Sendung vom 10.06.1993 - Mattheuer, Wolfgang

Günter Gaus im Gespräch mit Wolfgang Mattheuer

Kein heimatloser Interkünstler

Wolfgang Mattheuer, geboren 1927 im Vogtland, einer von den bedeutenden deutschen Malern der Gegenwart aus der DDR. Mattheuer, der auch schreibt, von dem ein Buch erschienen ist „Äußerungen“, beschreibt darin, wie er Abstand gewinnt zur DDR. Mattheuer ist immer ein eigensinniger Mensch gewesen, so scheint mir, ein Mann, der weder mit der DDR noch mit der vereinigten Bundesrepublik ganz einverstanden ist.

Gaus: Bevor wir auf den Künstler zu sprechen kommen, eine allgemeine Frage an Wolfgang Mattheuer, der sich, wie ich ihn kenne und einschätze immer bemühte, eigensinnig zu sein, der immer selbstbewusst sein wollte – selbstbewusst in Gesellschaft und Geschichte. Was bedeutet es für Sie, Herr Mattheuer, ein Deutscher zu sein?

Mattheuer: Eigentlich etwas ganz Natürliches, etwas, was ich mir nicht aussuchen konnte und nie aussuchen werden kann. Ich bin ein Deutscher, so wie ich ein Mattheuer bin. Und all dieses, was daran positiv und negativ ist, das ist mein Leben, und damit habe ich zurechtzukommen.

Gaus: Kein Stolz dabei?

Mattheuer: Ich bin stolz ein Mattheuer zu sein, zu dieser Familie zu gehören, die eine Familie ist wie Millionen andere. Aber ich habe allen Grund, mich in bestimmten Situationen darüber zu freuen, dass ich aus dieser kleinen Gemeinschaft komme. Analog dazu würde ich sagen: So geht es mir mit dem Deutschen auch.

Gaus: Sich zu freuen?

Mattheuer: Und natürlich – ich sagte das schon – das Positive und das Negative zu sehen.

Gaus: Sie sind 66 Jahre alt. Haben Sie den Eindruck, dass die Deutschen selber – die herrschende Stimmung im Lande vor der Wende, seit der Wende – den Deutschen immer gerecht geworden sind? Finden Sie, dass die Deutschen sich selber ungerecht einschätzen, sich selber zu sehr verteufeln, dass die Deutschen selbstbewusster sein sollten?

Mattheuer: Was mich am meisten stört, ich kann es auch steigern und sagen: Was ich am meisten hasse und als eine der größten Gefahren für die Zukunft sehe, ist der deutsche Selbsthass, der in unseren Jahren, vor allen Dingen nach der Vereinigung und mit ihr zusammen, gerade wieder eine neuerliche Blüte erzeugt. Das sehe ich für die Zukunft wirklich als eine ständige Gefahr für die heranwachsenden Generationen. Denn jede heranwachsende Generation muss eine Autorität, eine Beziehung zur Gemeinschaft, wie zur Familie so auch zu der größeren Gemeinschaft, haben. Wird dieses natürliche Bedürfnis im jungen Menschen unterdrückt, wird diese Wahrheit giftig. Und sie kommt irgendwo als Eiterbeule an die Öffentlichkeit. Einige dieser Beulen haben wir platzen gesehen.

Gaus: Wie begründet sich aber eine solche Gemeinschaft, wen sie die deutsche Gemeinschaft ist? Es kann die Gemeinschaft – sagen wir, es sind alles nur Beispiele – einer Arbeiterklasse sein. Das haben wir gehabt, ohne noch richtig eine Arbeiterklasse zu haben. Das war – glaube ich – der vergebliche Versuch, eine Gemeinschaft im real existierenden Sozialismus zu gründen. Wir haben die rassistische Begründung gehabt von Blut und Boden aufs Deutschtum hin unter den Nationalsozialisten...
Wir sind die gleiche Generation. Sie sind Jahrgang 1927, ich bin Jahrgang 1929. Ich kann regional empfinden, ich kann Heimat empfinden, Nation zu empfinden, fällt mir schwer. Warum fällt es Ihnen leicht?

Mattheuer: Es ist für mich eine solche Selbstverständlichkeit, dass ich eigentlich nicht darüber zu sprechen brauche. Der Stolz hat auch nichts zu tun mit einem übersteigerten Stolz, etwa mit diesen Versen „Deutschland, Deutschland über alles ...“. Das, meine ich, ist schon eine Steigerung zum Extrem hin, was ich als nicht normal empfinde. Dieses Selbstverständliche – ich gehöre dazu, es war nicht mein Wille, auf diesem Teil der Welt geboren zu werden, das lag außerhalb meiner Möglichkeiten. Ich gehöre dazu und lebe mit dieser Gemeinschaft und habe das Glück und das Schlimmste in der Geschichte dieser Gemeinschaft mitzutragen.

