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Sendung vom 19.11.1997 - Kant, Hermann

Günter Gaus im Gespräch mit Hermann
Kant

Ihn zu bekehren, wird keiner schaffen

Hermann Kant, geboren 1926, ist ein bedeutender deutscher Schriftsteller, und er war ein hoher Kulturfunktionär der DDR, Präsident des Schriftstellerverbandes. In dieser Funktion gehört er zu den umstrittensten Personen seit der Wende. Es gibt wenige Menschen, die so viel Feindseligkeit auf sich ziehen und an denen sich die Geister so sehr scheiden.

Gaus: Ich zitiere Hermann Kant aus einem Interview 1991, also nach der Wende: „Ich würde niemals wieder irgend eine Art Verbandsfunktionär im Bereich der Schriftstellerei werden. Niemals.“ Was spricht da aus Ihnen vor allem, Herr Kant? Eher Einsicht in begangene Fehler oder eher Bitterkeit über vergebliche Mühen?

Hermann: Sicher beides, denn natürlich weiß ich ganz genau, ich hätte eine ganze Menge vermeiden können an Widrigkeiten, wenn ich die Funktion nicht ausgeübt hätte. Andererseits weiß ich auch, ich hätte einiges mehr beschicken können, wenn ich sie nicht ausgeübt hätte und dann schließlich, dass im Nachhinein sich eine Sache, von der ich meinte, sie sei ganz nützlich für diesen und jene, darstellt, als sei ich da im Hauptvorstand der Tyrannei gewesen. Das kratzt mich natürlich an der Sache ganz schön. Und letzten Endes ist es so, man weiß, man hat noch ein bisschen Zeit, und die soll man dann auch für die Hauptsache selbst nutzen.

Gaus: Sie haben, wir werden darauf noch kommen im Verlauf dieses Interviews, jetzt geantwortet im Sinne von: Vielleicht habe ich manches nicht tun können als Schriftsteller, was ich gerne getan hätte, rückblickend, aber ich beharre darauf, ich habe es gut gemeint. Spricht daraus ein Trotz, weil Sie sagen, was bleibt mir denn übrig, ich kann ja nicht alles verbrennen, was ich getan habe?

Hermann: Auch Trotz gehört in eine Lage, wie die, in der ich bin. Aber nein, es geht mir um doch etwas ganz Grundsätzliches, nämlich: Ich war davon überzeugt, dieser Schriftstellerverband ist eine Einrichtung, von der sehr viele Leute sehr viel hatten, nämlich alle Leute, die an Literatur interessiert waren – ob Leser oder Schreiber. Dies nun im Nachhinein zur Galeere umstilisiert zu erleben, das sagt mir, dann lass doch künftig die Finger davon. Ansonsten ist es natürlich auch ein bisschen blanke Koketterie, weil doch kein Mensch auf die Idee käme, mich erst in ein Amt zu bitten.

Gaus: Als Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR seit 1978, wo später ein Sitz im Zentralkomitee der SED hinzukam, waren Sie ein mächtiger Mann. Aber in Ihrer eigenen Darstellung haben Sie sich fast verwundert gegeben - so habe ich jedenfalls diese Stelle in einem Buch von Ihnen verstanden –, als Stephan Hermlin Ihnen einmal zurief: Du bist ein mächtiger Mann. Haben Sie diese Macht nicht sehen wollen, die Sie haben, wollten Sie sich davon distanzieren durch eine Art gespielte Naivität? Sind Sie kokett umgegangen mit den Möglichkeiten, die Sie hatten?

Hermann: Zunächst mal war die Reaktion von der Tatsache her gesteuert, dass Hermlin es sagte. Hermlin war mir immer so gut wie die wichtigste Person. Von ihm etwas zu hören, dass in meinen Ohren pejorativ klang – ein mächtiger Mann hieß immer einer, der eigentlich mehr oder minder missbraucht, was ihm zur Verfügung steht, das wollte ich nicht sein. Dann hatte ich außerdem mein Personal für diesen Begriff; ich hatte schon ein paar Vorstellungen von mächtigen Leuten und war wirklich verdattert. Ich war verdattert und auch bekümmert. Dann, im späteren Nachdenken über diese Äußerung, habe ich natürlich eingeräumt: Ja, das stimmt, das war positiv wie negativ manchmal schon eine Sache der Macht. Man konnte wohingehen und Krach schlagen, und man konnte anderen Leuten auch ganz gehörig auf den Docht gehen.

