Im Krankenhaus (Quelle: rbb)

- Sterben ohne Würde – Wie in deutschen Heimen Alte zu Tode gepflegt werden

Als der Mann in die Notaufnahme des Berliner Urban-Krankenhauses eingeliefert wurde, hatte er nur noch wenige Tage zu leben. Der Dienst habende Arzt ist entsetzt - nicht zum ersten Mal. Wer alt ist und keine Angehörigen hat, der wird schnell vergessen in deutschen Pflegeheimen. Norbert Sigmund und Ursel Sieber decken auf, woran das deutsche Pflegesystem krankt.

Der Arzt Dr. de Ridder ist Leiter einer großen Rettungsstelle. In seinem Beruf hat er schon alles gesehen. Dachte er. Doch auf diesen Fall war selbst er nicht vorbereitet. Und weil der Fall kein Einzelfall ist, will Dr. de Ridder, dass wir alle das wissen, was alten Menschen in einem Pflegeheim widerfahren kann. Dieser Arzt hat dokumentiert, was in unserem wohlhabenden Wohlfahrtsstaat möglich ist. Ursel Sieber und Norbert Siegmund über Pflege, die an Misshandlung grenzt.

Wolfgang Kluge, 68, ehemals Arbeiter in einem Batteriewerk, allein stehend. Ein Pflegefall.

Im Rollstuhl wird er ins Altenheim gebracht. Kaum drei Monate später ist aus dem Pflegefall ein Notfall geworden. Wolfgang Kluge kommt ins Krankenhaus. Wenige Tage später stirbt er.

Seit Januar stehen zwei Altenpflegerinnen vor Gericht. Von Verteidigern umringt: Die Leiterin des Pflegedienstes und die Leiterin des Wohnbereichs von Wolfgang Kluge. Der Vorwurf: Fahrlässige Körperverletzung durch schlampige Pflege.

Seine Anzeige brachte den Fall ins Rollen – rechts im Bild: Oberarzt Michael de Ridder, Leiter der Rettungsstelle im Berliner Urban-Krankenhaus, in das der alte Mann eingeliefert wurde.

Dr. Michael de Ridder, Vivantes-Klinikum Am Urban
„Der Zustand war so schlimm, dass selbst Pflegekräfte und Ärztinnen und Ärzte im Urban-Krankenhaus, die viel gewöhnt sind, dass es ihnen den Atem verschlug bzw. die Sprache verschlug.“

Rückblende: 13. August 2003. Ein Notarztwagen bringt Heimbewohner Kluge in die Rettungsstelle. Der 68jährige ist nicht mehr ansprechbar, bis auf die Knochen abgemagert, ausgetrocknet. In den Augen von Oberarzt de Ridder Folge schwerer Pflegemängel. Der alte Mann hat offene Wunden, Entzündungen, eine Blutvergiftung.

Dr. Michael de Ridder, Vivantes-Klinikum Am Urban
„Dieser Fall ist mir so nahe gegangen, und ich muss auch wirklich sagen, man schämt sich, man schämt sich als Arzt, dass es so etwas überhaupt gibt.“

Schockiert greift de Ridder zur Kamera, dokumentiert, was er kaum glauben kann.

Dr. Michael de Ridder, Vivantes-Klinikum Am Urban
„Er hatte im Bereich der rechten Hand eine große geschwürige Wunde, die bis auf die Sehne hinunterreicht, die die Sehne offen legt, Er hatte im Bereich der Leiste wie man hier sieht einen großen Abszess im Bereich des Hodens, der bereits spontan durchgebrochen war und als wir ihn untersuchten, sich Eiter entleerte. Das Schockierende ist, dass er in einem so beklagenswerten Zustand war, den man nur vergleichen kann mit einem Kranken, den man aus ganz anderen Gebieten der Erde kennt, etwa der Sahel-Zone.“

Nur ein paar hundert Meter vom Krankenhaus entfernt: das Pflegeheim, in dem Wolfgang Kluge seine letzten drei Monate verbrachte. Das Heim eines gemeinnützigen Trägers, sogar mit Gütesiegel zertifiziert. Geschäftsführerin Gabriele Goltermann weist alle Vorwürfe zurück: Die Pflege in ihrem Heim sei gut.

