Abwehrende Hand, Quelle: rbb

- "Nein sagen" reicht nicht - Vergewaltigungsopfer fordern neues Strafrecht

Wann wurde eine Frau vergewaltigt? Nur weil sie "Nein" sagt oder der Mann ihr die Kleider vom Leib reißt, gilt sie nach deutschem Strafrecht noch lange nicht als Opfer einer Vergewaltigung. Absurd, aber das Gesetz verlangt körperliche Gewalt und Gegenwehr. Angst zählt nicht - bis heute. Jetzt fordern Experten eine Reform des Vergewaltigungsparagraphen im Strafrecht. Kritiker warnen indes vor einem Anstieg der Falsch-Beschuldigungen.

Ein sensibles Thema: Frauen, die vergewaltigt wurden. Oft müssen sie sich überwinden, um zur Polizei zu gehen und ihren Peiniger anzuzeigen. Doch selbst wenn sie es wagen, ist dann noch lange nicht klar, dass sie auch vor dem Gesetz als vergewaltigt gelten. Was viele nicht wissen: Nach deutschem Recht reicht es nicht aus, wenn eine Frau „Nein“ zu ihrem Vergewaltiger sagt – es muss tatsächlich erst Schlimmeres passieren. Lisa Wandt und Markus Pohl zeigen, was das für die Opfer bedeutet und warum Experten dringend eine Reform des Strafrechts fordern.

Chantal ist erst 15, als sich ein mehrfach vorbestrafter Mann an ihr vergeht. Gegen ihren Willen. Sie geht zur Polizei und zeigt den Täter an. Vor dem Landgericht Essen kommt es zum Prozess wegen Vergewaltigung. Doch Chantals Peiniger wird bereits am ersten Verhandlungstag freigesprochen.

Johannes Hidding
Landgericht Essen

„Es war hier nicht so, dass man der jungen Frau nicht geglaubt hat, im Gegenteil. Der Tatablauf ist weitgehend unstreitig gewesen. Hier ist es so, dass aufgrund der rechtlichen Vorgaben des Gesetzes eine Verurteilung nicht möglich war.“

Wie kann das sein? Und was genau ist passiert?

In diesem Haus in Marl besucht Chantal an einem Herbstabend eine Bekannte ihrer Mutter. Dort sind auch deren Ex-Freund Roy Z. und eine weitere Bekannte. Der Mann hat bereits viel getrunken und gekifft. Chantal kennt ihn nur aus Erzählungen als gewalttätig und aggressiv. Nach einiger Zeit schickt er die beiden älteren Frauen aus der Wohnung. Und Chantal bleibt mit ihm allein zurück. Als Roy Z. sie auffordert, sich auszuziehen, ist Chantal geschockt. Sie will das nicht, und sagt ihm das auch. Doch Roy Z. bedrängt sie weiter, eingeschüchtert lässt die 15-jährige den kräftigen Mann schließlich gewähren.

Rechtsanwalt Dirk Brockpähler hat Chantal als Nebenkläger vor Gericht vertreten, sie selbst will sich nicht mehr zu der Tat äußern.

Dirk Brockpähler
Nebenkläger

„Sie hatte für sich subjektiv das Empfinden: Wenn ich mich jetzt wehre, wenn ich jetzt den Mund aufmache, wenn ich ihn wegstoße oder sonst irgendwas, dann
verprügelt er mich, schlägt mich zusammen und holt sich dann doch was er will. Und sie hat im Kopf gehabt: Besser nicht wehren, über sich ergehen lassen, damit nicht noch etwas Schlimmeres passiert, in Anführungsstrichen, außer die Vergewaltigung.“

Wie real diese Befürchtung ist, zeigt sich nach dem Übergriff. Noch am selben Abend verprügelt Roy Z. seine Ex-Freundin schwer. Er wird dafür wegen Körperverletzung verurteilt. Die Tat an Chantal aber bleibt ungesühnt. Der Grund: das deutsche Strafrecht.