Gaus: Schriftsteller, die Sie aus Ihrer Zeit als mächtiger Mann kennen, leugnen nicht, dass Sie manches Gute getan haben, sagen aber auch, er war gerne mächtig, hat sich in der Nähe der Macht, der noch größeren Macht wohlgefühlt, und er hat aber immer so getan, als ob er gar nicht mächtig sein wollte. Das heißt, dass, was Sie jetzt wiederum gesagt haben, ist das, was – wie ich aus der Vorbereitung auf dieses Interview weiß – vielen an Ihnen missfällt. Weil sie sagen: Er tut so als ob, aber in Wahrheit hat er sich gerne bei der Macht aufgehalten.

Hermann: Das ist nicht so ganz richtig. Ich habe doch sehr bald gemerkt, dass die Macht es gar nicht so gern hatte, dass ich mich bei ihr aufhielt. Ich war ja doch immer ein störender Aber-Sager bei der Ausübung der Macht.

Gaus: Aber Sie haben am Ende ausgeübt und funktioniert.

Hermann: Moment. Ich sah doch nicht in den Mächtigen mir entgegengesetzte Leute. Das konnte nicht einmal bei Ulbricht der Fall sein. Bei Honecker schon gar nicht. Das waren für mich keine mir entgegengesetzten Leute, sondern es waren Leute, an anderen Enden und Ecken dieser Gesellschaft, natürlich mit Macht ausgestattet, ganz anderer, als ich sie besaß. Aber das, was in diesen Kommentaren aufscheint, deutet nach meiner Ansicht an, ich hätte mich mit den falschen Gesellen freundlich gestellt, um wohl zu leben. Das ist alles Blödsinn. Ich habe, das ist sofort einzuräumen, es manchmal genossen, etwas richten zu können.

Gaus: Aber Sie sagen, die Macht als solche, das war mir einerlei.

Hermann: Nein, das sage ich nicht. Ich habe nicht über sie nachgedacht. Ich bin nicht zur Abstraktion meiner Situation vorgedrungen in diesem Punkte, sondern ich habe gemacht, was nötig war, was mir nötig schien, habe da entweder Widerstände oder Beifall bemerkt. Das war’s.

Gaus: Stimmt es, dass Sie einmal selbstkritisch von sich gesagt haben, Sie verfügten über die Gabe einer entsetzlichen Beredsamkeit?

Hermann: Ja, das ist ein leider sehr zutreffendes Wort. Ich glaube, ich habe es im Zusammenhang mit einem Kranken gesagt, aber es stimmt ja auch für den Gesunden. Es ist schon so, und ich habe beim Schreiben zum Beispiel ein Stadium, das nenne ich das Formulierium tremenz, das ist, wenn ich alles und jedes aber noch etwas besser sagen möchte, als man es gemeinhin sagt. Ob das nun unbedingt ein Nachteil ist für jemanden, der mit Wörtern zu tun hat, weiß ich nicht. Aber es ist so. Für andere ist es entsetzlicher als für mich. Und manchmal konnte ich mich gar nicht hören.

Gaus: Bei welchen Gelegenheiten konnten Sie sich nicht hören?

Hermann: Zum Beispiel jetzt. Ich komme darauf, als einem Tiefpunkt meines Werdeganges. Ich weiß noch ganz genau, dass ich in dieser berühmt, berüchtigten Verhandlung in dem Roten Rathaus...

Gaus: ... 1979 ...

Hermann:... ja, dass ich mir da zuhörte, und dass ich es als unangemessen und unangenehm empfand, welche Töne ich anschlug. Ich hätte, ich wollte – das sind nun so fromme Wünsche –, aber ich hätte schon damals lieber einen sachlicheren Ton geführt, und das Wohlgefallen an der treffenden, im doppelten Sinne treffenden Formulierung war mir verdächtig in dem Moment, wo ich diese Formulierung benutzte.

Gaus: Dies Interview ist in den ersten drei, vier Fragen, die ich jetzt gestellt habe, und in Ihren ersten Antworten wiederum gekennzeichnet von einer Beredsamkeit, wofür ich dankbar bin, ein beredter Interviewpartner ist besser als ein wortkarger. Aber könnte es sein, dass Sie immer auch der Gefangene Ihrer Beredsamkeit sind, und dass darin ein Sich-Verbergen und ein Ausweichen vor Wahrheiten liegt? dass dann, wenn Sie sagen, wenn ich jetzt nachdenke, über das, was ich seinerzeit 1979, als es um den Ausschluss von neun missliebigen Schriftstellern aus dem Schriftstellerverband der DDR ging, dass dieses jetzt eine kleidsame Beredsamkeit ist? Gibt es irgendwann einen Hermann Kant, der sagt, ganz ohne Beredsamkeit: Das bedaure ich?

