- Das Geschäft mit dem Mythos Chefarztbehandlung

Behandlung vom Chefarzt – mit diesem Bonus werben private Krankenversicherungen. Die Privatpatienten bekommen angeblich die bessere Behandlung. Doch oft sind die Chefärzte auf Reisen und delegieren die Arbeit. Die Versicherungen zahlen trotzdem.

Heute müssen wir als erstes Mal einen ganz alten Mythos entzaubern: Erinnern Sie sich noch an diese Musik? Die Schwarzwaldklinik. Und ihr Chefarzt Professor Brinkmann: Was für eine ungeheure Autorität, kompetent, gütig und ehrfurchteinflößend. Ein Image, das Chefärzten auch in der Realität bis heute anhaftet. Um bei Krankheit in den Genuss dieses Chefarztprivilegs zu kommen, lassen sich viele Patienten extra privat versichern und zahlen eine Menge Geld. Doch was, wenn sich rausstellt, dass der vermeintliche Halbgott in weiß seine Leistungen nicht erbringt? Caroline Walter und Andrea Böll.

Sarah Becker ist seit Jahren als selbstständige Musiklehrerin privat krankenversichert. Als besondere Leistung hat sie auch die Chefarztbehandlung gewählt. Als Frau Becker nach mehreren Schicksalsschlägen unter einem akuten Burn-Out litt, musste sie für sechs Wochen in einer Klinik stationär behandelt werden. Laut Vertrag - vom Chefarzt persönlich.

Sarah Becker
„Ich hab‘ gedacht, dass der Chefarzt eben besonders kompetent ist und dass es dann eben aufgrund meiner Versicherung ja doch ein angenehmer Vorzug sei, dass ich eine besonders gute Behandlung bekomme."
KONTRASTE
„Und was haben Sie in Wirklichkeit erlebt?“
Sarah Becker
„Dass mich alle anderen im Team behandelt haben, aber nicht der Chefarzt."

Den Chefarzt hat sie in der Klinik kaum gesehen. Trotzdem flatterte am Ende eine deftige Rechnung ins Haus - über 3000 Euro für die Chefarztbehandlung. Sarah Becker ging die Aufstellung der angeblich erbrachten Leistungen durch - und war entsetzt.

Sarah Becker
„Ich hab‘ in der Chefarztrechnung lauter Behandlungen gefunden, die der Chefarzt selber überhaupt nicht gemacht hatte. Zum Beispiel: eine kurze körperliche Untersuchung, die eine Studentin durchgeführt hat, die aber der Chefarzt mit dem Faktor 3,5 abgerechnet hat - als seine Leistung. Dann gab es Entspannungsübungen, die nicht der Chefarzt durchgeführt hat. Auch gab es Kunsttherapie, wo man in der Gruppe gemalt hat. Das hat auch nicht der Chefarzt gemacht."

Was in der Rechnung als „übendes Verfahren" auftauchte, war in Wirklichkeit eine Massage - natürlich nicht vom Chefarzt. Jede Therapie, die sie bekommen hat, wurde als Chefarztbehandlung deklariert - und meist zum Höchstsatz, zum 3,5- fachen abgerechnet. Doch nicht nur das. Es wurden sogar Behandlungen frei erfunden.

Sarah Becker
„Besonders absurd fand‘ ich in der Rechnung, dass ich am Tag nach meiner Entlassung noch drei Behandlungen gehabt haben sollte, die saftig abgerechnet wurden. Dann zum Beispiel, dass eine Schwester im Fernsehraum kurz Anweisungen gegeben hat, dass man sich in einer Liste eintragen soll, wenn man aus dem Haus geht. Das stand da auch als Chefarztbehandlung. Dann unter der Position 'Psychotherapie' standen auf einmal unendlich viele Termine, die es nie gegeben hat."

In der Klinik beobachtete Frau Becker wie in ihre Patientenbögen - die sie abgezeichnet hatte - noch nachträglich Chefarztvisiten eingetragen wurden. Sarah Becker reklamierte die komplette Rechnung beim Chefarzt. Er beschimpfte sie wüst und erteilte ihr Hausverbot. Sie beschwerte sich über die falsche Abrechnung bei ihrer Privatversicherung - doch dort schien man wenig interessiert.

Sarah Becker
„Ich bin aus allen Wolken gefallen, dass die Versicherung nicht daran interessiert ist, in dem Punkt genau hinzugucken, die Leistung war nicht erbracht worden, und die sagen mir: ‚Wir bezahlen das ja, schicken Sie das doch ein'. Und das kann ich nicht verstehen."

Sie kämpfte weiter, aber die Versicherung wollte dennoch zahlen. Sarah Becker war nicht die einzige Patientin, die von diesem Chefarzt eine falsche Abrechnung bekam.

Doch so einige Privatversicherungen vermeiden es, sich mit Chefärzten anzulegen. Stattdessen werben sie lieber mit den Vorzügen der Chefarztbehandlung. Diese Extraleistung muss der Privatpatient mit seiner Prämie jeden Monat auch teuer bezahlen. Allerdings scheint es fraglich, ob die Summe immer gut angelegt ist.

