Frieren, hungern, warten - Wie Politiker und eine unfähige Verwaltung das Flüchtlingselend in Berlin fördern

Vor dem Berliner Landesamt für Gesundheit herrschen seit Monaten Zustände wie in Flüchtlingslagern in Kriegsgebieten. Kinder und Kranke warten auf Termine, schon morgens um vier. Neue Flüchtlinge versuchen sich registrieren zu lassen, andere brauchen ärztliche Hilfe und Medikamente. Trotz erschreckender Bilder bekommt die Berliner Landespolitik das Problem nicht in den Griff.

Anmoderation: Nicht nur die Terroranschläge bestimmen derzeit die Politik und das persönliche Empfinden. Auch die Flüchtlingsfrage. Trotz aller Probleme, überall wird die deutsche Willkommenskultur gelobt - Flüchtlinge würden bei uns besser behandelt als anderswo in Europa. Doch ausgerechnet in der Hauptstadt Berlin herrschen vor dem größten Flüchtlingsamt der Stadt unfassbare Zustände. Caroline Walter und Christoph Rosenthal haben dramatische Szenen eingefangen und zeigen: Die Berliner Politik versagt wieder einmal nach Strich und Faden.

Berlin – kurz vor 4 Uhr morgens: Hunderte Flüchtlinge harren in der Kälte aus. Wer um diese Uhrzeit nicht hier ist, hat wenige Chancen, heute noch bei der Flüchtlingsbehörde dran zu kommen. Auch Familien mit Kindern müssen im strömenden Regen anstehen.

O-Ton Flüchtling

"Wir dürfen die Kinder nicht alleine in der Asylunterkunft lassen, der Heimleiter hat gesagt, wir sollen sie mitnehmen."

Schon vier Tage steht die Familie geduldig jeden Morgen an, um das Asylgeld und Bescheinigungen abzuholen. Als das Tor geöffnet wird, ist der Druck der vielen Menschen zu groß, die Situation gerät außer Kontrolle. Die Flüchtlinge stürmen auf das Gelände der Behörde. Doch dort ist der nächste Flaschenhals – Zelte, wo es wieder heißt, einen Platz in der Warteschlange zu sichern. Einige Flüchtlinge sind am Ende ihrer Kräfte, ein junger Mann kollabiert sogar.

Dieser Iraker am Ende der Schlange hat seit Tagen keinen Schlafplatz mehr - denn für jede Notunterkunft braucht man eine Bescheinigung, die hier immer wieder verlängert werden muss. Aber dazu müsste er erst einmal einen Termin kriegen.

 O-Ton Flüchtling

"Jeden Tag sagen zu mir: morgen, morgen, morgen. Warten, tut mir Leid, morgen. Kein auch ‚tut mir leid‘, morgen, morgen. 20 Stunden bin ich hier jeden Tag in Lageso."

Das Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales – kurz Lageso – ist zuständig dafür, dass Flüchtlinge registriert werden, Geld zum Leben und eine Unterkunft haben sowie medizinische Versorgung erhalten. Doch die Behörde ist komplett überfordert. An jeder Ecke des Lageso stehen verzweifelte Flüchtlinge.

Die Terminvergabe ist katastrophal – viele zeigen uns Zettel mit 9-Uhr-Terminen – die aber wertlos sind. Andere haben zwar Wartenummern – aber es werden am Tag viel mehr herausgegeben als Fälle bearbeitet werden können. Die Security draußen verliert den Überblick - es ist das reinste Chaos.

Dieses Ehepaar aus dem Irak irrt herum. Sie sind in einem entfernten Berliner Bezirk untergebracht und haben hier eigentlich einen Termin.

O-Ton Irakische Frau

"Wir sind etwa zwei Stunden unterwegs gewesen, damit wir pünktlich hier sind und jetzt warten wir immer noch. Mein Ehemann ist sehr krank und ich kann einfach nicht mehr."

Ihr Mann hat Alzheimer, aber niemand kümmert sich um die beiden. Keiner hier versteht das System – auch wir nicht.

Seit Monaten herrschen solche Zustände vorm Berliner Flüchtlingsamt. Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) schiebt die Verantwortung auf seinen Sozialsenator Mario Czaja (CDU) ab – und der reicht sie weiter nach unten. Der Präsident vom Lageso räumt ein, dass die Situation verbessert werden müsste – aber es fehle an Räumlichkeiten und am Personal.

O-Ton Franz Allert, Präsident Lageso

"Trotz erhöhter Einstellungen fehlt uns nach wie vor qualifiziertes Personal und unser Appell geht ja immer wieder an die politisch verantwortlichen, hier noch zusätzliches Personal zu genehmigen, damit hier auch eine nachhaltige Verbesserung der Situation erfolgen kann."

Aber für die mangelhafte Organisation – die unverlässliche Terminvergabe - ist die Behörde selbst verantwortlich.

Auf dem Gelände treffen wir Nadine – sie betreut gerade ehrenamtlich die Syrerin Manal. Sie hat eine Risikoschwangerschaft und wurde deshalb schon operiert. Manal war ohne Unterkunft bis die Ehrenamtlichen ihr geholfen haben.