Hermann: Ja, den gibt es. Aber ich bin jemand, der ein bisschen zu sehr von den Echos weiß, auf das, was er gesagt hat, und darauf nicht immer scharf gewesen ist.

Gaus: Was heißt das?

Hermann: Das heißt: Wenn ich eine Sache heute kritisch anfasse, höre ich entweder, er klagt, oder: er ist ein Betonkopf und hat immer noch nichts begriffen. Beides geht häufig an der Sache ganz vorbei. Aber zu dieser Beredsamkeit will ich mich nach wie vor bekennen. Sie ist sicher manchmal ein Schutz, aber sie ist ja, wie wir alle wissen, natürlich nur ein brüchiger Schutz.

Gaus: Zur Person Hermann Kant: Geboren am 14. Juni 1926 in Hamburg als Sohn eines Gärtners. Der Vater wird dann Gartenarbeiter bei der Stadt. Später – 1933 – wird er von den Nazis entlassen, weil er nicht aus politischer Überzeugung, sondern aus Freundschaft für seinen kommunistischen Kollegen eingetreten ist, den die Nazis maßregelten. Der Vater hat dann die Familie als Straßenfeger durchgebracht. Hermann Kant lernt Elektriker. Ein Handwerk, in dem er noch die Gesellenprüfung ablegt, bevor er kurz vor Kriegsende Soldat wird. Sie, Herr Kant, geraten 1945 in polnische Kriegsgefangenschaft, in der Sie in einem Lager in Warschau bis zum 31. Dezember 1948 bleiben. Das heißt, 1949 sind Sie frei. Später, in der DDR, 1977, haben Sie Ihren international wohl berühmtesten, in Teilen autobiografischen Roman geschrieben über eben eine solche Gefangenschaft – Titel „Der Aufenthalt“. Inhalt: Ein junger deutscher Soldat wird mit einem Kriegsverbrecher verwechselt und mit solchen zusammengesperrt, bis der Irrtum sich aufklärt. War die Wurzel Ihres starken politischen Engagements, das Sie gleich nach Heimkehr nach Deutschland 1949 durch den Eintritt in die SED bekundeten, zunächst nach dieser Erfahrung eine antifaschistische?

Hermann: Ja, zweifellos.

Gaus: Eher antifaschistisch als kommunistisch?

Hermann: Ja, durchaus. Ich bin ja aus dem Gefängnis in Warschau in dieses Lager in Warschau gekommen, im ehemaligen Ghetto, und habe mich sofort betätigt als jemand, der nun anfängt zu reden. Aber es war ein antifaschistisches Reden. Man saß doch nicht folgenlos in diesem Geröll. Natürlich und erst im Laufe dieser Zeit kamen Erinnerungen an etwas Früheres, Verwandtschaft etc. Nein, ich war ein Antifaschist und bin deswegen umso entsetzter gewesen, als man später hierzulande mit diesem verordneten Antifaschismus daherkam.

Gaus: Was hat Sie vom Antifaschisten weitergebracht oder nicht weitergebracht, sondern in eine bestimmte Richtung gebracht zum Kommunisten?

Hermann: dass ich aus der Ablehnung dessen, was ich inzwischen zur Kenntnis nehmen musste als durch meinesgleichen geschehen, ins Fragen überging: Wie kommt das zu dem? Und dass ich anfing nachzulesen und auch das Glück hatte, an ein paar sehr gescheite, übrigens außerordentlich beredte Leute zu kommen, die mir Zusammenhänge – ein Hauptwort meines jetzigen Daseins, meines schriftstellerischen vor allem – erklärten. Ich habe irgendwo mal eine autobiografische Auskunft geben müssen, da habe ich gesagt: Ich habe es einfach gehabt.

Gaus: Wodurch hatten Sie es einfach?

Hermann: Weil die Umstände derartig pressten und zwangen. In einem Buch steht zu lesen, Hundekuchen ist sozusagen dem Schreiben förderlich – so etwa dem Gedanken nach. Ich habe tatsächlich eine Weile von Hundekuchen leben müssen, und ich bin dann dahintergekommen, dass andere Leute leider gar keinen Hundekuchen hatten. Man hat ihnen alles entzogen. Darüber wollte ich nun ein bisschen Bescheid kriegen. Und das habe ich versucht herauszufinden.

Gaus: Rechtfertigt sich für Sie immer noch Stalinismus, weil er antifaschistisch war?

