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- Vergessene NS-Opfer – Zwangssterilisierte kämpfen um ihr Recht

Das so genannte "Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" war das erste Rassengesetz der Nationalsozialisten. Hunderttausende wurden zwangssterilisiert, vergast, zu Tode gehungert. Die Überlebenden kämpfen bis heute um ihre Anerkennung als NS-Opfer und eine Entschädigung.

Sie ist erfolgreiche Bildhauerin, trägt das Bundesverdienstkreuz, schreibt Bücher – niemand würde auf die Idee kommen, dass Dorothea Buck viele Jahre lang an einer Psychose gelitten hat. Und doch hat die Krankheit das Leben der inzwischen 93-Jährigen geprägt, auf schreckliche Weise: Dorothea Buck wurde in der Nazizeit zwangssterilisiert, wie zig Tausende andere mit psychischen Krankheiten oder Behinderungen. Ein Thema, das in der Öffentlichkeit – und in der Politik komplett verdrängt wird. Bis heute werden Zwangssterilisierte nicht als Naziverfolgte anerkannt und erhalten keine Entschädigung. Anna Catherin Loll und Rene Althammer.

Ausschnitte aus nationalsozialistischen Propagandafilmen.

Filmausschnitt
„Tief unter dem Tiere stehen viele Idioten, die sich oft nicht verständlich machen können. Sie müssen meist gefüttert, oft künstlich ernährt werden.“

Behinderte sind schon früh Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns.

Filmausschnitt
„Wir haben unwertes Leben nicht nur erhalten, wir haben ihm auch Vermehrung gewährt.“

Wie Juden, Roma und Sinti stören Behinderte das Bild vom Herrenmenschen. 1934 tritt das erste Gesetz zur Herstellung der Rassenreinheit in Kraft.

Filmausschnitt
„Die Verhütung erbkranken Nachwuchses ist ein sittliches Gebot. Das Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses ist die Wiederherstellung eines Naturgesetzes, das wir Menschen in falscher Humanität durchbrachen.“

Um so genanntes „unwertes Leben“ auszumerzen, werden mindestens 300.000 Menschen ermordet und 350.000 zwangssterilisiert. Doch bis heute werden die Überlebenden nicht als „rassisch Verfolgte“ entschädigt.

Sie hat den Rassenwahn am eigenen Leib erfahren: Dorothea Buck, 93 Jahre, Bildhauerin.

KONTRASTE
„Fühlen Sie sich benachteiligt?“
Dorothea Buck, NS-Zwangssterilisierte
„Ja, natürlich. Weil wir ja überhaupt nicht als Verfolgte anerkannt worden sind.“

Dorothea Buck ist 19 Jahre, als die Ärzte bei ihr eine schizophrene Psychose diagnostizieren. Sie gilt als „geisteskrank“ – behindert. Im Herbst 1936 wird sie zwangssterilisiert.

Dorothea Buck, NS-Zwangssterilisierte
„Es war ja alles zertrümmert, meine ganze Lebenshoffnung, mein ganzer Lebensentwurf. Ich wollte ja Kindergärtnerin werden und dann wollte ich heiraten und eigene Kinder haben, das war ja alles kaputt, nicht.“

Geisteskrank, minderwertig, lebensunwert. Als Zwangssterilisierte darf sie keinen normalen Beruf erlernen. Ihr Glück: Eine Bildhauerin nimmt sich ihrer an. Eine ihrer ersten Arbeiten: „Der Schmerz“.

Dorothea Buck, NS-Zwangssterilisierte
„So fühlte ich ja auch, nur, dass man das nach außen gar nicht tragen kann. Sie können ihren Schmerz und den Grund für diesen Schmerz, dass die Zwangssterilisation war, konnte ich ja gar nicht nach außen irgendwie deutlich machen. Weil es mit einem solchen Makel behaftet ist, als minderwertig zwangssterilisiert worden zu sein, lebenslang als minderwertig abgestempelt zu sein. Das ist ja eine unglaubliche Sache. Stellen Sie sich mal vor, Sie wären das!“

Nicht nur Dorothea Buck soll nie mehr Kinder bekommen. Auch wer angeblich unter „angeborenem Schwachsinn“, erblicher Blind- und Taubheit oder Alkoholismus leidet, gefährdet die Rassenreinheit. Für sie alle gilt:

Zitat
„Wer erbkrank ist kann unfruchtbar gemacht werden.“

Bonn, Mitte der 50er Jahre: Im Bundestag beschließen die Parlamentarier die Entschädigungsgesetze für die Opfer der NS-Verfolgung. Im entscheidenden Bundesentschädigungsgesetz heißt es in Paragraph 1 unter anderem:

Zitat
„Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung ist, wer aus Gründen … der Rasse … durch nationalsozialistische Gewaltmaßnahmen verfolgt worden ist…“

Doch die Parlamentarier legen nicht fest, wer als „rassisch verfolgt“ gelten soll und wer nicht. Die Entscheidung darüber überlassen sie dem Bundesfinanzministerium – Opferentschädigung nach Kassenlage.

