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- Doppelgänger - Stasi nutzte tausende Westbiografien für Auslandsspione

Für viele Transitreisende waren es bange Minuten, wenn die DDR-Grenzer an den Übergangsstellen eingehend ihre Pässe musterten. Neue Funde in der Jahn-Behörde belegen: tausende Westpässe wurden damals kopiert. Die Stasi suchte Doppelgänger für ihre Westspione.

Wer zu DDR-Zeiten je als Westdeutscher mit dem Auto die Grenze von Ost nach West oder umgekehrt überquert hat, der wird sie nie vergessen, die unsägliche Prozedur bei den Grenzkontrollen. Die endlose Warterei, der scharf musternde Blick der Grenzer, die mit den Pässen verschwanden und ewig nicht wiederkamen. Und jedes Mal fragte man sich, was machen die da bloß so lange? Wir haben jetzt erstmals die Antwort! Meine Kollegin Gabi Probst hat monatelang recherchiert und herausgefunden: Über Jahrzehnte hinweg hat die Stasi an der deutsch-deutschen Grenze heimlich Pässe von Bundesbürgern kopiert. Mit den gefälschten Pässen sind Auslandspione der DDR dann – als Westbürger getarnt – in westliche Länder gereist. Tausende Bundesbürger waren davon betroffen!

Anna Schulz aus Berlin Reinickendorf erwartet uns. Eigentlich hätten wir auch gern ihren Mann gesprochen, aber der verstarb vor ein paar Jahren. Sie weiß, dass wir ein Geheimnis mitbringen. Es ist eine Stasi-Akte, die zeigt, dass ihre Familie, aber vor allem ihr Mann in den 80er Jahren vom Staatssicherheitsdienst der DDR, kurz Stasi bespitzelt wurde – obwohl alle immer in Westberlin wohnten. Und sie erfährt von uns, dass ein Spion der Stasi sich bei Reisen in den Westen als ihr Mann ausgegeben hat: als Detlef Schulz.

Anna Schulz
„Ich finde das schlimm. Ich weiß ja nicht, was Sie da alles haben, wie weit geht das eigentlich? Was hat der denn alles angestellt? Was hätte da alles passieren können?“

Was wirklich damals passiert ist, lässt sich nur stückweise rekonstruieren, weil die Geschichte der Familie Schulz jahrelang in Müllsäcken schlummerte.

Müllsäcke, die die Stasi nicht mehr rechtzeitig verschwinden lassen konnte, randvoll mit zerrissenen, geheimen Dokumenten. Mühevoll werden Schnipsel in der Bundesbehörde für die Stasi-Unterlagen zusammengeflickt. Dabei sind auch einige Akten über den Doppelgänger von Detlef Schulz aufgetaucht. Und es gibt Akten die zeigen, dass die Stasi die Ausweise von tausenden Menschen, die damals in Westberlin und dem Bundesgebiet lebten, kopiert hat. Die Stasi forschte auch die Biografien der Passinhaber systematisch aus. Wie dieses Originalvideo zeigt, wird die Umgebung genauestens ausgeforscht, Zitat:
„Die Residenzstraße in Richtung Alt-Rheinickendorf.“

In Alt-Reinickendorf, Residenzstraße/Ecke Emmenthaler, wohnte die Familie Schulz. Sie ahnt damals nicht, dass hier die Stasi vor der Tür steht. Sie haben es auf Detlef Schulz abgesehen. Sein Pass wurde wahrscheinlich kopiert, als er zu seiner Mutter über die Transitstrecke nach München reist.

Detlef Schulz ist Angestellter der Berliner Verkehrsbetriebe. Anna Schulz ist seine zweite Frau. Kinder haben sie keine. All dies und mehr recherchieren wir in den rekonstruierten Stasi-Akten. Anna Schulz liest es zum ersten Mal.

Anna Schulz
„Ich zittere vor Aufregung.“
KONTRASTE
„Gucken Sie mal, hier hat die Stasi festgehalten den Lebenslauf Ihres Mannes und den des Ostdeutschen.“
Anna Schulz
„Emmentaler ja, ja das stimmt. Das ist ja Wahnsinn.“
KONTRASTE
„In Berlin geboren.“
Anna Schulz
„Ja, in Westberlin geboren, ist meiner ja.“
KONTRASTE
„Seine erste Frau hat dort gearbeitet.“
Anna Schulz
„Ja, er war ja schon mal verheiratet.“
KONTRASTE
„War sie auch 1.58 groß?“
Anna Schulz
„Ja.“
KONTRASTE
„Blaue Augen?“
Anna Schulz
„Ja.“
KONTRASTE
„Da steht drinne, Sie sind einen Opel Ascona gefahren. Stimmt das?“
Anna Schulz
„Das stimmt. Was macht man mit den Daten, also er hat also gelebt auf den Daten von meinem Mann, von seinem Namen und hat das alles angegeben?“

Ja, das hat er. Und er, das ist Thomas Runst. Er nimmt die Identität ihres Mannes an. und reist mit dieser unauffälligen Westbiografie durch Europa, um einen anderen Agenten zu treffen. Die Stasi führt ihn zehn Jahre lang als IM Rudolf, den Inoffiziellen Mitarbeiter. Dieser IM Rudolf ist heute Professor an der Universität in Jena.

Hat er jemals damals gerechnet, dass die zerrissenen Dokumente wieder auftauchen?