Hermann: Das muss ich zunächst auch einmal ganz persönlich nehmen. Wenn es nach den Taten gegangen wäre, als deren Begleiterscheinung ich in Polen in Erscheinung trat, dann hätte man mich ja ohne weiteres umbringen dürfen. Das also war bei diesen Millionen Toten eigentlich erlaubt. dass man es nicht getan hat, hat mich sehr ins Stutzen gebracht. Ich habe darüber nachgedacht. Jener Stalin war der Oberste von all denen, die mich gefangen hielten. Er hat nicht verhindert, dass sie mich nicht umgebracht, sondern stattdessen geheilt haben. Ich war ja ein sehr versehrter Mann; man hat mich aus dem Beinahe-Tod wieder ins Leben geholt. Auch das war für mich natürlich mit der Überschrift „Stalin“ versehen. dass dann anderen Leuten viel, viel Schlimmes geschehen ist unter demselben Namen, habe ich im Laufe der Zeit zur Kenntnis nehmen müssen und mich dementsprechend auch davon abgewandt. Aber ich kann es nicht so einfach machen.

Gaus: Ihr erster Roman „Die Aula“, 1965 erschienen, beschreibt die Entwicklung von Studierenden an einer Arbeiter- und Bauern-Fakultät, einer Einrichtung, mit der die junge DDR nach 1949 eine Bildungsschicht aus Söhnen und Töchtern bisher unterprivilegierter Klassen der Gesellschaft heranziehen wollte. Sie selber, Herr Kant, waren ein solcher Student in Greifswald. Danach haben Sie Germanistik an der Ostberliner Humboldt-Universität studiert, waren eine Zeit lang Assistent und Parteisekretär der SED am Institut für Germanistik an der Humboldt-Universität. Dann haben Sie als Redakteur gearbeitet, und schließlich wurden Sie von Berufs wegen Schriftsteller. Sie wurden auch bald von Berufs wegen im Schriftstellerverband ein Kulturfunktionär. Sie wurden als Schriftsteller immer berühmter, auch international, als Kulturfunktionär stiegen Sie immer höher, wurden immer wichtiger. Waren Sie immer ganz sicher, was Ihr Hauptberuf war?

Hermann: Wenn ich vor der Rentenbehörde erklären sollte, würde ich sagen, es war ja ganz einfach. Die Ämter waren Ehrenämter. Das war ich nicht von Berufs wegen. Aber natürlich haben sie mich derartig eingesackt, dass manchmal die Gefahr da war, dass für den Schreiber nichts mehr übrig blieb. Da habe ich mich sehr rasch vorgesetzt: Wenn dieser Konflikt sich mehr als einmal meldet, dann entscheidest du dich auf jeden Fall für den Schriftsteller.

Gaus: Das haben Sie aber nicht getan.

Hermann: Ich habe es nicht getan. Ich habe einige kräftige oder zarte – das kann man halten, wie man mag – Ansätze gemacht und immer diese blöde, absolut überhebliche Ausrede gefunden: Wenn du das lässt, dann pfuschen die hier rum. Der Verband ist vor meinen Augen wirklich zurückgekippt in eine andere Geschichtskiste, nachdem ich ihn eine Weile verlassen hatte. Und da bin ich wieder dazugeeilt, natürlich in der Meinung, ich bin der Retter. Ich war kein Retter.

Gaus: Aber Sie haben sich dafür gehalten?

Hermann: Ja, ich habe dann eine Weile gedacht, das bin ich.

Gaus: Sie hängen an einer Ideologie, sage ich jetzt, deren Parteibild sagt, Disziplin, Parteidisziplin tut Not, ist notwendig, anders geht es nicht. Und Sie haben das eben wieder für mich, für mein Verständnis aus Ihren Antworten so gesagt. Könnte es sein, dass diese Art von Parteidisziplin, die Sie geübt haben, praktiziert haben, der Sache, für die Sie es taten, weniger bekömmlich war, als es eine Disziplinlosigkeit, ein Widerspruch, mehr als Sie ihn geleistet haben, ein öffentlicher Widerspruch, ein Rücktritt, von mir aus ein dramatischer Rücktritt, getan hätten? Haben Sie der Sache mit der Überzeugung und vielleicht auch mit dem Sich-Selbst-Einreden: „Ich muss Disziplin üben!“ eher geschadet, als Sie mit Disziplinlosigkeit ihr genützt hätten?

