Gerichtssaal im Kameramonitor
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- NSU-Prozess: Warum werden Gerichtsverhandlungen nicht öffentlich übertragen?

Das Interesse am NSU-Prozess ist groß, viele Journalisten wollen berichten, die Zahl der Plätze im Gericht ist begrenzt. Eine Lösung wäre, den Prozess öffentlich im Fernsehen zu übertragen, doch das ist in Deutschland verboten. Warum eigentlich?

Der verschobene NSU-Prozess: Die Platzvergabe für Journalisten wird ja nun neu geregelt. Jetzt haben die Anwälte eines Hinterbliebenen beim Gericht beantragt, die Verhandlung per Video in einen Nebenraum zu übertragen. Was spricht dagegen? Das hat sich unsere Redaktion auch gefragt - und überhaupt: Sollte man einen so bedeutenden Prozess nicht vielleicht grundsätzlich öffentlich im Fernsehen übertragen? Einige Juristen halten das nicht für abwegig. Markus Pohl und Lisa Wandt wollten es genauer wissen.

Ob Dominique Strauss-Kahn vor dem Richter, die Handschuhprobe von O.J. Simpson oder der nationalistische Gruß von Anders Breivik - weltweit übertragen Fernsehsender aus spektakulären Strafprozessen, und das nicht selten live.

In Deutschland undenkbar. Die Verhandlung gegen Beate Zschäpe und das Umfeld des NSU wird unter Ausschluss der Fernsehöffentlichkeit vollzogen. Kameras sind während der Wahrheitsfindung tabu. Ein striktes Verbot, dass auch unter Juristen auf Widerspruch stößt.

Prof. Christian von Coelln
Medienrechtler

„Das Interessante ist, dass alle Argumente die heute gegen Kameras im Gerichtssaal verwendet werden, vor ca. 150 Jahren schon einmal verwendet worden sind gegen Zuschauer im Gerichtssaal."

Prof. Volker Boehme-Neßler
Rechtssoziologe

„Wenn Urteile im Namen des Volkes gesprochen werden, wie es vor Gericht ist, dann muss das Volk auch sehen können und kontrollieren können, was in seinem Namen eigentlich passiert."

Prof. Matthias Prinz
Medienanwalt

„Es besteht ein Anspruch der Öffentlichkeit darauf, meine ich, sich selbst eine Meinung zu bilden, und das nicht vorgekaut zu bekommen."

Zwar sind Gerichtsverfahren laut Gesetz öffentlich; sobald die Verhandlung beginnt, müssen die Fernsehteams aber vor die Tür.

Unmissverständlich heißt es im Gerichtsverfassungsgesetz, Paragraph 169:
„Ton- und Filmaufnahmen zum Zwecke der öffentlichen Vorführung oder Veröffentlichung ihres Inhalts sind unzulässig."

Ein pauschales Verbot, das der Medienrechtler Christian von Coelln für falsch und zudem verfassungswidrig hält.

Prof. Christian von Coelln
Medienrechtler

„Die aktuelle Regelung verstößt meines Erachtens deshalb gegen das Grundgesetz, weil das Grundgesetz auch die Rundfunkfreiheit verbürgt. Das ist ein Grundrecht. Und dieses Grundrecht der Rundfunkfreiheit beinhaltet auch das Recht, mit der Kamera zum Ort des Geschehens gehen zu dürfen und dort Bilder anzufertigen, damit sich der Fernsehzuschauer später ein eigenes Bild davon machen kann, was geschehen ist. Und das gilt eben auch für das Geschehen in einen Gerichtssaal."

Bis in die 60er Jahre hinein waren Ton- und Filmaufnahmen auch in deutschen Gerichten keine Seltenheit. Ein TV-Highlight in der ARD: der Prozess gegen Vera Brühne. Die mondäne Münchnerin wurde 1962 wegen Doppelmordes verurteilt.

Ein Skandalprozess, der die Schaulustigen in seinen Bann zog – im Gericht und vor den Bildschirmen. Zwei Jahre später verbannte der Bundestag die Kameras aus den Gerichtssälen. Sie würden die Wahrheitsfindung beeinträchtigen.

Ein Argument, das die Mehrzahl der Juristen bis heute teilt. Auch Osman Isfen, Professor für Strafrecht in Bochum, fürchtet den Effekt von TV-Kameras auf die Prozessbeteiligten.