Denn bis heute gilt: Zwangssterilisierte werden nicht als „rassisch verfolgt“ anerkannt. Die Begründung der Ministerialen gibt es nur schriftlich:

Zitat
„Die Rechtsprechung hat Opfer von NS Gewaltmaßnahmen nach der sog. „NS-Erbgesundheitsgesetzgebung“ nicht als „rassisch Verfolgte“… angesehen …“

Das Finanzministerium versteckt sich bis heute hinter einem Urteil aus dem Jahr 1955. Darin stellt der Richter Walter Burger, der schon im Nationalsozialismus Richter war, zum Erbgesundheitsgesetz fest:

Zitat
„Dieses Gesetz hatte mit der Rassenlehre des Nationalsozialismus nichts zu tun, sondern wollte allgemein die Entstehung so genannten ‚unwerten Lebens‘ verhindern …“

Das Urteil des Richters gilt bis heute. Dabei stellten die Verfasser des Gesetzes schon 1936 eindeutig klar. Ziel des Gesetzes ist:

Zitat
„Eine ausreichende Zahl erbgesunder, für das deutsche Volk rassisch wertvoller … Familien …“

Der ehemalige SPD-Bundesvorsitzende Hans-Jochen Vogel streitet seit Jahren für die Zwangssterilisierten. Er fordert, dass das Bundesfinanzministerium endlich seine Haltung überdenkt.

Hans-Jochen Vogel (SPD), ehem. Parteivorsitzender
„Ein Urteil eines Zivilgerichts aus dem Jahr ‘55, also älter als 50 Jahre, das kann man heute nicht mehr als Argument verwenden.“

Über Jahrzehnte erhielt Dorothea Buck wie alle Zwangssterilisierten weder eine Rente noch einen Schadensausgleich. Die Opfer fühlten sich ausgegrenzt, stigmatisiert.

Dorothea Buck, NS-Zwangssterilisierte
„Weil wir eben keine höheren und weiterbildenden Schulen besuchen durften, konnten Sie noch nicht mal ein Handwerk lernen. Das war ganz bitter, unglaublich bitter. Sie sind dann ja in diesen Billigberufen gelandet und konnten im Grunde noch nicht mal drüber sprechen. Waren total isoliert, also da sind so traurige Geschicke einfach gewesen.“

Erst in den 80er Jahren dürfen Dorothea Buck und andere Überlebende endlich im Bundestag vorsprechen. Jetzt werden die Zwangssterilisierten auf Grundlage der Härterichtlinien des Allgemeinen Kriegsfolgengesetzes bedacht. Einmalig erhalten sie 5.000 DM, hinzu kommt eine Minirente von heute 120 Euro - statt durchschnittlich 544 Euro für andere rassisch Verfolgte wie zum Beispiel Juden.

Nur die Grünen fordern damals, dass die Zwangssterilisierten endlich als rassisch Verfolgte und nicht mehr als Opfer zweiter Klasse behandelt werden. Vergeblich.

Volker Beck (B‘90/Grüne), MdB
„Es gab damals eben niemanden, der unseren Ansatz unterstützt hat, das Bundesentschädigungsgesetz wieder zu öffnen und den Tatbestand der Verfolgung breiter zu fassen. Es ist natürlich eine Tragödie für die Menschen, die das betrifft, das ihnen immer noch begegnet wird auf eine Art und Weise, dass nicht klar ist, dass ihnen wirklich Unrecht geschehen ist.“

Hans-Jochen Vogel (SPD), ehem. Parteivorsitzender
„Es sind keine nennenswerten finanziellen Summen, das ist auch nicht der Gesichtspunkt, mit dem man etwa gegen diese Forderung argumentieren könnte, dafür ist die Zahl ja leider inzwischen viel zu klein. Nein, es ist eine Geste, dass wir es mit der Wahrung der Menschenwürde ernst meinen.“



Autoren: Anna Catherin Loll und Rene Althammer