- Abschiebung nach Afghanistan trotz Sicherheitsbedenken

Die afghanischen Taliban nehmen keine Rücksicht auf Zivilisten in ihrem Kampf gegen die Regierung und die afghanischen Sicherheitskräfte. Deshalb wollten die Innenminister weitere Abschiebungen von geduldeten Asylbewerbern eigentlich bis zur Neubewertung der Sicherheitslage aussetzen. Doch wie KONTRASTE-Recherchen ergaben, halten sich mehrere Bundesländer nicht daran - allen voran Bayern.

Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Verteidigungsministerin von der Leyen war ein Besuch der deutschen Soldaten in Afghanistan. Bis Ende des Jahres soll die Truppe abgezogen sein. Doch schon jetzt zeigt sich: Die Sicherheitslage verschlechtert sich zusehends! Kaum zu begreifen, dass die Politik trotz der gefährlichen Lage afghanische Flüchtlinge aus Deutschland abschiebt. Dabei gilt eigentlich der Grundsatz: Keine Abschiebung von Flüchtlingen in Krisengebiete! Caroline Walter und Christoph Rosenthal.

Ende Januar, sechs Uhr morgens, im bayerischen Dachau. Polizisten klingeln an der Haustür von Hadi Arefi. Sie teilen dem afghanischen Flüchtling mit – er habe zehn Minuten Zeit, seine Sachen zu packen – er werde nach Afghanistan abgeschoben.

Nach einer Nacht im Abschiebegefängnis setzt man ihn in den Flieger nach Kabul. Hadi Arefi ist völlig verzweifelt, kurz vor dem Abflug schneidet er sich die Pulsadern auf – die Abschiebung wird abgebrochen.

Hadi Arefi
„Ich wollte mich halt umbringen, bei mir war ganz fertig, mein Leben war fertig, ich wollte nie Afghanistan wiedersehen.“

Der 22jährige hat Angst vor einem Land, das ihm fremd ist, das er nur aus den Nachrichten kennt. Er war noch ein Kind, als seine Familie vor den Taliban zunächst in den Iran flüchten musste. Dort waren sie rechtlos. In Deutschland suchte er Schutz.

Hadi Arefi
„Warum schicken sie mich nach Afghanistan, was habe ich in Deutschland getan? Ich bin seit vier Jahren in Deutschland, ich hab nun deutsch gelernt, also bin ich immer zur Arbeit gegangen.“

Hier in dieser Wäscherei arbeitete Hadi bis vor kurzem. Sein Chef war schockiert, dass die bayerischen Behörden seinen Mitarbeiter einfach abschieben wollten.

Andreas Eisenbach
Arbeitgeber

„Unverständnis in erster Linie. Weil das jemand war, der sich in unserem Staat hervorragend integriert hat, der Sozialleistungen abgeführt hat, der eigentlich vollwertiges Mitglied in der Gesellschaft war, selbst bestimmt.“

Hadis Asylantrag wurde abgelehnt - mit der Begründung, er könne in Afghanistan schon irgendwie überleben. Seitdem war er hier nur geduldet. Was Rückkehrer in Afghanistan erwartet: Eine Sicherheitslage, die schlechter ist denn je. Im vergangenen Jahr gab es mehr zivile Opfer als zuvor. Das erzählt uns ein Vertreter der Vereinten Nationen in Kabul.

James Rodehaver
UN-Mission Afghanistan

„Wir stellen einen dramatischen Anstieg von getöteten und verletzten Zivilisten durch Angriffe der Taliban auf afghanische Sicherheitskräfte fest. Diese Anschläge passieren an Marktplätzen, am Straßenrand, überall dort wo die Menschen ihr ganz alltägliches Leben führen.“

Gerade auf die afghanische Hauptstadt haben es die Taliban vor den kommenden Präsidentschaftswahlen abgesehen.

In Kabul sind wir mit Rafiq Shirdel verabredet, sein Hamburger Verein unterstützt Projekte im Land. Am Tag unseres Interviews hat sich ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt, später gab es eine stundenlange Schießerei mit den Taliban.

Rafiq Shirdel
Netzwerk „Afghanistan Info“

„Die Gefahr ist sehr hoch. Sogar wenn ich persönlich morgens raus gehe, weiß ich nicht, ob ich abends wieder lebendig nach Hause kommen kann. Und deswegen ist auch mein Testament, habe ich in Hamburg an meine Kinder weitergegeben. Und das ist fast alle Afghanen, die in Kabul leben, leben die so.“

Die NATO-Truppen ziehen ab mit einer katastrophalen Bilanz. Im Norden, wo die Bundeswehr die Kontrolle an die afghanischen Sicherheitskräfte übergeben hat, haben die Taliban in weiten Teilen wieder die Herrschaft übernommen.

