Interview | Anke Domscheit-Berg zu 10 Jahre Piraten - "Die Piratenpartei liegt im Koma"

Fr 09.09.16 | 14:05 Uhr
Anke Domscheit-Berg (Quelle: Imago/Jürgen Heinrich)
Audio: Inforadio | 09.09.2016 | Bild: imago stock&people/ Jürgen Heinrich

Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus vor fünf Jahren waren sie die absolute Überraschung: die Piraten. Mit 8,9 Prozent zogen sie ins Parlament. In aktuellen Umfragen vor dem 18. September sind sie kaum noch messbar. Dafür gibt es gute Gründe, sagt Anke Domscheit-Berg, frühere Landesvorsitzende in Brandenburg.

Frau Domscheit-Berg, die Piraten hatten 2012 noch 35.000 Mitglieder, jetzt sind es noch 12.000. Prominente Ex-Mitglieder wie Christopher Lauer und Martin Delius sagen: Die Piratenpartei ist tot. Glauben Sie das auch?

Ich glaube, die Piratenpartei liegt aktuell im Koma und wird sich auch nicht wieder aus diesem Zustand erholen. Ich weiß es nicht: vielleicht bleibt sie auch noch zehn Jahre im Koma, aber es gibt derzeit keinen aktiven, guten Zustand mehr.

Was ist falsch gelaufen?

Dafür ist keine eindimensionale Erklärung möglich. Ein Problem war der große Erfolg am Anfang. Die Partei ist dadurch zu schnell gewachsen und in dieser kurzen Zeit konnten Strukturen in einer so jungen Partei gar nicht mitwachsen. Auch die Ressourcen waren überhaupt nicht da, denn die staatliche Finanzierung kommt ja immer mit ein, zwei Jahren Zeitverzögerung. Aber die Piratenpartei hatte sich 2009 in ein paar Monaten schon verzehnfacht und 2011 noch mal verdreifacht. Da wurden dann aus wenigen Tausend Mitgliedern auf einmal über 35.000 und das als Organisation zu managen, ist einfach nicht gelungen.

Man hat sich in Selbstausbeutung tot gearbeitet. Man hat es nicht hingekriegt, den enormen Zustrom neuer, sehr vielfältiger Mitglieder so zu regeln, dass beispielsweise eine vernünftige Kommunikation miteinander möglich war. Da kamen eben auch viele Trolle in die Partei, es gab eine unfassbare Kommunikationskultur, sehr viel Sexismus und Frauenfeindlichkeit. Deshalb hat man sich am Ende nicht mehr ausreichend den inhaltlichen Themen widmen können, sondern wurde sehr oft abgelenkt durch Nebendebatten: Da hat sich ein Pirat mit einem anderen Piraten darüber gestritten, welches Wort nun das richtige ist.

Beispielsweise wurde man als Frau extrem angefeindet, wenn man sich als Piratin bezeichnete, denn das war vielen schon zu viel Feminismus. Auch als eine Mailing-Liste für "Piratinnen" aufgesetzt werden sollte, gab es großes bundesweites Entsetzen. Das funktioniert dann halt nicht.

Warum hat die Piratenpartei das nicht in den Griff gekriegt - lag es auch an dem hehren Anspruch, alles gleich transparent, über das Netz und damit auch in der Öffentlichkeit auszutragen?

Ja, es gab diesen großen Wunsch nach Transparenz, der von einer großen Frustration über das bestehende Politiksystem herrührte. Das erklärt, warum viele Protestwähler die Piraten nicht wegen ihres Programms gewählt haben - sondern wegen der Kampfansage "Wir sind die Anderen".

Diesen Erfolg versucht die AfD jetzt mit ganz anderen Parolen. 75 Prozent der AfD-Wähler sagen, dass sie die Partei nicht wegen des Programms wählen, sondern um den anderen Parteien eins auszuwischen. Bei den Piraten war das auch ein bisschen so. Die Piraten hatten also zum einen das Thema Transparenz als auch das Thema politische Partizipation als Schwerpunkt. Beides finde ich nach wie vor extrem wichtig. Beides fehlt nach wie vor in der Politik. Ich würde das gerne auch bei den Linken noch mehr hineintragen. Die Piraten haben es leider nicht geschafft, diese Themen auch intern so umzusetzen, dass dabei kein massiver Schaden angerichtet wird.

Sie kandidieren für die Linkspartei, Martin Delius ist dort nun auch eingetreten. Gibt es da die meisten Überschneidungen?

Ja, das glaube ich schon. Die Analysen von Politikforschern haben ganz klar ergeben: Das Programm der Piratenpartei ist ein linkspolitisches Programm. Viele Mitglieder insbesondere der Restpartei werden sich dabei wahrscheinlich entsetzt abwenden und sagen: "Nein, nein, wir sind sozial-liberal und ein bisschen konservativ." Faktisch war das programmatisch aber gar nicht so. Die Überschneidungen zu linken Themen wie beispielsweise sozialer Gerechtigkeit sind daher nach wie vor sehr hoch. Zum Beispiel beim fahrscheinlosen Nahverkehr oder beim starken Fokus der Piraten auf eine zukunftsorientierte Bildung, was eine gute Sache ist und man auch mehr braucht in anderen Parteien. Aber auch bei der Debatte zum bedingungslosen Grundeinkommen, die natürlich eine Grundfrage sozialer Gerechtigkeit anspricht.

Das Interview mit Anke Domscheit-Berg führte Dörthe Nath für Inforadio. Dieser Text ist eine redigierte Fassung des Gesprächs, das Audio finden Sie oben im Beitrag.

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