O-Ton Nadine, Ehrenamtliche Helferin

"Wenn jetzt mein Kollege und ich nicht da gewesen wären, ich sag es einfach ganz krass, dann hätte sie wahrscheinlich jetzt schon ihr Kind verloren. Sie wäre wahrscheinlich nicht im Krankenhaus, sie hätte auf der Straße gesessen und ich will mir gar nicht noch mehr ausmalen, was da passiert wäre."

Manal braucht dringend Bettruhe. Trotzdem musste sie bereits am Freitag am Lageso Schlange stehen. Nach acht Stunden warten hieß es dann – bitte am Montag wiederkommen, dann prüfe man, ob ein Platz in einer Unterkunft frei sei.

O-Ton Syrischer Flüchtling

"Ich habe meine Probleme der Sachbearbeiterin erzählt, aber die meinte, ich muss warten wie die Anderen."

Nadine versucht jetzt, dass die Schwangere als Härtefall akzeptiert wird und dann schneller an die Reihe kommt. Das muss jetzt eine ehrenamtliche Hebamme der Caritas-Krankenstation klären. Sie erzählt, dass die Hürden vom Lageso für Härtefälle viel zu hoch seien.

O-Ton Simone Logar, Ehrenamtliche Hebamme

"Es kommt immer wieder zu Situationen wo ich schwangere Frauen weg schicken muss, wo ganz klar wäre, die haben Bettruhe, die müssen sich schonen. Und die müssen hier, so hart es ist weil sie in der – ich sag immer – in der ‚Lageso-Welt‘ kein Härtefall sind, sich ganz normal weiter anstellen. Woche für Woche, Tag für Tag."

Pro Tag werden die schlimmsten Krankenfälle zwar gesammelt, aber erst am nächsten Tag wird entschieden, wer als Härtefall ausgewählt wird – und das sind nur ganz wenige.

O-Ton Simone Logar, Ehrenamtliche Hebamme

"Ich bin seit Mitte August hier wo ich immer wieder versuche, irgendwie die Stellen anzuschreiben, anzurufen, die dafür verantwortlich sind, weil das kann man medizinisch teilweise nicht verantworten, was wir hier tun."

Es ist Abend vorm Lageso. Für Vicky Baxter und andere Ehrenamtliche von der Bürgerinitiative "Moabit hilft" fängt jetzt erst der Stress an. Das Amt hat geschlossen, aber die Probleme bleiben. Es kommen ständig Flüchtlinge, die noch nicht registriert sind und jetzt nicht wissen wohin. Vicky erhält einen Anruf von einem Bürger, der obdachlose Flüchtlinge entdeckt hat. Wir gehen mit ihr hin. Die Flüchtlinge sind gerade nicht da, aber ihre Habseligkeiten unter der Brücke.

O-Ton Vicky Baxter, Ehrenamtliche "Moabit hilft"

"Berlin ist eine Schande für die deutsche Regierung als Hauptsitz. Hamburg kriegt das geregelt, München, Passau, alle anderen. Und Berlin? Das ist peinlich. Mehr kann ich dazu nicht sagen. Das ist einfach peinlich."

Um 22 Uhr macht sich die Stadträtin Sabine Smentek ein Bild von der Lage. Sie prangert seit Monaten die Zustände beim Senat an – vor allem, was den Schutz der Kinder betrifft, für den sie zuständig ist.

O-Ton Sabine Smentek (SPD), Bezirksstadträtin Berlin Mitte

"Ich habe ja dem Sozialsenator von Berlin, Herrn Czaja, zwei Briefe geschrieben und in dem einen Brief habe ich geschrieben, dass ich jedes private Unternehmen, dass für eine solche Wartesituation verantwortlich wäre, zumachen könnte bzw. verbindliche Auflagen erteilen könnte, damit hier nicht Kinder auf der Straße stehen und liegen und so lange warten müssen. Dass man Kinder vor einer Behörde schützen muss, hat der Gesetzgeber nicht vorgesehen."

Um ein Uhr nachts kommt diese Familie, um sich anzustellen. Das Lageso hatte sie zunächst in einem Hostel untergebracht.

O-Ton Wolfram Geisenheyner, Ehrenamtlicher "Moabit hilft"

"Die sind mittlerweile 12 Tage obdachlos. Der Hostel-Gutschein war für knapp einen Monat ausgestellt, ist jetzt am 4.11. abgelaufen. Und seitdem bemühen sie sich jetzt hier eine Verlängerung zu erreichen."

Um zwei Uhr kommen immer mehr Frauen mit Kindern, um in der Kälte zu warten. Das beheizte Zelt steht leer, aber sie dürfen nicht rein. Vier Uhr morgens – erneut kommt es zu unerträglichen Szenen – gefährliches Gequetsche durch die Absperrung. Polizei und Sicherheitskräfte haben es nicht mehr im Griff. Erst als dieser syrische Flüchtling aus Aleppo spontan eingreift, klappt es. Wieder müssen sie rennen, um nicht obdachlos oder ohne Geld zu sein – und das in Deutschland.

Abmoderation: Übrigens hatten weder der Berliner Sozialsenator noch der Regierende Bürgermeister Zeit für ein Interview.

Beitrag von Caroline Walter und Christoph Rosenthal