Gaus: Begründen Sie mir die Gemeinschaft?

Mattheuer: Diese Gemeinschaft ist die Sprachgemeinschaft, die Wohngemeinschaft von diesen Menschen – im Groben. Das Wesentliche: Sie haben sich gemeinsam den ökonomischen Raum geschaffen...

Gaus: Die haben Sie vierzig Jahre nicht gehabt, diese Gemeinschaft.
In der Teilung hatten sie sie nicht.

Mattheuer: Das war der Unterschied zwischen den zwei deutschen Bevölkerungen, die sich nach dem Krieg entwickelt haben. Unter der Bevölkerung der späteren DDR, nach dem Krieg der sowjetischen Besatzungszone, konnte je länger die Zeit dauerte, konnte und ist das Gefühl dieser Gemeinschaft, also dieses selbstverständliche Nationalgefühl, nie abgestorben. Weil es gleichzeitig die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung war. So sehe ich das. Während der glücklichere Teil aus dem gesamtdeutsch zu verantwortenden Zweiten Weltkrieg alsbald von der Siegermacht gebraucht wurde und Partner werden sollte. Und es ist den Siegermächten hervorragend gelungen, aus der niedergedrückten, besiegten Gemeinschaft Partner zu machen. Damit wurde das Nationalgefühl überlagert. Die spätere Generation, die heranwuchs, hatte wenig Interesse, auch wenig Grund, Interesse an deutscher Gemeinsamkeit zu haben.

Gaus: Sie sind Grafiker, Maler, Bildhauer – einer der bedeutenden deutschen Maler der Gegenwart aus der DDR. Sagen Sie mir bitte, Herr Mattheuer, hat Bildende Kunst nach Ihrem Verständnis einen Zweck?

Mattheuer: Eine sehr schwere Frage. Ich möchte es erweitern auf die Künste überhaupt, die Literatur, da fällt es mir leichter, da brauchte ich nicht nur von mir zu sprechen. Ich bin ja nicht nur Bilderhersteller, sondern auch ein Rezipient, ich bin eigentlich auch ein Genießer von Bildern, ich genieße auch Literatur. Ich kenne einige Werke der DDR – wenn ich lange überlegen könnte, was hier nicht möglich ist, wäre es eine ganze Reihe –, die wirklich in die gesellschaftliche Entwicklung eingriffen und eine große Bedeutung hatten für die aufrechte Haltung.

Gaus: Der Künstler hat also, wie Sie es jetzt ausführen, eine gesellschaftliche Funktion?

Mattheuer: Ja, jeder Mensch hat sie, ob er will oder nicht, ob er es leugnet oder nicht.

Gaus: Wenn Sie das einräumen, sind Sie dann nicht besorgt, dass man sagt: Sieh mal, da kommt die DDR-Vergangenheit zutage, auch bei Mattheuer, der schon vor der Wende couragiert war, aber eben doch von der DDR geprägt ist, der Kunst diese gesellschaftliche Funktion beimisst, die im pluralistischen System von nicht unbedeutenden Künstlern, Kritikern und Intellektuellen geleugnet wird?

Mattheuer: Sie leugnen, aber sie leiden unter der allgemeinen Gleichgültigkeit, und das ist die Folge. Diese Gebundenheit ist selbstverständlich. Natürlich bin ich in meinem Leben von der Realität geprägt worden, in der ich gelebt habe. Das geschieht wiederum auch ohne meinen Willen. Ich werde geprägt, ich kann zum Gegner werden, ich kann zum Befürworter werden: Auf jeden Fall wird das eine Wirkung auf mich haben.

Gaus: Nach der Wende, nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten hat es eine von Westdeutschland ausgehende Diskussion gegeben, in der behauptet wurde: Drüben in der DDR hat es vom System wegen gar keine wirkliche Kunst gegeben, sondern nur die Abart Staatskunst. So seien auch gar keine nennenswerten Bilder entstanden. Was sagen Sie zu dieser Debatte?

Mattheuer: Ich hatte mich damals sofort gemeldet, ...

Gaus: ... das war im Herbst 1989...

Mattheuer: … ich habe einen Text an die Frankfurter Allgemeine geschickt – die haben das auch gedruckt. Damit griff ich in den Kunststreit ein. ich habe es damals schon gesehen, aber ich war mir nicht ganz sicher, heute bin ich mir fast sicher: Der Kampf der Bevölkerungen, der immer härter wird, musste in den Künsten beginnen – in der Literatur, in der bildenden Kunst, im Sport. Das ist ganz verständlich. Aber warum das so ist – ich weiß es nicht. Es ist eben unter den Deutschen so, dass immer geklärt werden muss: Wer ist der bessere Deutsche? Vielleicht kommt das daher, dass wir kein gemeinsames Nationalgefühl mehr haben. Das ist zerstört worden.