Hermann: Das glaube ich nicht. Erstens gab es genügend disziplinlose Leute. Da musste ich nicht auch noch dazukommen. Es war eigentlich weniger die Regel, dass unter den Schriftstellern nun einer kam und sagte: Ohne Disziplin kommen wir hier nicht klar. Es ist schon wahr, Sie haben völlig Recht, es hat natürlich diese Auffassung von Disziplin in der Tat mit allen möglichen Entscheidungen zu tun. Aber ich kann nach wie vor – natürlich kann ich jetzt billig sagen, ach hättest du doch das und dies... – aber darum kann es Ihnen doch wahrscheinlich gar nicht gehen, sondern es geht Ihnen, wie ich das verstanden habe, darum, ob es nicht wirklich sachlich richtiger gewesen wäre, meiner Sache gedient hätte, die ich verfochten habe. Und da sage ich: Ich muss das wohl für möglich halten. Ich habe es aber die ganze Zeit nicht so gesehen.
Für mich war diese einfache Formel Wer – Wen, die natürlich heute in die Betonabteilung geordnet wird, eine Erfahrung meines Lebens. Ich sah nicht, dass man sich gegen andere Leute, die wohl organisiert sind, ohne Organisation und ohne für Kämpfe formiert zu sein, zur Wehr setzen könnte.

Gaus: In der Zeit, in der ich Ständiger Vertreter der Bundesrepublik bei der DDR war, muss ich sagen, habe ich immer Botschaftern, die ins Land kamen und Antrittsbesuche machten, wie das üblich ist, zwei Bücher empfohlen, wenn sie die DDR, der Staat, in dem sie akkreditiert wurden, verstehen wollten und gut genug Deutsch konnten. Das eine war „Die Aula“ von Hermann Kant, und das andere war von Erich Loest „Es geht seinen Gang“. Haben Sie wahrgenommen, Herr Kant, wie sich diese Aula-Generation, die Arbeiter- und Bauern-Fakultäts-Generation, die man überall in mittleren und höheren Funktionen in der DDR antreffen konnte, diese Generation im Älterwerden und im Funktionieren, in ihrer Mehrheit, ganz und gar menschlich, veränderte, Idealismus und Elan sich auflösten in Routine und Karriere? Oder haben Sie davor die Augen verschlossen?

Hermann: Im Gegenteil. „Die Aula“ erzählt unter anderem eine Geschichte dieser Art. „Die Aula“ polemisiert ja gegen die Haltung „Es ist erreicht“, diese Sätte-Gefühle, die sich nun als verordnete Gefühle durchsetzen sollten. Nein, das habe ich sehr wohl gesehen. Ich sehe es heute natürlich andererseits mit außerordentlichem Wohlgefallen, dass sich über alle möglichen Änderungen und Fährnisse immer noch Leser bei mir einfinden, die von ihrem Erlebnis der späten Konfrontation mit einem Bildungsvorgang, dem sie eigentlich gar nicht gewachsen waren, immer noch zufrieden reden. Mein Leben, sage ich Ihnen, ist besetzt mit lauter Figuren aus dieser Zeit. Der Mann, der mich wirklich vorm drohenden Tod gerettet hat, war ein ABF-Student aus Greifswald...

Gaus: ... der Mediziner geworden war inzwischen...

Hermann: ... der war Mediziner geworden. Der Mann, der mir jetzt hilft, dass ich in meiner Hütte leben kann, ist ein alter Freund von mir aus der ABF-Zeit. Wenn Sie den Nowojski nehmen, der die Klemperer-Sachen gemacht hat, diese hervorragenden Dinge, es ist ein ABF-Mensch, mit dem ich zusammen studiert habe. Das heißt, die sind immer noch da.

Gaus: Ich komme noch einmal, zumindest am Rande, auf die Disziplinfrage. In ‚Der Aula’, ein Buch, das ich empfohlen habe, wie ich eben sagte, ist es aber doch so: Da gibt es einen Parteisekretär, der nicht gut tut. Und das ist couragiert, dass der Autor Kant einen Parteisekretär in seinem Roman vorführt, der nicht gut tut, dann aber, im letzten Drittel steht, dass der Parteisekretär nicht Parteisekretär geblieben ist. Das heißt, es ist ein Widerspruch, den Kant in seinen Büchern öffentlich anmeldet, den er aber am Ende immer im Interesse der Sache wieder glättet. Der Parteisekretär ist dann nicht mehr Parteisekretär. Viele Parteisekretäre sind aber Parteisekretäre geblieben. Das heißt, es war ein Widerspruch bis zu einem bestimmten Punkt. Bis zu dem Punkt, wo Sie gesagt haben: Danach, hinter diesem Punkt, würde ich der Sache schaden. Ist das korrekt?