KONTRASTE
„Also Pflege gut, aber Patient trotzdem tot?“
Gabriele Goltermann, Geschäftsführerin
„Unsere Pflege ist gut, davon gehe ich aus. Es sterben in Pflegeheimen jeden Tag Menschen, weil sie krank sind, weil sie alt sind.“

Die erste Zeit im Heim verbringt Wolfgang Kluge noch im Rollstuhl. Dann geht es rapide abwärts. Bald liegt er nur noch im Bett. Zeitweise wird er über eine Magensonde ernährt. Tagesration: Rund ein halber Liter Flüssignahrung. Er magert ab. Sein Pech: Angehörige hat er nicht. Offene Wunden und Entzündungen? Von den Pflegern will niemand etwas bemerkt haben. Bis zuletzt nicht, so ein Verteidiger:

Martin Protze, Verteidiger
„Es war nichts zu sehen. Der Mann ist dreimal täglich gewickelt worden, gewindelt worden mit Inkontinenzmaterial. An demselben Morgen, wir haben beim ersten Termin die Zeugin gehört, die morgens, eine Pflegefachkraft, eine Dame, die lange im Beruf ist, die nichts festgestellt hat.“

Dr. Michael de Ridder, Vivantes-Klinikum Am Urban
„Nein. Das kann nicht über Nacht entstehen. Das dauert Tage und Wochen, ehe sich ein solcher Prozess entwickelt und ein solches Ausmaß annimmt.“
KONTRASTE
„Da sind Sie ganz sicher?“
Dr. Michael de Ridder, Vivantes-Klinikum Am Urban
„Da bin ich absolut sicher!“

Erst vor Gericht kommt heraus: Die so genannte Pflegedokumentation, eine Art Tagebuch, in dem die Pflege genau protokolliert werden muss, war lückenhaft, teilweise sogar falsch. In dem vom Gericht in Auftrag gegebenen Gutachten heißt es – wörtlich:
Zitat:
„Eine ausreichende grundpflegerische Versorgung kann nicht bestätigt werden.“

Mängel in der Pflege: Kein Einzelfall, weiß der Medizinische Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen. Er wertet alle Kontrollen und Stichproben in deutschen Pflegeheimen aus. Dabei stellten die Prüfer fest:
- bei 17 % aller Heimbewohner einen „unzureichenden Pflegezustand“, also bei jedem 6.
- bei 41 Prozent „Mängel bei Ernährung und Flüssigkeitsversorgung“,
- bei 21 % „Defizite in der Pflegedokumentation“, so wie laut Gutachten im Falle Wolfgang Kluge.

Jürgen Brüggemann ist Leiter der Studie und damit Wächter über die Qualität deutscher Pflegeheime. Schlampige Pflege – nicht unbedingt eine Frage des Geldes, ermittelten die Prüfer:

Jürgen Brüggemann, Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen
„Es zeigt sich, dass es teure Einrichtungen gibt, die sind schlecht, und günstige Einrichtungen, die sind gut. Also dieses Kriterium, wie hoch der Pflegesatz ist, allein sagt noch nichts über die Qualität der Pflege aus. Genauso wenig können wir im Moment sagen, dass Einrichtungen, bei denen ein Wohlfahrtsverband der Träger ist, dass die besser oder schlechter sind als zum Beispiel private.“

Auch zertifizierte Heime, solche mit Gütesiegel, wie das von Wolfgang Kluge, schneiden bei Kontrollen im Durchschnitt nicht besser ab, so die Prüfer von den Krankenkassen.

Ein Problem: Kontrollen durch die Heimaufsicht oder den Medizinischen Dienst, echte Stichproben sind selten – und wenn, dann meist mit Voranmeldung. Und wenn Heime oder Träger dann doch mal auffallen, dürfen die Prüfer deren Namen nicht veröffentlichen. Datenschutz zum Schaden der Pflegebedürftigen:

Jürgen Brüggemann, Medizinischer Dienst der Spitzenverbände der Krankenkassen
„Wenn ein Qualitätswettbewerb stattfinden soll, dann müsste es möglich sein, die Ergebnisse der Qualitätsprüfungen auch zu veröffentlichen, z.B. indem man im Internet diese Ergebnisse versichertenfreundlich und lesbar zur Verfügung stellt. Das ist derzeit aufgrund der Gesetzeslage nicht möglich. Dazu wäre eine Gesetzesänderung erforderlich; die würden wir uns durchaus wünschen.“

Überzogener Datenschutz. Die Interessen von Heimträgern wiegen anscheinend schwerer, als die Gesundheit alter Menschen. In Wolfgang Kluges Fall urteilt demnächst der Strafrichter. Pflegerinnen vor Gericht. Auf der Anklagebank auch eine gleichgültige Gesellschaft.

Immer neue Opfer von Pflegemissständen dokumentiert Oberarzt de Ridder, um aufzurütteln, wie er sagt.

Dr. Michael de Ridder, Vivantes-Klinikum Am Urban
„Man muss der Öffentlichkeit und der Politik auch mit solchen Bildern – ich sag das mal so - in die Eingeweide greifen, weil offensichtlich nur solche schockierenden Bilder von Vorgängen, die normalerweise überhaupt nicht an die <Öffentlichkeit geraten, vielleicht in der Lage sind, etwas zu bewegen, bei denen, die Verantwortung tragen.“

Natürlich gibt es sie auch: die guten, die vorbildlichen Altenheime. Und natürlich gibt es sie: die liebevollen, die aufopfernden Pfleger und Pflegerinnen. Aber es gibt eben noch vieles, was krank im Pflegesystem ist und deshalb ist es gut, dass es einen Arzt wie Dr. de Ridder gibt.