Gaus: Sie haben vorhin gesagt: Der bessere Deutsche hat sich in der DDR gehalten.

Mattheuer: Das habe ich nicht gesagt. Ich habe gesagt: In der DDR hat sich das selbstverständliche Nationalgefühl länger gehalten.

Gaus: Ich wollte nicht so fürchterlich deutsch-ernst sein, deswegen habe ich es so formuliert. Aber ich bleibe – einfach mal des Spaßes halber – dabei. Sie haben jetzt gesagt, es gehe darum, wer der bessere Deutsche sei. Haben Sie den Eindruck, dass es wirklich darum geht? Geht es darum bei der Auseinandersetzung zwischen Ost und West, wer der moralisch Sauberere ist und wer der Beschmutzte?

Mattheuer: Das ist bloß ein anderes Wort dafür, was ich mit „der Bessere“ meinte. Ich meine es umfassender, nicht nur im moralischen Bereich. Der Gutere ist ein schönerer Begriff. Der gutere Bürger ist der westliche, weil er in der Welt vierzig Jahre lang auch wirklich etwas darstellte, und wir uns im Ausland nur als zweitrangig empfinden mussten. Selbst der westdeutsche Arbeitslose, der sich am rumänischen Strand herumwälzte, war uns, den Besten von uns, überlegen.

Gaus: Ich kenne Sie seit vielen Jahren. Sie wissen, ich bin ein großer Bewunderer Ihrer Bilder. Ich habe das große Vergnügen, dass ich einige davon besitze. Bei der Vorbereitung auf dieses Interview habe ich bestätigt gesehen, was mich schon längere Zeit an Ihnen beschäftigt: Sie haben schon sehr früh – legen Sie nicht jedes Wort auf die Goldwaage, wenn Sie wollen, legen Sie jedes Wort auf die Goldwaage – von der DDR innerlich und äußerlich Abstand genommen, ohne Leipzig zu verlassen. Sie sind im Lande geblieben. Sie haben zu Zeiten der Wende öffentliche Äußerungen getan, die mich seinerzeit beinahe bedrückt haben, weil ich mir gedacht habe: Ach, Mattheuer, du wirst es noch anders lernen. Sie sind in einem ganz starken Maße – obwohl wir aus derselben Generation sind – ein national gesinnter Mensch, mehr als mir möglich ist, und ich bin nicht unglücklich darüber. Sie sind jetzt bei Ihren letzten Antworten massiv gegen Überlegenheitsgefühle der Westdeutschen, der westdeutschen Mehrheit Sturm gelaufen. Wo genau sind Sie zu Hause? Sie sind doch eigentlich glücklich, dass es die DDR nicht mehr gibt, aber Sie sind auch nicht glücklich über das, was gekommen ist. Können Sie dazu was sagen?

Mattheuer: Ich habe eine Vorstellung vom Zukünftigen, was mich glücklich machen würde.

Gaus: Sagen Sie das!

Mattheuer: Diese Fortführung der alten Bundesrepublik ohne jede Veränderung ist unrealistisch, lässt sich nicht durchhalten. Die Bundesrepublik wird natürlich durch den Zusammenbruch der östlichen Siegermacht und des östlichen leninistisch-kommunistisch-stalinistischen Versuchs zum Sozialismus sich verändern. Die Probleme, die in der Welt heranreifen, werden jetzt nicht mehr die Deutschen in der DDR treffen und die Deutschen in der Bundesrepublik, sondern sie treffen jetzt endlich alle Deutschen. Die Deutschen sind jetzt endlich so frei, frei von zweitrangigen nationalen Dingen, dass sie sich der Weltproblematik umfassend zuwenden können. Das ist ein großer Gewinn.

Gaus: Was erwarten Sie sich von der Zukunft?

Mattheuer: Von der Zukunft erwarte ich mir die Einsicht, dass das permanente Wachstum eine Wahnvorstellung ist.

Gaus: Das permanente Wirtschaftswachstum?

Mattheuer: Ich meine das Wirtschafts-, das Wohlstandswachstum und allgemein dieses Anspruchsdenken: Es muss jährlich der Wohlstand messbar wachsen, sonst ist die Katastrophe da. Dieses Denken muss überwunden werden. Es darf keine Angst hervorrufen, wenn ich Menschen zutraue, den Lebensstandard von 1985 etwa 1995/96 auch noch zu haben. Der Lebensstandard von 1985 war ja nicht so schlecht.

Gaus: Was ist mit der DDR untergegangen, was Sie bedauern?
Sie waren nun wirklich gegen die DDR am Ende zu.