Hermann: Das dürfte so sein. Aber ich bitte doch zu beachten, dass es nicht jeden Schreibers oder jeder Schreiberin Sache war, auf diese Mängel hinzuweisen, sondern die haben etwas davor angehalten. Und da finde ich mich schon ganz ordentlich. dass ich ansonsten solche Lösungen vorzog, hatte natürlich auch etwas von Wunschdenken. Ich wollte es gerne so.

Gaus: Können Sie etwas anfangen mit der Behauptung, Hermann Kant sei der Gustav Gründgens der DDR-Kultur gewesen?

Hermann: Na ja, wenn ich da erst mal wegräume, was natürlich an Protest sofort in mir aufbrüllt und ich einfach setze, dass niemand annehmen kann, ich sei für ein System, wie es Herr Gründgens vertreten hat, zu haben gewesen, dann kann man darüber reden. Zumal es ja auch meiner Eitelkeit nicht wenig schmeichelt. Immerhin: Ich glaube, er war der beste Mephisto, den es je gab. Darüber lässt sich reden. Aber Sie meinen ja ganz etwas anderes.

Gaus: Ich meine das auch.

Hermann: Ja, das meinen Sie möglicherweise auch. Aber – und ich lege natürlich Wert darauf, dass das nicht überhört wird –, aber das andere, dass man einem Regime als Vorzeigepoet diente, ja, das hat mich nicht gestört. Ich fand dieses Regime in Ordnung. Mit all seinen Lücken und Fehlern war es in Ordnung.

Gaus: Immer nach Ihrer Selbsteinschätzung. Wuchs im Laufe der Zeit Ihr Bedürfnis nach Zynismus?

Hermann: Ein Bedürfnis nicht, aber ich hörte mich manchmal zynisch sein.

Zur Person Hermann Kant. Mehrere Ehen, mehrere Kinder, mehrere Beschädigungen. Auch nach einem schweren Unfall mit dem Automobil in den 70er Jahren andauernde Schmerzanfälle. Worin bestand und besteht noch außerhalb der literarischen und einstigen gesellschaftlichen Geltung Ihr Glück im Leben?

Hermann: Ja, das kann ich nun gar nicht rausholen oder wegdrücken vom Literarischen. Es ist nicht so wahnsinnig viel. Natürlich ist es fabelhaft, ich habe vor ein paar Tagen mit meinem Sohn, dem jüngsten, einen Tag verbracht, das war wunderbar. Wenn Sie mich da gefragt hätten, bist du jetzt glücklich, hätte ich gesagt, ja, und so möge es bleiben. Aber das hat man nicht jeden Tag. Sonst ist es schon so: Ich bin mit mir zufrieden. Glücklich? Weiß ich nicht. Ich bin mit mir zufrieden, wenn ich ein paar ordentliche Sätze hingekriegt habe.

Gaus: Sie leben heute zurückgezogen im tiefsten Mecklenburg, allein in einer Datsche, die Sie jetzt winterfest haben machen lassen. Sie kommen nur noch gelegentlich nach Berlin. Charakterisieren Sie bitte das Leben, das Sie seit der Wende führen.

Hermann: Es ist das Leben eines Mannes, der weiß, dass er seine Sache verloren hat, und sie nicht zuletzt auch deshalb verloren hat, weil er Teil dieser Sache war. Das heißt also, ich sehe selbstverständlich zurück in mein Leben und suche die Dinge, die ich versäumt habe und die meinen Anteil an dieser Niederlage ausmachen. Das ist das eine. Das andere ist aber – und das gehört ganz und gar dazu –, der Versuch, aus deutscher Geschichte auszubrechen, es einmal anders zu versuchen. Dieser Versuch war, auch wenn es mich nun selber trifft, aller Ehren wert.

Gaus: Was haben Sie zum Scheitern des Versuchs beigetragen?

Hermann: dass ich mich an bestimmten Sachen nicht ganz quergelegt habe und nicht gleich gelaufen bin. Ich habe sehr lange gebraucht, um ein Beispiel zu nennen, um ein öffentliches Wort für die Gorbatschowschen Vorstellungen zu reden. Das hat erst mal gedauert und musste gegen den Widerstand meiner Obrigkeit erfolgen.

Gaus: Das war 1989.

Hermann: Ja, und das ist ja schon ganz gut, ich meine, viel größer kann ich da nichts reichen.