Wir recherchieren verdeckt bei Maklern, die private Krankenversicherungen vermitteln. Eigentlich profitieren sie davon, wenn sie die hohen Tarife der Chefarztbehandlung verkaufen. Doch wir sind erstaunt, was wir zu hören bekommen. Dieser Vertreter eines großen Versicherers erzählt uns, was er von der Chefarztbehandlung hält:

Makler
„Ich habe selbst erlebt, dass der Chefarzt hereinkam und sagte nur: ‚Guten Tag‘. Kann ich mir davon was kaufen? Operiert hat er mich dann nicht."

Dafür stellten Chefärzte horrende Rechnungen. Er rät uns vom Chefarzttarif ab.

Mit dem nächsten Makler beraten wir uns über Telefon. Er plaudert aus der Praxis.

Makler
„Chefarzt klingt zwar besser, aber wenn man ehrlich ist, wir haben nur schlechte Erfahrungen gemacht. Ich finde es Augenwischerei."
KONTRASTE
„Was haben Sie erlebt?“
Makler
„Ich habe bei Kunden nachgefragt. Zur Operation war der Chefarzt oft gar nicht da. Operiert hat ein anderer. Dafür zahlt man dann 60 bis 70 Euro mehr im Monat."

Er sagt, die Versicherten beschwerten sich dann bei ihm. Er scheint frustriert.

Makler
„Mit dem Chefarzttarif machen die Versicherungen nur zusätzlich Geld, aber eigentlich kriegen die Kunden die Leistung nicht. In neun von zehn Fällen, die ich selbst kenne, war das so."

Für ihre Privatpatienten haben Chefärzte oft wenig Zeit. Sie sind mit Verwaltung, Forschung oder Lehre beschäftigt. Oft soll der Patient - kurz vor der Behandlung - ein Formular unterschreiben und zustimmen, dass sich der Chef von anderen vertreten lässt, und trotzdem seine Leistung berechnet. Ständige Vertreter zu benennen, ist gängige Praxis.

Das stellt auch Charlotte Henkel von der Verbraucherzentrale Hamburg fest. Immer wieder beklagen Patienten die Abwesenheit des Chefarztes.

Charlotte Henkel, Verbraucherzentrale Hamburg
„Wenn der Patient den Chefarzt bucht, durch einen Vertrag, den er vorher schließt, dann muss der Patient sich auch darauf verlassen können, dass der Chefarzt selber persönlich diese Behandlung erbringt. Der Patient liegt ja zum Beispiel während einer Operation in Vollnarkose da und kriegt gar nicht mit, wer ihn selber behandelt. Der Bundesgerichtshof hat das so entschieden: Schließt ein Chefarzt einen Vertrag mit dem Patienten, muss der Chefarzt auch persönlich ran."

Nur in Ausnahmefällen wie Notfall oder Krankheit darf sich der Chefarzt vertreten lassen. Doch so mancher hält sich nicht daran. In dieser Hamburger Klinik fiel der Chefarzt der Urologie auf. Gegen ihn ermittelt inzwischen die Staatsanwaltschaft.

Wilhelm Möllers, Staatsanwaltschaft Hamburg
„Er steht in dem Verdacht, in der Vergangenheit betrügerische Abrechnungen zum Nachteil von Privatversicherten vorgenommen zu haben. Nach unseren Erkenntnissen soll er Chefarztrechnungen ausgestellt haben, obwohl wir Anhaltspunkte dafür haben, dass diese ärztlichen Leistungen zum Beispiel von Assistenzärzten erbracht worden sind."

Der Chefarzt selbst streitet die Anschuldigungen ab.

Der Mythos vom Chefarzt: Er ist fest in den Köpfen von Patienten verankert. Die beste Behandlung erhalte man immer nur vom Chef, vom Halbgott in weiß - so denken viele. Aber die Realität sieht manchmal anders aus.

In der Hamburger Verbraucherzentrale landen immer wieder Fälle von Chefarztpfusch auf dem Tisch.

Charlotte Henkel, Verbraucherzentrale Hamburg
„Leider heißt Chefarztbehandlung nicht immer die optimale Behandlung. Wir hatten hier einen Fall in der Beratung, wo eine Patientin schwer an Brustkrebs erkrankt war. Die hatte einen apfelsinengroßen Tumor und der behandelnde Chefarzt war nicht in der Lage, den apfelsinengroßen Tumor zu erkennen. Das war ein grober Behandlungsfehler. Der Chefarzt musste haften, aber die Patientin hatte nichts mehr davon, die ist leider nach drei Monaten verstorben."

In einem anderen Fall gab es bei einer Privatpatientin eine schwere Komplikation nach der OP. Doch der Chefarzt war nicht mehr da, er war schon auf einem Kongress.

Sarah Becker hat lange gebraucht, um sich vom Ärger mit dem Chefarzt zu erholen. Eigentlich wollte sie in dessen Klinik ihr seelisches Gleichgewicht wiederfinden - am Ende wurde ihr mit Anwälten gedroht, sollte sie die dreiste Chefarztrechnung nicht bezahlen.

Sarah Becker
„Das war für mich eine schlimme Erfahrung. Also, man kriegt eigentlich dann für das, was man erwartet hatte, nämlich Hilfe und Unterstützung und Zuwendung, genau das Gegenteil."

Das heißt: Wo Chefarzt drauf steht, ist nicht immer Chefarzt drin. Als Patient muss man seine Rechte wohl oder übel eben selber einfordern.



Beitrag von Caroline Walter