Mattheuer: Was ich bedaure, dass sie untergegangen ist? Ja doch, etwas ja: Es waren die leichter handhabbaren Gesetzen. Die Gesetze der Bundesrepublik Deutschland zwingen den Bürger, dass er sich einen Anwalt nimmt oder einen Steuerberater. Denn die Gesetze sind so angelegt, dass sie der normal bildungs- und intelligenzmäßig ausgestattete Bürger nicht deuten kann. Er braucht die Hilfe eines Fachmanns. Und dieser Fachmann muss an Universitäten ausgebildet werden, und die Universitäten wollen ja auch ihren Lehrkörper erhalten… Würde man die Gesetze handhabbar für den Bürger gestalten, hätten wir in kurzer Zeit einen Berg von arbeitslosen Juristen.

Gaus: Ich bleibe aber noch bei dem, was untergegangen ist oder nicht untergegangen ist. Das sind Fragen, Sie sollen sie beantworten. Zum Beispiel: Wir wissen beide, was es für Zugangsbeschränkungen bei der erweiterten Oberschule und anderen Bildungseinrichtungen der DDR gab. Aber ist es nicht auch wahr, dass – von solchen politisch bestimmten Einengungen abgesehen – eine Bildungschance vorhanden war, die nicht an Geld, an Eigentum, an Elternhaus, Wohlstand gebunden war, und dass dieses in unserem jetzigen System doch der Fall ist, dass die Gleichheit der Bildungs- und Ausbildungschancen – nicht die Gleichheit der Menschen – nicht mehr in dem Maße gegeben ist, wie es mal erreicht war?

Mattheuer: Mein großer Wunsch wäre, immer wieder Versuche zu machen, höchstmögliche Chancengleichheit herzustellen. Eine gewaltige und kostspielige Aufgabe, aber eine Aufgabe, die letztlich Menschenwürde nur möglich macht. Und zwar lebenslange Chancengleichheit, denn es gibt – vom Materiellen abgesehen – auch Spätentwickler. Das sehe ich als das Große an. Und ich sehe mit Bedauern die Gründung von Privatuniversitäten und die Überfüllung der ruhmreichen, bekannten Universitäten mit immer weiter fallendem Niveau. Das bedeutet die Fortführung des bürgerlichen Bildungsprivilegs – die freie, private Universität, wo in Wirklichkeit die Eliten herangezüchtet werden.

Gaus: Könnte es sein, dass das pluralistische marktwirtschaftliche System, in dem jetzt beide deutsche Gesellschaften existieren, sich stützt auf eine Überbetonung der Individualrechte und die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Menschenrechte?

Mattheuer: Ich glaube, diese liberale Wirtschaft, die freie Marktwirtschaft, hat ihre historische Bedeutung in der Höchstentwicklung und Steigerung menschlicher Produktivität. Aber in einer Zeit, wo es nicht mehr die primäre Aufgabe sein kann, Produktionskapazitäten zu errichten, denn die Menschheit ist zum ersten Mal in der Situation, dass sie auf allen Gebieten wesentlich mehr produziert als sie verbrauchen kann, werden für die Zukunft diese Grundsätze des 19. Jahrhunderts nicht mehr greifen. Es muss Neues dazukommen.

Gaus: Wird der Sozialismus wiederkommen in anderer Form – wird er kommen?

Mattheuer: Sozialismus muss wiederkommen.

Gaus: Wird er kommen, habe ich gefragt? Weil Sie sagen, es hat ihn nie gegeben.

Mattheuer: Es hat ihn nicht gegeben. Ich bin überzeugt, dass der Staat eingreifen muss in die Wirtschaft. Die Kräfte des Marktes werden die gewaltigen Probleme, die vor der Menschheit liegen, nicht lösen können. Es müsste ein Unternehmer heranwachsen, der aussehen würde wie der neue Mensch, auf den der Leninismus siebzig Jahre gewartet hat.

Gaus: Und an den Sie nicht glauben können?

Mattheuer: Nein, diese beiden Extreme, der Nationalsozialismus und dieser Versuch des kommunistischen Weges, haben sich ja nun erledigt.

Gaus: Sie sind aber auf der Suche nach einem dritten Weg. Denn das, was wir jetzt haben, von dem sagen Sie: Das wird es auch nicht sein können, wir können uns den Luxus der Marktwirtschaft gar nicht mehr leisten, hat auch keine Zukunft.

Mattheuer: Ich bin auf der Suche. Ein Goldsucher bin ich nicht, aber ich bin überzeugt, dass es Gold gibt auf der Erde.

Gaus: Und wir haben es noch nicht gefunden?

Mattheuer: Die Menschheit wird die Wege finden müssen. Ob das dann Sozialismus heißt oder anders...

