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- Streit um Sicherungsverwahrung – Täter verlangen Freilassung

Die Justiz setzt seit Jahren immer mehr auf die Sicherungsverwahrung für gefährliche Rückfalltäter. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat deren rückwirkende Verlängerung als Verstoß gegen die Menschenrechte eingestuft. Die deutsche Politik muss sich neu aufstellen.

Ein Sexualstraftäter, der nach abgesessener Strafe freikommt, rückfällig wird und sich erneut an Opfern vergeht – solche furchtbaren Fälle sind passiert und sie habenÄngste ausgelöst. Darum befürworten viele die sogenannte Sicherungsverwahrung. Dabei können Straftäter vorbeugend in Haft behalten werden, wenn man glaubt, sie könnten nach Absitzen ihrer Strafe vielleicht erneut ein Verbrechen begehen. Doch genau das ist rechtlich höchst umstritten. Vor allem seitdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Deutschland wegen der Sicherungsverwahrung eine Ohrfeige verpasst hat. Susanne Opalka und Norbert Siegmund.

Justizvollzugsanstalt Schwalmstadt in Hessen. Seit Jahren sitzt er hier in Haft: der 71-jährige Wolfgang Künzel. Längst hat der ehemalige Serieneinbrecher seine Strafe abgesessen. Doch Künzel bleibt eingesperrt – rein vorsorglich - in sogenannter Sicherungsverwahrung.

Denn trotz verbüßter Strafe gilt er weiterhin als gefährlich. Obwohl er sich hinter Gittern als Kunstmaler einen Namen gemacht hat und für eine Ausstellungseröffnung sogar raus durfte. Und obwohl Künzel mittlerweile wegen Arthrose im Rollstuhl sitzt. Und das schon seit zweieinhalb Jahren. Er sei zu Einbrüchen gar nicht mehr fähig, meint Künzels Anwältin. Dennoch bekommt sie ihn seit Monaten nicht frei.

Alexandra Rittershaus, Verteidigerin
„Das ist grob rechtsstaatswidrig, menschenrechtswidrig, grundrechtswidrig, verfassungswidrig, weil ganz objektiv gesehen keine Not besteht, ihn so zu verwahren, wie er verwahrt wird.“

Trotz Rollstuhls noch immer gefährlich? Laut psychiatrischem Prognose-Gutachten scheinen Künzels gesundheitlichen Probleme – wörtlich – :

Zitat
„...bei mittlerweile 80-prozentiger Schwerbehinderung unstrittig zu sein.“

Dennoch hält der Gutachter weitere Taten des Ex-Einbrechers für wahrscheinlich.

Zitat
„Selbst wenn man annimmt, dass der Proband auch in Freiheit ganz oder zumindest überwiegend auf den Rollstuhl angewiesen sein würde, verbleiben ihm durchaus Möglichkeiten anderweitiger krimineller Betätigung.“

Zum Beispiel - so die Staatsanwaltschaft – käme hier zum Beispiel PC-Kriminalität in Frage. Obwohl Künzel gar nichts von Computern versteht. Rechtlich absurd, klagt seine Anwältin, weil ohne jeden Zusammenhang mit dem früheren Urteil.

Alexandra Rittershaus, Verteidigerin
„Also es ist nicht bis ins Detail vergleichbar mit Guantanamo, aber so die grundsätzliche Situation, dieses Rechtlose, das würde ich dem gleichsetzen: das Rechtlose.“

Das US-Lager Guantanamo, in dem hunderte Menschen eingesperrt sind. Rein vorsorglich. Auch ohne handfeste Beweise des Terrors verdächtigt. Ein Vergleich, mit dem Kritiker provozieren. Doch nun steht auch Deutschland international am Pranger - wegen seiner Sicherungsverwahrung.

Unlängst verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die Bundesrepublik, einen Sicherungsverwahrten freizulassen. Grundlage: Die Europäische Menschenrechtskonvention, die dem Recht auf Freiheit hohen Wert beimisst. Danach dürfen verurteilte Straftäter eingesperrt werden oder Tatverdächtige in Untersuchungshaft. Doch Haft allein zwecks Vorbeugung ist ein Verstoß gegen die Menschenrechte – entschied der Gerichtshof auch mit der Stimme der deutschen Vertreterin, der ehemaligen Richterin am Bundesverfassungsgericht, Renate Jaeger.

