Operationsraum (Quelle: rbb)

- Tödlicher Herzinfarkt: In Ostdeutschland ist das Leben gefährlicher

Seit 1989 steigt die Zahl der Herzinfarkte in Osten stärker als im Westen Deutschlands. Eine neue Studie.

Die Überweisung von bislang 800 Milliarden Mark von Deutschland West nach Deutschland Ost, die können viele der Schwestern und Brüder nicht trösten. Sie fühlen sich dennoch arm am Beutel und krank am Herzen, wendekrank und Wendeopfer. Und nun können sie sich auch noch durch die Statistik bestätigt fühlen: Viel mehr Herzinfarkte im Osten als im Westen. Diese Feststellung ließ Angelika Wörthmüller und Susan Zerwinsky nicht ruhen, sie forschten nach den Ursachen.


Vetschau, Land Brandenburg.
Hier wohnt Detlev Krone. Der 52jährige Verwaltungsangestellte hatte letztes Jahr einen Herzinfarkt. Eines morgens ist er in seinem Büro einfach zusammengebrochen. Der Stress nach der Wende, meint er, spielte dabei eine wesentliche Rolle.

Detlef Krone
"Der Ärger fing erst nach der Wende an, mit allem, was eben dazugehört - ob das nun im privaten Bereich war oder im beruflichen Bereich war, auf jeden Fall hat man zu tun gehabt, daß man überall letztendlich ja klar kommt."

Ist ja naheliegend: Es ist wohl die Wende, die krank macht. Auch die Statistik spricht dafür. Nach den neuesten Zahlen von 1995 starben im Osten Deutschlands mehr Menschen am Herzinfarkt als im Westen, nämlich:
127,4 Menschen auf 100.000 Einwohner.
102,3 waren es in den Alten Bundesländern - also: 25 Prozent mehr im Osten als im Westen.

Die Tatsachen verdichten sich: nach der Wende sank die Zahl der Herzinfarkt-Toten im Westen, während sie in den neuen Bundesländern weiter anstieg. Die Schere ist auffällig. Es geht wohl vor allem um Stress, Angst und Unzufriedenheit. Das muß die Sterbeziffer in die Höhe getrieben haben.

Brandenburg Klinik in Wandlitz. Dort, wo früher die DDR-Parteibonzen lebten, gibt es jetzt eine Abteilung für Psychosomatik. Ironie der Geschichte - im ehemaligen Wohnhaus von Erich Honecker wird nun Therapie für sogenannte "Wendeopfer" geboten.

Dr. Dr. Jürgen Münch, Chefarzt Psychosomatik, Brandenburg Klinik Wandlitz
"Wir haben viele Patienten hier, die unter den Folgeproblemen der Wende sehr leiden. Das drückt sich aus im Angstsyndrom zum Beispiel, auch überwiegend Herzangst."

Typisches Profil eines sogenannten "Wendekranken": Arbeitslos, um die 50, ohne Aussicht auf Wiederbeschäftigung. So etwas kann wirklich krank machen.

Prof. Dr.Thomas Kieselbach, Gesundheitspsychologe, Universität Hannover
"Wir wissen aus internationalen Studien, daß Arbeitslosigkeit - sowohl ein Anstieg der Arbeitslosenrate als auch die individuelle Erfahrung von Arbeitslosigkeit eine Menge mit Herzkreislauf - Erkrankungen zu tun hat. In einer Reihe von Ländern wurde eine erhöhte Sterblichkeit infolge von Herzkreis-Erkrankungen bei einem Anstieg der Arbeitslosenrate festgestellt."

Und tatsächlich: In den Neuen Bundesländern ist die Arbeitslosigkeit höher: 11.9 Prozent im Westen, 19.9 Prozent im Osten.
Also, alles klar? Wenn den Ostbürger der Herzinfarkt trifft, ist die Wende schuld? Ganz so einfach ist es nicht.

Dr. Hasso Behr, Kardiologe, Brandenburg Klinik,Wandlitz
"Also ich kann aus meiner persönlichen Einschätzung sagen, daß die ursächliche Rolle des Stress für die Entstehung einer über Jahrzehnte wachsenden Krankheit wahrscheinlich wenig Bedeutung hat, mehr wahrscheinlich für die Auslösung, daß ein verändertes Gefäßsystem jetzt plötzlich sich verschließt."

Vergleichende Ost-West Studien argumentieren ähnlich: man muß auch hinter die Mauer gucken, um die hohe Herzinfarkt-Sterblichkeit im Osten zu verstehen. Denn diese Krankheit kommt nicht von heute auf morgen - sie ist Ergebnis jahrzehntelanger ungesunder Lebensweise. Spurensuche: Welche Faktoren sind verantwortlich?

Indiz Eins: Übergewicht
Schlangestehen am Alexanderplatz. Wenn es einmal frisches Obst oder Gemüse gab, dann war es schnell wieder ausverkauft. DDR-Kost enthielt im Durchschnitt zu wenige Vitamine und Ballaststoffe, zu viel Fett und übermäßig Kalorien. Das macht dick. - Die Folgen für die Altersgruppe der 50 bis 69-jährigen: Bei den Westbürgern: 27 Prozent übergewichtig - 32 Prozent bei den Ostbürgern.