Gaus: ... das ist eine untergeordnete Sache.

Mattheuer: Die Gesamtinteressen müssen über den Individualinteressen liegen.

Gaus: Sind Sie ein konservativer Ordnungsmensch?

Mattheuer: Das würde mir sehr gefallen.

Gaus: Besteht die Gefahr, dass das Konservative ins Reaktionäre ausgleitet?

Mattheuer: Es kann alles reaktionär und pervers werden.

Gaus: Was würde Sie davor schützen, oder sind Sie nicht sicher, dass Sie eine solche Sicherung haben? Was kann Sie davor bewahren, dass der konservative Ordnungsmensch Wolfgang Mattheuer ins Reaktionäre abgleitet?

Mattheuer: Die Gefahr ist nicht sehr groß.

Gaus: Weil Sie sagen: alles kann...

Mattheuer: Aber natürlich kann alles.

Gaus: Was sichert Sie dagegen?

Mattheuer: Ich denke, meine Vernunft und meine Teilnahme am Leben der Gesellschaft und der Menschen und an den Menschheitsproblemen, was ja nicht nur eine genussvolle Teilhabe ist, sondern mitunter eine sehr schmerzhafte. Das kann das Individuum bewahren gegen peinliches Abgleiten ins Reaktionäre.

Gaus: Bisher hat es das nicht gekonnt.

Mattheuer: Wenn es geschieht, kann ich auch nichts dafür. Sagen wir: möge der Herr es verhindern!

Gaus: Sind Sie religiös?

Mattheuer: Ganz gewiss.

Gaus: Immer gewesen?

Mattheuer: Ja, ich glaube immer. Ich gehöre keiner Kirche an. Das haben Sie ja auch nicht gemeint.

Gaus: Nein. Viele Ihrer Grafiken und Bilder vermitteln Botschaften. Menschen, die sich hinter Masken verbergen, ein Nachbar, der fliegen will – Sisyphos in seinen vergeblichen Mühen. Können Sie den Kern Ihrer künstlerisch-gesellschaftlichen Botschaft benennen? Kann man das in ein Wort fassen, in einen Begriff?

Mattheuer: Ich glaube an die Vernunft, an die Notwendigkeit Vernunft und verachte eigentlich eine Kunst, die – wie auch immer dargestellt – die Unvernunft oder das Chaos zu ihrem Spielball macht.

Gaus: Wo verläuft die Grenze zwischen Kunst und Agitation, wenn man Kunst eine gesellschaftliche Funktion beigibt?

Mattheuer: Beide Extreme haben versucht, sowohl der Nationalsozialismus als auch dieser kommunistische Sozialismus/leninistische Kommunismus, die Kunst in ihre Machtpolitik einzuspannen. Aber es stellt sich heraus, es geht nicht. Sie müssen zum einem – das ist das Dilemma der DDR-Mächtigen gewesen – darauf achten, dass es eine realistische Kunst wird, wenn sie die Massen erreichen soll, so verschwommen der Begriff auch ist. Zum anderen ist aber ein Politiker, der die Realisten zu seinen Helfershelfern machen will, bald enttarnt, und er wird sich wundern, in welche Schwierigkeiten er kommt.

Gaus: Zur Person Wolfgang Mattheuer. Geboren am 7. April 1927 in Reichenbach im Vogtland. Ihr Vater war Buchbinder in einem Großbetrieb und, wie viele aus dieser stolzen Arbeiterzunft, sozialdemokratischer Gesinnung. Sie selbst haben, bis Sie 1944 Soldat wurden, eine Lehre als Lithograph absolviert. Sie haben vorhin von dem Stolz gesprochen, zur Familie der Mattheuer zu gehören – hat Ihnen das Elternhaus, haben Ihnen Vater und Mutter Wesentliches, Wichtiges mit auf den Weg gegeben?

Mattheuer: Außerordentlich viel. Allerdings nicht im Sinne des Materiellen – dazu waren sie nicht in der Lage, mir das zu geben –, aber darüber hinaus: Ich habe Menschen kennen gelernt, die...

Gaus: Sie reden jetzt von Ihren Eltern?

Mattheuer: ... von meinen Eltern ..., die unter sehr schwierigen Verhältnissen gelebt haben. Denken Sie nur an die Weltwirtschaftskrise und deren Folgen. Ein damals noch junger Mann – mein Vater – mit drei Kindern und einer Frau, meiner Mutter, die nicht zur Arbeit gehen sollte, weil er der Meinung war, drei Kinder zu erziehen sei eine große, große Arbeit. Das war schon eine gewaltige Leistung – ohne Wegwerfwindeln und Fertignahrung aus der Dose ... Heute nicht mehr vorstellbar. Darüber wird heute – diese Generation ist im Absterben – nicht mehr gesprochen. Man könnte bei der Gelegenheit den Menschen heute zeigen, was in fünfzig, sechzig Jahren gewonnen wurde.