Prof. Osman Isfen
Strafrechtler

„In dem Sinne, dass beispielsweise Richter befangen werden, dass sie bestimmte Fragen anders stellen, dass die Zeugen sich auch eingeschüchtert fühlen können. Dass bestimmte zum Beispiel auch intime Sachen preisgegeben werden müssen, peinliche Sachen preisgegeben werden müssen. All das kann dazu führen, dass man sich nicht unbeobachtet fühlt, mit der Folge, dass man nicht die Wahrheit ans Tageslicht bringt."

Als abschreckendes Bespiel gilt vielen Juristen die Praxis in den USA. In etlichen Bundesstaaten übertragen dort TV-Sender live aus dem Gerichtssaal - und besonders gern übelste Ausfälle. Der Rechtssoziologe Volker Boehme-Neßler hält die Bedenken dennoch für überzogen.

Prof. Volker Boehme-Neßler
Rechtssoziologe

„In Deutschland haben wir keine Erfahrung mit Kameras im Gerichtssaal, aber wir haben ganz große Ängste davor. In Amerika ist es genau umgekehrt. Rechtspsychologen beobachten bei den Auswirkungen von Kameras auf das Verhalten von Menschen, die gefilmt werden, einen ganz starken Gewöhnungseffekt. Nach ganz kurzer Zeit haben sich alle Prozessbeteiligten an die Kamera gewöhnt und verhalten sich genauso wie vorher."

Was in Deutschland unmöglich scheint, ist bei den Vereinten Nationen längst üblich: Der internationale Strafgerichtshof in Den Haag überträgt seine Verfahren mit 30 Minuten Verzögerung im Internet. Zeugen werden in sensiblen Fällen unkenntlich gemacht. Transparenz, die der Medienanwalt Matthias Prinz auch beim NSU-Prozess für sinnvoll hält.

Prof. Matthias Prinz
Medienanwalt

„Welchen Unterschied würde es machen, ob da jetzt 50 Zuschauer im Gerichtssaal sitzen oder 50 Zuschauer plus eine Videokamera, die aus einer vorher fest definierten Einstellung den Inhalt der Gerichtsverhandlung ins Internet überträgt. Da kann ich jetzt nicht finden, dass sich an der Wahrheitsfindung oder am Prozess oder am Prozessablauf voraussichtlich etwas ändern wird. Das einzige, was sich ändern würde, ist: Wir nehmen´s ernst mit dem Grundsatz der Öffentlichkeit des Verfahrens."

Doch wie steht es mit den Persönlichkeitsrechten von Angeklagten? Muss jeder Beschuldigte in Kauf nehmen, einem unübersehbaren Publikum in Bild und Ton vorgeführt zu werden?
Und gilt nicht selbst für Beate Zschäpe die Unschuldsvermutung? Würde ihr nicht bei einer Übertragung ein öffentlicher Pranger drohen?
Winfried Hassemer, ehemals Richter am Bundesverfassungsgericht, warnt davor, den Schutz der Betroffenen mit dem öffentlichen Interesse an einer Straftat aufzuwiegen.

Prof. Winfried Hassemer
ehem. Vizepräsident Bundesverfassungsgericht

„Die Rechte des Beschuldigten haben zu tun mit Menschenwürde. Das ist das letzte Argument auf das ich so etwas gründen kann. Und wir sind uns in der Bundesrepublik zum Glück einig, dass die Menschenwürde nicht abgewogen werden kann. Man kann in einzelnen Fällen pragmatisch dieses und jenes zulassen. Aber zu sagen je wichtiger die Sache ist oder je mehr sich die Öffentlichkeit aufregt, oder je mehr Zeitungen darüber schreiben, desto weniger genau müssen wir achten auf die Rechte der Betroffenen. Das ist keine gute Idee."

Fakt ist aber auch: Beate Zschäpe ist längst eine Person der Zeitgeschichte. Details aus ihrem Leben füllen ganze Zeitungsseiten. Ob Bild oder Spiegel - sie werden ihre Sicht der Verhandlung direkt aus dem Gerichtssaal schildern. Einen eigenen Eindruck am Bildschirm aber wird sich kein Bürger machen können - trotz der Bedeutung des Verfahrens.

Wie ist denn Ihre Meinung? Schreiben Sie uns gern: "Sollten Verhandlungen bei Strafprozessen öffentlich im Fernsehen übertragen werden?" Unter www.kontraste.de haben wir einen Blog für Sie eingerichtet.