Dr. Hasso Behr, Kardiologe, Brandenburg Klinik,Wandlitz
"Die Gründe liegen meiner Meinung nach in einem unterschiedlichen Risikoprofil, da_ nämlich die Menschen in der ehemaligen DDR einen höheren Cholesterinspiegel hatten, fast genauso viel geraucht haben und daß die Behandlung des hohen Blutdruckes, das ist ja auch ein wichtiger Risikofaktor für den Herzinfarkt, trotz vieler Bemühungen leider nicht den optimalen Stand erreicht hatte, den man sich gerne gewünscht hätte."

Indiz Zwei: erhöhter Blutdruck
Fettes Essen treibt den Blutdruck in die Höhe, vor allem dann, wenn gleichzeitig gerne salzreich gegessen wird, wie das in der DDR der Fall war. Auch der Alkohol wirkt blutdrucksteigernd - und der wurde bekanntlich im Osten noch exzessiver genossen als im Westen.
Die Folgen: Im Westen: 29,4 Prozent mit Bluthochdruck - 41,8 Prozent im Osten.

Indiz Drei: Bewegungsmangel
Spitzensportler wie der Kugelstoßer Udo Beyer wurden in der DDR stark gefördert, denn das brachte international Ruhm und Ehre. Der Breitensport jedoch fand weniger Anhänger im Politbüro und wurde vergleichsweise vernachlässigt. Das hat Auswirkungen bis heute.
Im Westen: 30,6 Prozent der Bevölkerung sind Mitglied in einem Sportverein. Im Osten: 12, 6 Prozent.

Indiz Vier: Umweltbelastung
Beispiel Bitterfeld: Hoher Schadstoffausstoß belastet Herz und Kreislauf - auch wenn die DDR hierzu keine Daten erhoben hat. Ein Betroffener: Klaus Westphal, pensionierter Stadtangestellter hatte vor vier Jahren einen Herzinfarkt. Mitschuld hat seiner Ansicht nach Leipzigs frühere Dreckschleuder Nummer Eins, das jetzt stillgelegte Kraftwerk Espenhain.

Klaus Westphal, Leipzig
"Man muß natürlich davon ausgehen, daß der Herzinfarkt oder die Erscheinung des Herzinfarktes hier in diesem unmittelbaren Raum von Leipzig zweifelsohne mit diesen schlechten Umweltbedingungen zusammenhängt."

Klaus Westphal spricht aus eigener Erfahrung. Aber auch Mediziner vermuten hier einen Zusammenhang. Nur: Beweisen läßt sich das nicht. Es fehlen die Daten. Was die DDR nicht wissen wollte, hat sie eben auch nicht erforscht.

Dr. Hasso Behr, Kardiologe, Brandenburg Klinik, Wandlitz
"Es gibt, glaub ich, noch nicht mal Untersuchungen, die zeigen, daß das Neuauftreten von Infarkten während solcher Wetterbelastungen, während solcher Ausstoßbelastungen besonders hoch war."

Indiz Fünf: mangelnde medizinische Versorgung
In der DDR fehlte es an Medikamenten und ausreichender kardiologischer Technik. Mancher Patient ist auf der Warteliste für eine Herzoperation verstorben. Grund: Devisenmangel. Nach der Wende kamen kardiologische High-Tech-Apparaturen in großem Umfang. Aber es bleiben Probleme: nicht alle Ost-Ärzte haben genug Erfahrung im Umgang mit den Geräten.

Prof. Dietrich Pfeiffer, Universitätsklinik Leipzig
"Viel dieser Techniken, mit denen wir heute Ärzte behandeln, die haben sie selbst halt nicht erlebt. Und das später nachzuholen, das geht halt auch schwer, die Ärzte sind in ihren Niederlassungen tätig und müssen dort arbeiten und können ja nicht über Wochen und vielleicht sogar Monate zum Nachholgen dieser Ausbildungen in die großen Krankenhäuser gehen, also: Es ist sicher richtig, daß hier eine Diskrepanz in der Versorgung vorhanden ist. Das wird sich über die Jahre ausgleichen."

40 Jahre DDR - kein Anlaß zu Jubelfeiern in punkto Gesundheit. Die Anfälligkeit für Herz-Kreislauf-Erkrankungen war höher als im Westen, die Lebenserwartung niedriger. Die Westkurve kletterte kontinuierlich nach oben, die Ostkurve blieb vor allem seit den 80er Jahren zurück. Erst nach der Wende stieg sie wieder schneller an. Bis heute blieb ein Unterschied von 2,2 Jahren.

Wolfgang Barth, Epidemiologe Zepernick
"Offizielle Gesundheitspolitik war, das wurde von einigen führenden Sozialhygienikern auch sehr propagiert, daß für die Gesundheit der einzelnen Menschen der Staat verantwortlich ist. Das war sicherlich gut gemeint, aber das kann natürlich bei solchen Krankheiten wie eben Herzkreislaufkrankheiten nicht funktionieren, wo doch sehr viel abhängt vom eigenen persönlichen Verhalten."

25 Prozent mehr Herzinfarkt-Tote im Osten - also doch nicht nur eine Folge der Wende, sondern Ergebnis jahrzehntelanger Entwicklung.

Damit das Weltbild für so manchen Nostalgiker zwischen Ostsee und Thüringer Wald wieder in Ordnung kommt: Hätte ihn der Westler nicht über den Tisch gezogen, wäre er zwar infarktgefährdet geblieben, zum Ereignis aber wäre der Infarkt nicht geworden. Gut, nicht? Der Westen ist also doch schuld.