Gaus: Wenn ich recht verstehe, sagen Sie: Was mir meine Eltern mitgegeben haben, war die Bekanntschaft mit tapferen Menschen?

Mattheuer: Mit tapferen Menschen, Achtung vor der Arbeit, vor der Leistung, mit dem Glauben, wir werden auch diese Krise überwinden, wir werden nicht untergehen, unsere Lebensaufgabe ist es, zu bestehen und aus unseren Kindern das Beste zu machen. Mein Vater, der nie ein Kunstwerk kaufen konnte, hatte eine Sammlung von Reproduktionen – da habe ich als Junge natürlich Anteil genommen. Auf diesem Wege bin ich mit großer Kunst das erste Mal in Berührung gekommen.

Gaus: Als Sie im Herbst 1945 aus Krieg und kurzer Gefangenschaft zurückkamen, haben Sie zunächst die Kunstgewerbeschule in Leipzig besucht und danach, bis 1951, an der Hochschule für Grafik und Buchkunst studiert. Kurze Zeit waren sie als Grafiker bei der Illustrierten Rundschau in Berlin tätig, dann gingen Sie als freischaffender Künstler nach Leipzig zurück. Zur Kunst des Grafikers trat autodidaktisch die Entwicklung Wolfgang Mattheuers zum Maler. Ist es Ihnen möglich zu erklären, was Sie zum Malen, zur Farbe gebracht hat, oder ist das nicht in Worte zu fassen?

Mattheuer: Es muss wohl in meinem Leben verankert sein. Anteil hatten sowohl meine Eltern als auch mein Ausbilder in der Lehrzeit. Vor dem besaß ich eine so große Achtung. Das war der Ausbilder in dieser Großdruckerei. Ich wurde damals hervorragend versorgt. Wenn ich etwas an Utensilien brauchte, wurden sie mir zur Verfügung gestellt. So gut ging es mir später nie mehr, auch als ich den Nationalpreis hatte nicht. Dieser Ausbilder hatte eine Wirkung auf mich. Der sagte: Geh du erst mal nach Leipzig und mache Buchkunst – also Gebrauchsgrafik, der weite Begriff der angewandten Grafik –, und wenn du das machst und die Bildnerei als Nebensache, und wenn du wirklich besondere Leistungen bringst, dann wird sich das andere sowieso lösen. Aber eine Basis musst du dir erst schaffen, dass du einigermaßen wirtschaftlich frei bist. Denn auf einer elenden Basis Kunst zu machen, das wünsche ich dir nicht. Das würde ich heute auch sagen. Man muss materiell ziemlich frei sein, um Kunst machen zu können.

Mattheuer: Sie waren achtzehn Jahre lang, von 1956 bis 1974, zunächst als Dozent und dann als Professor, an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst tätig. Seit 1974 sind Sie freischaffend. Was war das für ein Schritt, warum haben Sie ihn getan – ein Schritt in eine größere Freiheit, in was für eine Art von Freiheit?

Mattheuer: Ich bin zwanzig Jahre an der Schule tätig gewesen. Ich hatte verschiedene Studenten der angewandten und der freien Grafik. Und als ich das alles durch hatte, kam doch – das ist nicht verwunderlich nach zwanzig Jahren – das Gefühl: Ich wiederhole mich. Es ist anstrengend, und man darf eines nicht vergessen: Die Leipziger Kunsthochschule war – wie die meisten Kunsthochschulen in der ehemaligen DDR – kein reines Vergnügen für den Lehrkörper. Da wurde wirklich was gefordert. Das hatte ich einfach über. Ich hatte soviel, dass ich frei sein konnte und leistete mir in der DDR die Freiheit vom Schuldienst.

Gaus: Warum sind Sie nicht aus der DDR weggegangen?

Mattheuer: Ich bin so tief verwurzelt in diesem Lande. Es war immer unsere Ansicht – damit meine ich mich und meine Frau, wir haben eine enge Gemeinschaft –, wir gehen nur weg, wenn wir in unserer Arbeit behindert sind oder wenn es um unser Leben geht. Beides ist nicht gewesen. Ich war eigentlich immer frei marktwirtschaftlich tätig. Ich habe meine Produkte gemacht und hatte Glück, sie wurden gekauft. Als in der Honecker-Ära durch die Öffnung zum Ausland der DDR-Kunsthandel entwickelt wurde, fanden meine Bilder auch im westlichen Teil Deutschlands Käufer. Ich hatte keine Veranlassung, von dort, wo ich tief verwurzelt bin, wegzugehen. Es ist vielleicht eine Eigenart von mir, dass ich mich auf diese tiefe Verwurzelung berufe. Ich werde aktiv, wenn ich mich irgendwo ganz sicher fühle. Ich bin kein heimatloser Interkünstler.