Erst will er nicht reden, irgendwann lässt er sich auf ein Gespräch ein. Zwar will er die ganze Sache verharmlosen, doch dann gibt er alles zu, auch, sich mit einem anderen IM aus Finnland mit dem Decknamen Larsen getroffen zu haben.

Thomas Runst
„Es ist wirklich so gewesen. Ich habe alles gemacht. Es geht hier um den Larsen.“
KONTRASTE
„Ja.“
Thomas Runst
„Dafür war ich ja eigentlich nur da.“
KONTRASTE
„Sie haben die Identität eines anderen Menschen benutzt. Der wurde ausspioniert für Sie.“
Thomas Runst
„Genau.“
KONTRASTE
„Da wurde akribisch geguckt, was macht der.“
Thomas Runst
„Das wurde mir nie gesagt.“
KONTRASTE
„Aber da steht handschriftlich, handschriftlich lernen Sie den Lebenslauf. Detlef Schulz wohnt da und da, seine Frau ist Krankenschwester, es ist ihre Handschrift.“
Thomas Runst
„Das ist ein Sache, die die mir vorgelegt haben, wo gesagt worden ist, das soll ich annehmen, aber den gibt’s nicht.“

Den gibt es nicht? Dabei schreibt Thomas Runst damals selbst, dass er vor dem Haus der Familie Schulz steht, um die Lebensweise seines Doppelgängers zu erkunden. Aber warum eigentlich dieser Aufwand?

Rückblick. Es ist die Zeit des kalten Krieges. Die DDR kann ihre Auslandsschulden nicht zahlen, Devisen und Geld für Forschung sind knapp. Diese Defizite und die Handelsbeschränkungen aus dem Westen glauben die Genossen mit gestohlenem Wissen aus dem Ausland wett machen zu können. Dafür brauchen sie IM Rudolf. Und der wird auf einen finnischen Wissenschaftler angesetzt. Beide sind damals Forscher an der Universität in Jena. Bevor der Finne zurück in sein Land geht, - so steht es in den Akten - wird auch er einen Pakt mit der Stasi eingehen – und zum IM Larsen werden. Wie sich aus dem Akten ergibt, nimmt er Geld von der Stasi für seine Dienste. Gemeinsam besorgen sie Forschungsberichtete und anderes internes wissenschaftliches Material aus dem Ausland. Was genau, gilt bis heute noch als vernichtet. IM Rudolf selbst schreibt von, Zitat:
„unveröffentlichten Arbeiten und hochinteressanten Ergebnissen aus Medizin und Technik…“

IM Larsen, alias Lassi Päivärinta ist heute auch ein angesehener Professor - an der Universität in Helsinki. Anfangs leugnet er noch, für die Stasi gearbeitet zu haben, doch als wir ihm die Unterlagen vorhalten, erinnert er sich sogar an Details. Brisant, denn Finnland behauptet bis heute keinen Stasi-Agenten im Land gehabt zu haben. IM Larsen bestätigt dann aber die Geldannahme von der Stasi.

KONTRASTE
„Sie haben 2400 Mark bekommen, richtig, für die Reise? Das steht hier.“
Lassi Päivärinta, Universität Helsinki
„Ja, die haben gesagt, wenn ich dieses Material dorthin bringe – also das war normal, ich wusste wir werden Ferien in Budapest haben und ich wollte das Geld nicht.“
KONTRASTE
„Aber Sie haben es dann doch behalten, steht hier, richtig?“
Lassi Päivärinta, Universität Helsinki
„Ja, richtig!“

Stockholm ist eine der vielen europäischen Hauptstädte, in der sich der IM Rudolf aus Jena mit dem IM Larsen aus Helsinki jahrelang konspirativ trifft und Materialien entgegen nimmt. Und wenn er mit dem gefälschten Pass von Detlef Schulz unterwegs ist, steht die Stasi in Berlin-Reinickendorf vor der Tür, wie der Historiker Dr. Helmut Müller Enbergs erklärt.

Helmut Müller-Enbergs, Historiker, BStU
„Ein Geheimdienst muss den Legendenspender unter Kontrolle halten, stellen Sie sich vor, der stirbt plötzlich und der Agent läuft mit dieser Identität durch die BRD, wie peinlich, wenn er in eine Polizeikontrolle kommt und dort ist er schon als Toter verzeichnet. Insofern hat die Staatssicherheit sehr viel Aufwand betrieben, um festzustellen, lebt er noch, hatte er einen Verkehrsunfall oder ist er straffällig geworden.“

Anna Schulz
„Wir sind ja bespitzelt worden im Grund genommen, vollkommen, jahrelang.“

Die Geschichte der Familie Schulz ist nur der Anfang. Denn von jedem zehnten Westdeutschen und Westberliner, der durch oder in die DDR reist, so recherchieren wir - wird damals der Pass abfotografiert. Tausende Pässe werden dann tatsächlich von der Stasi gefälscht. Die Rekonstruktion der zerrissenen Dokumente wird noch einiges ans Tageslicht bringen, was damals an den deutsch- deutschen Grenzen geschah.

Rund 16.000 Müllsäcke mit zerrissenen Akten zu diesen Operationen lagern noch in der Stasi-Unterlagenbehörde, bisher konnte erst der Inhalt von 500 dieser Säcke zusammengesetzt werden. Die Aufarbeitung wird wohl noch Jahre dauern.