Laut Paragraf 177 liegen sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung nur vor:
- wenn der Täter Gewalt anwendet
- wenn er mit Gefahr für Leib und Leben droht
- oder wenn er eine schutzlose Lage des Opfers ausnutzt.

Die aber lag rein rechtlich bei Chantal nicht vor. Sie hätte in dem Mehrfamilienhaus ja um Hilfe rufen können, so das Gericht in seinem Urteil.

Beim Bundesverband der Frauennotrufe kennt man Hunderte solcher Fälle. Die Anwältinnen und Beraterinnen stoßen immer wieder auf das gleiche Schema.

Christina Clemm
Anwältin für Strafrecht

„Ganz deutlich hat die Geschädigte nein gesagt und mehrfach auch gesagt, ich will auf gar keinen Fall, und trotzdem hat er die Handlung fortgesetzt und da wurde dann eben auch gesagt, das wird nicht von 177 gedeckt.“

Meist kommt es erst gar nicht zum Prozess, sondern die Staatsanwaltschaft stellt das Verfahren ein.

Katja Grieger
Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe

„Man kann da nicht von Einzelfällen reden, von Verwirrungen, Irrungen einzelner schlecht arbeitender Menschen in der Justiz, sondern dass ist systematisch zum Beispiel in Fällen, wo zu wenig oder keine Gewalt angewendet wurde, in dem Schreiben dann drinsteht: Das, was Ihnen da passiert ist, ist vielleicht moralisch verwerflich und ich persönlich finde das auch schlimm, aber ich muss dieses Verfahren einstellen, weil es ist in Deutschland nicht strafbar.“

Zitat aus einem Einstellungsbescheid:

„Die Vornahme sexueller Handlungen allein gegen den Willen einer Person hat der Gesetzgeber nicht unter Strafe gestellt.“

Eine systematische Schutzlücke im Strafrecht. Die Staatsanwältin Dagmar Freudenberg ist Vorsitzende des Deutschen Juristinnenbundes. Sie fordert, den Paragraphen zu verschärfen. Eine Vergewaltigung soll nicht erst vorliegen, wenn der Täter Gewalt anwendet oder damit droht – sondern schon dann, wenn er sich wissentlich über den Willen des Opfers hinwegsetzt.

Dagmar Freudenberg
Deutscher Juristinnenbund

„Es führt einfach zu mehr Klarheit und zu mehr Sicherheit. Es führt dazu, dass die Menschen sich normalerweise sicher sein können, wenn sie sagen nein, dann wird das auch verstanden und dann gilt das auch. Und sie müssen nicht noch zusätzlich das Nein verstärken durch irgendwelche Handlungen oder durch irgendwelche Hilferufe, sondern das gilt dann. Wenn jemand das dann trotzdem nicht akzeptiert, dann wissen sie, sind sie geschützt, weil der bestraft wird.“

Der Rechtsanwalt Jan Bockemühl sieht darin eine Aushöhlung des Vergewaltigungs-Begriffs. Er vertritt Beschuldigte in Sexual-Prozessen und hält die bestehenden Gesetze für absolut ausreichend.

Jan Bockemühl
Vorsitzender Initiative bayerischer Strafverteidiger

„Wenn es hier zu einem Geschlechtsakt kommt, der nicht gewollt ist, ist es nach meinem Dafürhalten tatsächlich zumindest eine Beleidigung, das mag ein relativ geringer Strafrahmen sein. Nicht alles was möglicherweise jemandem unangenehm ist, muss auch mit dem starken Schwert des Strafrechts sanktioniert werden.“

KONTRASTE

„Das heißt das Nein allein definiert noch keine Vergewaltigung?“

Jan Bockemühl
Vorsitzender Initiative bayerischer Strafverteidiger

„Das meine ich schon, ja. Das wäre ein sehr, sehr weiter Begriff der Vergewaltigung, der jedenfalls dem deutschen Strafrecht und dem deutschen Strafrechtsanwender erstmal sehr fern wäre.“

Demnach wäre auch dieser reale Fall einer jungen Frau nur eine Beleidigung. Ein guter Freund, der im Nebenraum schläft, legt sich nachts einfach zu ihr ins Bett, von den Geräuschen wird sie wach.