Gaus: So wie die DDR im Rückblick beschrieben wird, als etwas, wo alles politisiert worden ist, wo es die Nische des privaten Glücks wie Unglücks gar nicht gegeben hat – das wird ja mehrheitlich so dargestellt seit der Wende –, doch so – und Ihr Leben hat es bewiesen – ist es ja nicht gewesen. Sie haben schriftliche Äußerungen getan. Sie haben schriftlich begründet, als Sie 1988 aus der SED, in die Sie 1958 eingetreten sind, austraten. Es gab die Nische in der DDR?

Mattheuer: Ja, massenhaft. Aber ich habe keine gefunden.

Gaus: Sie sind, sagen Sie, außerhalb der Nische und dennoch verschont geblieben. Lag das an der Prominenz, die Sie gewonnen hatten?

Mattheuer: Die Prominenz habe ich bestimmt nicht als Geburtsrecht mitbekommen.

Gaus: Das heißt aber, dass Sie verschont wurden.

Mattheuer: Da muss in meinem Leben etwas gewesen sein, was mich dorthin brachte. Ich frage mich heute oft, auch als ich meine Stasi-Akten einsah: Wer hat mich eigentlich geschützt?

Gaus: Was hat Sie geschützt?

Mattheuer: Ich habe immerhin Bilder gemacht, ich habe auch Schriftliches getan, was andere in große Schwierigkeiten führte. Es muss also irgendjemand gewesen sein, der meinte, wenn wir den so in die Enge treiben, dass er auch weggeht, dann hat – wie die Sprachregelung war – der Klassenfeind wieder ein gefundenes Fressen.

Gaus: Bei anderen Bedeutenden haben sie nicht diese Rücksicht genommen. Glauben Sie tatsächlich, dass es eine Person war, die Sie suchen oder nicht suchen?

Mattheuer: Ich weiß es wirklich nicht. Weil ich ja oft gefragt werde: Wie konnten Sie damals diese Bilder malen?

Gaus: Ich frage Sie nicht. Ich habe die DDR nicht so gesehen, dass man die Bilder nicht malen konnte. Ich gebe aber zu, dass die meisten Westdeutschen dieses Differenzierungsvermögen gegenüber der DDR eingebüßt haben. Sie haben sich nicht sehr dafür interessiert, und jetzt gehen sie sehr grobschlächtig mit der DDR-Vergangenheit um. Und die wundern sich dann über Ihre Bilder. ist es nicht so, dass die DDR, so wie sie im Rückblick dargestellt wird, so doch gar nicht gewesen ist?

Mattheuer: Sie wird unter anderem von Leuten beschrieben, die sich sehr ängstlich benommen haben. Und je größer die Feigheit oder je größer das Defizit an Zivilcourage war, umso schrecklicher möchte man jetzt die DDR-Verhältnisse darstellen. Weil das entlastet und die eigene Feigheit verständlich macht. Solche Personen gibt es reichlich.

Gaus: Sie gehören zu einer Generation in Deutschland, deren Angehörige – soweit sie an mehr als an sich selber dachten – mehrmals gute Vorsätze, große Erwartungen, hohe Ideale besaßen. Ich nenne die Vorsätze nach dem Krieg 1945, die Erwartungen in die sozialistische Idee, vor allem in Ihren Teil Deutschlands, die Hoffnungen auf die folgende Vereinigung.

Mattheuer: Das ist wieder nicht richtig.

Gaus: Gut. Bitte.

Mattheuer: Mein Vater, von dem ich schon sprach und vor dem ich hohe Achtung hatte, war ein ganz stiller Mensch. Ich bin wohl etwas lauter geworden, weil mich das an meinem Vater immer störte – er hätte eigentlich lauter sein müssen, aber es war ihm nicht gegeben. Mein Vater trat 1947 aus der SED aus. Er war mit dem Vereinigungsparteitag selbstverständlich in die SED eingetreten und trat 1947 wieder aus. Die Tragweite habe ich damals gar nicht begriffen. Aber das war für so einen Mann eigentlich eine tolle Tat. Und ich persönlich war nicht in der FDJ, das ging auch. Sie unterstellen mir doch jetzt, dass ich zu jenen Aktivisten der ersten Stunde gehörte.