Gaus: Jetzt sind wir wieder bei der Disziplin. Was Sie jetzt sagen als Teil Ihrer Schuld, als Teil Ihres Verschuldens am Scheitern des Experiments, des Versuchs, ein anderes Deutschland zu machen, sagen Sie jetzt, vielleicht hätte ich öfter laut disziplinlos sein müssen?

Hermann: Ja.

Gaus: Aber Sie haben vorhin die Disziplin als Notwendigkeit behauptet.

Hermann: So was nennt man Widerspruch.

Gaus: Wie leben Sie mit dem Widerspruch?

Hermann: Mit dem habe ich zu leben. Ich komme auch damit zurecht, weil Widersprüche die Eigenheit haben, durch unseren guten Willen nicht aufgehoben zu sein und auch durch die einsichtigste Einsicht nicht. Das war einer der Widersprüche, mit denen wir nicht fertig geworden sind, und daran habe ich Anteil.

Gaus: Die Wende in Deutschland 1989/90 musste für Sie, einem hohen Funktionär der DDR, einschneidende Veränderungen mit sich bringen. Ist in der Art und Weise, wie diese Veränderungen nun über Sie gekommen sind, alles so gelaufen, wie Sie es erwartet haben, oder ging es darüber hinaus? Und wenn ja, in welcher Weise ging es darüber hinaus?

Hermann: In den Ergebnissen ist es ungefähr so, und ich bin ja auch bescheiden, was meine Ansprüche in dieser Hinsicht anbelangt. Da fühle ich mich ganz gut bedient. Was mich stört, womit ich nicht gerechnet habe, ist diese unerhörte Heuchelei. Man hat gesiegt. Aber man will nicht gesiegt haben. Ich behaupte ja nach wie vor, wenn man einen Orden austeilt für Verdienste um die Herstellung der Einheit, dann fänden sich eine ganze Menge Leute gar nicht bereit, diesen Orden anzunehmen, weil die Legende will, es waren nur ein paar Leute in Leipzig.

Gaus: Das habe ich nicht ganz verstanden.

Hermann: Nein?

Gaus: Sagen Sie es noch mal. Was ist das, was Sie an der Art und Weise, wie diese Wende Veränderungen für Sie mit sich gebracht hat, was ist über das, was Sie erwarteten, hinausgegangen?

Hermann: Ich wusste, man wird all das zurücknehmen – so gut wie all das, was wir versucht haben. Darunter selbstverständlich auch manches, was vielleicht bestehen sollte oder hätte bestehen sollen ...

Gaus: ... die sozialen Errungenschaften ...

Hermann: ... ja. Jetzt kommt es mir auf das andere an, das ist mir ganz wichtig. Es ist ein Hauptvorwurf, den ich gegen die mich umgebende Wirklichkeit erhebe: die Heuchelei. Man sagt, erweitert das Nato-Bündnis, und sagt nicht gegen wen. Alle Leute sehen erfreut, jetzt gibt es bestimmte Feindschaften nicht mehr – man macht aber bestimmte Dinge weiter und sagt nicht warum, gegen wen. So geht es bis ins kleinste. Sie kriegen immer nur Auskünfte, die scheinbar einen Schritt belegen, aber die eigentlichen Beweggründe werden verschämt verschwiegen. Ich sage immer, diese Ordnung erschrickt, wenn man sie bei ihrem Namen, der Kapitalismus heißt, nennt. Die will anders geheißen werden. Das empfinde ich als einen hochgradig verheuchelten Zustand.

Gaus: Ihnen selbst ist vieles nach der Wende persönlich angelastet worden: Mitarbeit beim Staatssicherheitsdienst, Sie haben Prozesse geführt und gewonnen. Ich habe den Eindruck, an Fakten ist fast alles oder alles mehrmals öffentlich hin- und hergedreht worden. Die Beschuldigungen gegen Sie wegen des Rausschmeißens dieser neun Schriftsteller aus dem Schriftstellerverband 1979 – wir haben das Thema berührt –, und wegen anderer Taten und Untaten Hermann Kants, diese Beschuldigungen und Erwiderungen sind mehrfach hin- und hergewendet worden, öffentlich. Ich habe bei der Vorbereitung auf dieses Interview keine neuen gefunden. Also bleiben vielleicht zur Erklärung immer nur die Person, die handelnde Person und die behandelte Person. In diesem Sinne frage ich Sie: Wie erklären Sie sich, dass Sie, Hermann Kant, so besonders viel Feindseligkeit auf sich ziehen? Wie erklären Sie es?