Hadi Arefi ist besonders gefährdet, er gehört der Volksgruppe der Hazara an, die von den Taliban seit Jahrzehnten verfolgt wird.

Dieses Propagandavideo aus 2013 zeigt, wie Taliban einen Hazara fast zu Tode foltern. Er ist aus Europa zurückgekehrt. Sie beschuldigen ihn, ein Spion zu sein.

Den Rückkehrern droht nicht nur Gefahr, sondern auch ein Leben in extremer Armut. Rafiq Shirdel erzählt uns von der hohen Arbeitslosigkeit in der Stadt. Die Rückkehrer fänden weder einen Job noch eine Bleibe.

Rafiq Shirdel
Netzwerk "Afghanistan Info"

„Die Jungs, die aus Deutschland abgeschoben werden sollen, die haben überhaupt keine Zukunft in Afghanistan. Viele von den Jungs, sind als kleine Kinder, kleine Babys haben die Afghanistan verlassen. Die kennen sich mit Kultur, Mentalität, mit Krieg, kennen sie sich überhaupt nicht aus. Und deshalb haben sie keine Chance in Afghanistan zu überleben, besonders in Kabul sowieso nicht.“

Es bleibt oft dann nur ein Leben in den Slums von Kabul. Genau in diese kritische Situation wollen die bayerischen Behörden Hadi Arefi abschieben. Und: er ist nicht der Einzige auf ihrer Abschiebeliste.

Dabei war Afghanistan gerade erst Thema auf der Innenministerkonferenz. Dort diskutierten die Minister, ob man derzeit überhaupt in das Land abschieben soll. In einem Beschluss wird festgehalten, dass es auf jeden Fall eine Überprüfung und Neubewertung der Sicherheitslage geben müsse. Irene Alt, Integrationsministerin aus Rheinland-Pfalz, hat das Thema auf die Agenda setzen lassen. Sie hat eine ganz klare Position.

Irene Alt (Bündnis 90/Die Grünen)
Integrationsministerin Rheinland-Pfalz

„Wir haben unsere Ausländerbehörden über diesen Entschluss informiert und wir haben unseren Ausländerbehörden in Rheinland-Pfalz gesagt, dass es in unserem Land bis zum Lagebericht auf keinen Fall Abschiebungen geben wird.“

Der bayerische Innenminister Joachim Herrmann sieht das dagegen anders. Ein Interview mit KONTRASTE lehnt er ab. Man halte sich an Recht und Gesetz - und schiebe mit Augenmaß ab, heißt es aus seinem Ministerium. Für die Neubewertung der Sicherheitslage sei man nicht zuständig.

Und die Ausländerbehörde in Dachau, die Hadi Arefis Abschiebung veranlasst hat, sagt: auch sie habe keine aktuellen Erkenntnisse. Trotzdem hat sie entschieden.

KONTRASTE
„Warum warten Sie denn nicht, bis diese Sicherheitslage neu bewertet ist?“
Gerhard Weber
Landratsamt Dachau

„Die Frage kann ich nur zurückgeben. ‚Warum dauert es so lange?’ Wenn’s denn so wäre, dass man denn zu einer anderen Einschätzung kommt – ich kann es hier vor Ort nicht beurteilen, deswegen kann ich Ihnen dazu auch keine andere Auskunft geben. Die Frage ist, ich sage es noch einmal: Die Frage müssen Sie nicht hier stellen, die müssen Sie woanders stellen.“

Bayern will einen jungen Mann abschieben, und keiner übernimmt die Verantwortung für die Folgen. Nach KONTRASTE-Recherchen ist Bayern nicht das einzige Bundesland, das ohne Neubewertung ausweist. Auch Sachsen schiebt ab. Andere antworten, es handele sich bei den Abschiebungen lediglich um Einzelfälle.

Irene Alt (Bündnis 90/Die Grünen)
Integrationsministerin Rheinland-Pfalz

„Ich kann es nicht nachvollziehen, dass man so argumentiert, weil Einzelfälle sind einzelne Menschen die wir in ein unsicheres Land zurückschicken, wo wir nicht wissen was ihnen passiert, wenn sie dort ankommen. Und wir hatten ja die Situation, dass sozusagen einzelne Männer abgeschoben werden können. Ich bin der Meinung, man sollte jetzt davon keinen Gebrauch machen und die Abschiebungen aussetzen, bis wir da einen Schritt weiter sind und bis wir die notwendigen Informationen vom Bundesinnenministerium dann auch haben.“

Hadi Arefi hat ständig Albträume, dass wieder die Polizei vor der Tür steht. Wie es mit ihm weitergeht, ist noch nicht entschieden.

Hadi Arefi
„Lass mich hier einfach leben mein Leben zu machen, eine normale Leben, es ist nicht zu viel. Ich denke es ist nicht zu viel.“

 

 

Beitrag von Carolin Walter und Christoph Rosenthal