Christina Clemm
Anwältin für Strafrecht

„Und dann merkt sie, dass er offenbar ihre Unterhose schon ausgezogen hat, in dem Moment als sie noch geschlafen hat, und dann ganz schnell in sie eindringt von hinten. Dann wehrt sie sich, dann ist sie geschockt erstmal, dann wehrt sie sich, schubst ihn weg und er hört auf. Er hat keine Gewalt angewendet, er hat auch nicht gedroht mit irgendetwas und er hat ja dann aufgehört in dem Moment, in dem sie sich gewehrt hat. Das ist nicht strafbar.“

Allerdings: Oft ist es nicht die Gesetzes-, sondern die Beweislage, an der Anklagen wegen Vergewaltigung scheitern.

Meist steht Aussage gegen Aussage, so wie im Prozess gegen Jörg Kachelmann. Der Moderator wurde schließlich freigesprochen, auch weil die Klägerin sich in Widersprüche verstrickte. Kritiker fürchten, eine Gesetzesverschärfung könnte vermehrt Unschuldige hinter Gitter bringen.

Jan Bockemühl
Vorsitzender Initiative bayerischer Strafverteidiger

„Wenn der Vergewaltigungs-Paragraph wie gefordert so weit gefasst werden sollte, ist es natürlich auch wesentlich einfacher, ein solches Szenario für ein mutmaßliches Opfer zu schildern, als dass sie konkrete Beispiele schildern müsste, wo es zu Gewalthandlung gekommen ist, wie sie es jetzt schildern müsste. Das kann natürlich dazu führen, dass es zu mehr falschen Verurteilungen auch kommen wird. Das ist meine Befürchtung.“

Es bleibt ein Dilemma, objektiv über ein Geschehen zwischen zwei Menschen zu urteilen, bei dem es meist keine Zeugen gibt. Die Unschuldsvermutung für den Angeklagten steht deshalb auch für Rechtsanwältin Clemm nicht zur Debatte.

Christina Clemm
Anwältin für Strafrecht

„Natürlich wird es Beweisschwierigkeiten geben, die gibt es jetzt auch. Aber es geht um die Fälle, bei denen ganz klar und auch dem Täter klar ist, sie will nicht, sie will es nicht, und ich mache das jetzt, obwohl ich weiß, dass sie das nicht möchte.“

Auch Europa drängt darauf, solche Fälle vom Gesetz zu erfassen. In der sogenannten Istanbul-Konvention des Europarats von 2011 heißt es, „nicht einverständliche sexuell bestimmte Handlungen“ seien unter Strafe zu stellen.

Deutschland hat dieses Dokument unterzeichnet. Die rechtspolitische Sprecherin der Union im Bundestag fordert nun eine zügige Umsetzung.

Lisa Winkelmeier-Becker (CDU/CSU)
MdB, rechtspolitische Sprecherin

„Wir sollten das anstehende Gesetzgebungsverfahren dazu nutzen, diese Regelungslücken im Paragraph 177 zu schließen. Es kann nicht sein, dass bei einem Fall, in dem klar ist, dass das Verhalten des Täters dem Willen des Opfers widerspricht, der Täter ohne Strafe ausgeht und dem Opfer auch noch der Vorwurf gemacht wird, es hätte sich anders verhalten sollen.“

Justizminister Heiko Maas aber ist bis heute untätig. Einen Entwurf zur Reform des Sexualstrafrechts hat sein Haus zwar kürzlich vorgelegt: eine Änderung des Vergewaltigungs-Paragrafen ist darin aber nicht vorgesehen.


Natürlich wollten wir den Bundesjustizminister zu diesem Thema auch persönlich interviewen, aber wir bekamen nur schriftlich die Antwort: Man werde die Sache prüfen.


Beitrag von Lisa Wandt und Markus Pohl