Hermann: Da gibt es eine eitle Variante, die ich ungern benutze, aber das muss wohl sein. Ich sage mir, es war eine relativ rare Rarität, dass einer mit einem gewissen literarischen Vermögen zugleich in den Niederungen der Politik und des Funktionärtums zu Hause war und versuchte, das eine mit dem anderen zu verbinden. Was alle möglichen Leute geärgert hat, sowohl die Funktionäre als auch die Literaten. Das ist das eine. Das zweite ist, ich habe mir natürlich durch eine Liebe zum treffenden Wort – im Sinne von verletzendem Wort – auch nicht gerade Freundschaften erworben. Das ist mir doch völlig klar. Arrogante Leute können sich nicht hinstellen und sagen, wir möchten aber bitte geliebt werden. Ich glaube schon, dass das eine Rolle spielt, sage aber das Uneitle hinzu, nämlich: Ich glaube, manche Leute haben einfach ein ungutes Gefühl, dass sie eine Weile, eine lange Weile mit mir zusammen die Sache betrieben haben und nun dabei nicht gern noch einmal getroffen sein wollen und klarmachen: Nein, mit so einem Scheusal hatten sie natürlich nichts zu tun. Sie hatten aber damit zu tun.

Stephan Hermlin, mit dem Sie bis zu seinem Tod freundschaftlich verbunden blieben, hat über Sie gesagt – so hat man mir jedenfalls bei der Vorbereitung auf dieses Interview berichtet –, Sie, Kant, neigten in Auseinandersetzungen zum Nachtreten, wenn es schon gar nicht mehr nötig war. Ist das, was Sie eben mit Ihren bösen Bemerkungen gesagt haben, eine Art Nachtreten, haben Sie das Bedürfnis nachzutreten?

Hermann: Nebenbei gesagt, Stephan Hermlin hat mir so was nie gesagt. Das Gröbste, was er mir je gesagt hat, war: Du bist manchmal so grob. Aber vielleicht hat er das damit gemeint. Bloß, dann war er wieder feinfühlig im Umgang mit mir und hat mich verschont mit diesem Begriff. Ich bin, glaube ich, wie ziemlich viele Leute nicht sehr begeistert, wenn ich konstatieren muss, jetzt hat dich wer gefällt. Sondern dann versuche ich auch hinterher zuhaken. Dafür gibt es in anderen Bereichen die rote Karte. Die habe ich ja auch gekriegt.

Gaus: Wie nahe sind Sie dem Fanatismus in Ihrem Leben gewesen?

Hermann: Fanatismus? Wenig, wenig. Ich glaube, ganz wenig, weil meine Erziehung, die wirklich bis in Kindesalter zurückgeht, eine zur Ironie war. Mein Vater war der ironischste Mann, den man sich denken konnte. Und ich habe natürlich mit Begeisterung an seinen Lippen gehangen, wenn er sich so produzierte. Ich habe mir das eingetan, und das verträgt sich mit Fanatismus gar nicht gut.

Gaus: Sie waren sachlich ein Hundertprozentiger?

Hermann: Wenn es um die hundert Prozent geht – nicht mal da könnte ich mit Vehemenz erklären: ja, ja war ich schon. Ich war – ich hör mir jetzt ein bisschen erstaunt zu, weil ich hier so wie an meinem Grabe von mir spreche –, aber nein, in meiner Zeit war ich in bestimmten Punkten bestimmt fanatisch. Ich war und bin ein fanatischer Antiantisemit, um mal ein herausragendes Beispiel zu nennen. Darin bin ich fanatisch. Da gibt’s bei mir keine Diskussion, da hört alles auf.

Gaus: Was ist Ihr Hauptvorwurf, den Sie gegen sich selber erheben?

Hermann: Sagen wir mal: zu wenig auf wirkliche Freunde gehört zu haben. Denn ich habe ja immer welche gehabt, die mich warnten, dieses und jenes zu tun, die sagten, lass das sein. Ich war häufig zu sehr von der Logik meines Handelns überzeugt und habe der unerhörten Gewalt, die doch ausgehen sollte vom sanften Einreden, nicht immer getraut. Das ist ein Vorwurf, der letzten Endes zu der Stimmung geführt hat, in der wir ein solches Gespräch über mich führen müssen.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Was rechnen Sie sich am meisten zugute in Ihrem Leben?

Hermann: Vor den Leuten, bei denen es wichtig war, keine Angst zu haben, keine Angst gehabt zu haben und mich durchgehalten zu haben in ziemlich grundsätzlichen Dingen. Adenauer hat vor vierzig Jahren gesagt: Warten Sie nur, den werden wir auch noch bekehren. Er hat es nicht geschafft, sie haben es nicht geschafft; es wird keiner schaffen.