offizier Hans Schiffmann. Schiffmann gehörte zur 16. SS Panzergrenadierdivision "Reichsführer SS" eine Division, die eine breite Blutspur durch Italien gezogen hat: Tausende Zivilisten fielen diesen Männern zum Opfer.

Die Angehörigen der Opfer von Hans Schiffmanns sind an diesem Tag nach La Spezia gekommen. Sie hoffen auf eine späte Gerechtigkeit. Doch der Angeklagte ist nicht vor Gericht erschienen. Nach deutschem Recht kann er nicht gegen seinen Willen nach Italien ausgeliefert werden.

Gegen Hans Schiffmann muss schon die deutsche Justiz tätig werden, doch das ist bis heute nicht geschehen. Diese Behörde in Ludwigsburg sollte eigentlich alle Fälle von NS-Verbrechenverfolgen. Der Behördenleiter erklärt, wie das funktionieren sollte:

Kurt Schrimm, Leiter Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen:
"Ist es ein Kriegsverbrechen, dann wird es an die örtlich zuständige Staatsanwaltschaft abgegeben, ist es kein Kriegsverbrechen, dann wird hier das Vorermittlungsverfahren weitergeführt bis zur Abgabe an die Staatsanwaltschaft."

Im Prinzip ganz einfach. Doch im Fall Hans Schiffmann verschlief man dieAbgabe des Verfahrens an die Staatsanwaltschaft, obwohl das deutsche Bundeskriminalamtbereits vor sieben Jahren um Amtshilfe gebeten hatte:

Kurt Schrimm, Leiter Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen:
"Der Name Schiffmann wurde uns bekannt im Jahre 1996 und zwar durch eine Anfrage des Bundeskriminalamts, in dem sie uns mitteilten, dass die italienischen Behördenunter anderem einen Mann namens Hans Schiffmann suchen, der Kriegsverbrechenbegangen haben soll."

Sieben Jahre sind vergangen, seitdem die Zentrale Ermittlungsstelle den Fall Hans Schiffmann auf den Tisch bekam. Anklage wurde bisher nicht erhoben.

Was hat die deutsche Justiz in dieser Zeit getan? Eine Antwort darauf hoffen wir im Bundesarchiv zu finden. Wir haben Erfolg: Hier liegt die Ermittlungsakte Hans Schiffmann.

Die Akte, so müssen wir erkennen, ist der Beweis totaler Untätigkeit - ein Justizskandal.

Vor sieben Jahren kam die Anfrage aus Italien: Seitdem bestand die Tätigkeit der Staatsanwälte und Richter offensichtlich nur darin, einmal pro Jahrzu prüfen, ob man nicht doch noch tätig werden müsse.

Die Verfügung kam im April dieses Jahres: der Fall wird endgültig weggelegt: "Wegen Fristablaufs offensichtlich erledigt."

Heinz-Ludger Borgert, Leiter Bundesarchiv:
"Das ist im vorliegenden Falle besonders betrüblich, zumal ja gerade auch die Verfügung wegen Fristablauf im Falle eines Mordes so hätte gar nicht getroffen werden können.?"
Frage:
"Ja, weil es gibt doch bei Mord gar keine Fristabläufe.?"
Heinz-Ludger Borgert, Leiter Bundesarchiv:
"Ja, genau, normalerweise gäbe es bei Mord gar keine Fristabläufe, weil es gar nicht verjährt, also könnte man auch nicht wegen Fristablauf "zdA" verfügen."

Kriegsverbrechen und Mord - Einfach "zu den Akten" und vergessen? Für den Strafrechtler Felix Herzog hat die Behörde in Ludwigsburg klar gegen die deutsche Strafprozessordnung verstoßen.

Frage:
"Ist es denn für einen Staatsanwalt und einen Richter zulässig, ein Kapitalverbrechen,von dem er Kenntnis hat, einfach wegzuverfügen und abzulegen?"
Felix Herzog, Strafrecht-Professor FU Berlin:
"Nein, es ist die Verpflichtung gegeben, Legalitätsprinzip, §152 Strafprozessordnung,dass eine Straftat verfolgt werden muss, wenn zureichende tatsächliche Anhaltspunktedafür bestehen, dass diese Tat geschehen ist und das scheint mir ja in diesen Fällen ganz offenkundig der Fall zu sein."

Wieder auf der Suche in den Aktenbergen von Ludwigsburg. Wir machen eine weitere Entdeckung: Der skandalöse Umgang mit dem Fall Hans Schiffmann ist kein Einzelfall.

Frage:
"Dieses gleiche Verfahren ist noch in anderen Fällen angewandt worden, also: Ablage, Fristablauf und dann Archivierung?"
Heinz-Ludger Borgert, Leiter Bundesarchiv:
"Ja, in einer Zahl von über 25 Fällen."
Frage:
"Sind einfach auf diese Weise erledigt worden - und wie beurteilen Sie das?"
Heinz-Ludger Borgert, Leiter Bundesarchiv:
"Das war wohl offensichtlich eine bürokratische Notlösung, die man hier gewählt hatte, die aber normalerweise so wohl nicht vorkommen sollte."

Mindestens 25 durch die deutsche Justiz verschlampte Fälle: das sind Hunderte ungesühnte Opfer, das sind Dutzende Täter, die noch frei herumlaufen.

Die Zentralstelle hätte ermitteln müssen: das weiß auch Oberstaatsanwalt Schrimm:

Kurt Schrimm, Leiter Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen:
"wenn Frauen und Kinder bei den Massakern ums Leben kommen, immer der Anfangsverdacht besteht."
Frage:
"Grundsätzlich?"
Kurt Schrimm, Leiter Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen:
"Grundsätzlich. Ja."
Frage:
"Zivilisten ist für Sie ein grundsätzlicher Anfangsverdacht?"
Kurt Schrimm, Leiter Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen:
"Ja."


Tatsache ist: Die italienischen Opfer waren wehrlose Zivilisten, aus dem Bett oder vom Herd geholt, gefoltert und dann erschossen. In Italien wird Hans Schiffmann dafür der Prozess wegen Mordes gemacht. In Deutschland wird es wohl kein Verfahren mehr geben.

Kurt Schrimm, Leiter Zentralstelle zur Verfolgung von NS-Kriegsverbrechen:
"Es wurde hier dann geprüft, neu geprüft, ein Verfahren, ein Vorermittlungsverfahrengegen Hans Schiffmann eingeleitet, die Akten wurden geprüft, und dann kam der Kollege zu der Auffassung und ich stimme dem zu, dass das was uns vorlag, noch nicht ausreicht."

Der Mord an Gabriella degli Esposti und den anderen elf Opfern von Castelfranco: in Deutschland ungesühnt.

Ein Justizskandal.