Renate Jaeger, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
„Die Präventionshaft ist nach der Konvention nicht vorgesehen. Das bedeutet: Rein generalpräventive Gründe, das heißt, der Schutz der Bevölkerung vor der Gefährlichkeit bestimmter Menschen, ist als solcher kein Haftgrund.“

Auf Freiheit geklagt hatte er: Reinhard M., in den 80er Jahren wegen versuchten Raubmordes zu Gefängnis verurteilt und anschließender Sicherungsverwahrung. Die ist damals gesetzlich auf maximal zehn Jahre befristet. Doch nachdem 1998 das Gesetz verschärft wird, bleibt er viele weitere Jahre eingesperrt. Diese Freiheitsentziehung - so der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – war nicht mehr gedeckt durch das damalige Straf-Urteil, sondern eine zusätzliche Strafe für einen, der für seine Taten längst bezahlt hat.

Folge: Bundesweit rund 130 sogenannte Altfälle können sich auf das Straßburger Urteil berufen und ebenfalls Freilassung verlangen – allesamt von Gutachtern als gefährlich eingestuft. Darunter Sexualstraftäter.

Getrieben von der berechtigten Angst vieler Bürger, spielt die Politik auf Zeit und hofft, dass das Bundesverfassungsgericht das Straßburger Urteil korrigiert. Doch das ist unwahrscheinlich.

Die ehemalige Verfassungsrichterin ist überzeugt: Laut Menschenrechtskonvention werden Deutschlands Gerichte bald viele Sicherungsverwahrte freilassen müssen.

Renate Jaeger, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
„Die Konvention ist geltendes Gesetzesrecht. Und die Gerichte müssen das beachten. Und das hat auch das Verfassungsgericht verschiedentlich betont. Also muss das Gesetz ‚Konvention‘ beachtet werden. Und da dieses Gesetz auf einer völkerrechtlichen Vereinbarung beruht, kann das Parlament das Gesetz nicht einfach abändern.“

Heißt: Gerichte haben kaum Spielraum. Und der Gesetzgeber hat ihn auch nicht. Er könnte die gesetzlichen Höchststrafen verlängern, so dass sich Vorbeugehaft erübrigt. Oder er muss über Alternativen nachdenken – ohne Gefängnis: Rund-um-die-Uhr-Überwachung durch die Polizei beispielsweise. Oder die elektronische Fußfessel. Und das betrifft letztendlich nicht nur 130 Altfälle. Es könnte auf Dauer jeden von bundesweit rund 500 Sicherungsverwahrten betreffen. Denn ihre Strafe nach der Strafe beruht nur auf Prognosen. Und die sind, wie der Fall des behinderten Ex-Einbrechers Wolfgang Künzel zeigt – fragwürdig und menschenrechtlich problematisch.

Renate Jaeger, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
„Muss ich beweisen, dass ich unschuldig bin, oder muss der Staat beweisen, dass ich gefährlich bin? Es ist sehr schwer für irgendeinen von uns zu erfüllen, dass wir nicht potentiell gefährlich sind. Es gibt zwar noch keine Anknüpfungspunkte, aber wir sind vielleicht nur nicht in die Situation gekommen, dass wir eine Straftat begehen.“
KONTRASTE
„Das heißt: auch Sie?“
Renate Jaeger, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
„Auch ich. Natürlich.“
KONTRASTE
„Auch Sie hätten Schwierigkeiten, das zu beweisen, dass Sie nicht gefährlich sind?“
Renate Jaeger, Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte
„Ich hätte sicher keine Schwierigkeiten, ein Gutachten zu bekommen. Aber ob das Gutachten mit der Wirklichkeit übereinstimmt? Diese Prognose kann gar keiner stellen.“

Die Bundesjustizministerin will noch im Juni einen Gesetzentwurf vorlegen. Ein Interview dazu bekommen wir nicht. Sie muss den Spagat schaffen zwischen Sicherheit und Freiheit – streng beobachtet vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.



Autoren: Susanne Opalka und Norbert Siegmund