Gaus: Nein. Ich sage es noch einmal wörtlich: Sie gehören zu einer Generation – Jahrgang 27 – deren Angehörige – soweit sie an mehr als an sich selber dachten, und Ihre Biografie verrät, dass Sie das getan haben – mehrmals gute Vorsätze, große Erwartungen und Ideale besaßen und diese eingebüßt haben. Ich habe Ansatzpunkte solcher Erwartungen, Hoffnungen und Illusionen genannt: gute Vorsätze, als der Krieg zu Ende war, die Hoffnung – die Sie nicht hatten, die Ihr Vater nicht hatte, die anderen nicht hatten, aber die andere hatten – auf den Sozialismus und die Hoffnungen auf die Folge der Vereinigung. Das ist das, was ich vorgetragen habe. Jetzt kommt Mattheuer – ich frage Sie: Was hat Sie veranlasst, 1958 in die SED zu gehen?

Mattheuer: Meine ganze Biographie zeigt eigentlich diese Bestimmung. Ich hatte an mir erlebt, ich war schon Dozent, dass ich über die Theorie des Sozialismus mehr wusste als die meisten gleichaltrigen Kollegen und die Studenten, die ich zu betreuen hatte. Es war klar, da waren immer zwei Studenten in der Seminargruppe, die berichten mussten, was bei dem Mattheuer vor sich geht. Und dann dürfen Sie nicht vergessen, die große Zäsur in der Sowjetunion, das Tauwetter ...

Gaus: Und da haben Sie 58 gedacht: jetzt kann es Sinn machen, einzutreten?

Mattheuer: Das war die Zeit, wo ich wirklich Hoffnung hatte. Das einzige Mal, vorher nicht. Vorher wusste ich ganz genau, das war von Anfang an falsch. Aber da hatte ich Hoffung, und bin dann in die Partei eingetreten. Das war mein Fehler. Ich bin mit einem deutlichen Text ausgetreten.

Gaus: 1988. Das wäre meine nächste Frage gewesen. Aber wegen der Antwort frage ich noch mal: Was hatte Sie vor 1958 so sicher gemacht, dass das nicht gut gehen werde?

Mattheuer: Der Mangel wurde immer größer, die Geilheit auf Zustimmung der Bevölkerung immer dringender, die Wirklichkeit wurde immer mehr ausgeklammert. Es war klar, dass die wirtschaftliche Entwicklung – wir in der DDR hatten ja immer den Vergleich zur Bundesrepublik...

Gaus: Wir reden jetzt von der Zeit vor 1958, bevor Sie eintraten?

Mattheuer: Ja. Da war ja das Wirtschaftwunder noch glaubhaft und sichtbar für jeden. Wer sich in den Medien informierte, konnte das auch erleben. Wie soll dieses Regime, dieses Mangelregime damit Schritt halten? Es wurde deutlich, dass der Abstand größer wurde. Wenn ich neue Menschen kennen lernte aus verschiedenen Bereichen, habe ich immer gefragt: Was meinen Sie oder meinst Du, wird der Abstand größer oder kleiner? Die haben meist gesagt: der wird größer von Jahr zu Jahr.

Gaus: 1958 eingetreten, 1988 mit einem sehr couragierten Papier oder einer schriftlichen Begründung aus der Parteigrundorganisation ausgetreten. Woran ist die DDR innerlich kaputtgegangen, nicht was die äußeren objektiven Umstände angeht – die Konkurrenz mit den übermächtigen Westdeutschen, das Bündnis mit dem Verlierer, nicht mit dem Gewinner des Kalten Krieges?

Mattheuer: Die DDR allein ist ja nicht kaputtgegangen, sondern dieses gesamte System. Ein System, was auf permanenten Mangel beruht, nicht aus Bösartigkeit, muss scheitern. Der Mangel war der Anfang. Dieses Experiment darf nicht beginnen mit Mangel.

Gaus: Sie haben am Anfang unseres Interviews gesagt: Wir werden uns auf Mangel einrichten müssen.

Mattheuer: Aber das ist ein ganz anderer Mangel.

Gaus: Auf einer höheren Ebene. Ich will es nur wissen.

Mattheuer: Ich hatte vorhin, glaube ich, wörtlich gesagt: dieses Besitzdenken, es müsse sich von Jahr zu Jahr der Wohlstand sichtbar steigern. Das hat nichts mit Mangel zu tun.

Gaus: Sie denken nicht, dass es sogar zum Mangel kommen wird im Laufe der nächsten Jahrzehnte?

Mattheuer: Das kann sein. Wie dann die Menschheit reagiert, weiß ich auch nicht. Aber das östliche System war eigentlich lebensunfähig, weil es dem Individuum die Früchte seiner Leistung nehmen musste und ihm kein Äquivalent für die Leistung geben konnte. Es hat ihm gewisse Anerkennungsschreiben gegeben, es hat ihm auch Geld gegeben. Aber das Geld war nicht mehr funktionsfähig.

Gaus: Anpassung im System der DDR, Anpassung im pluralistischen System des nun vereinigten Deutschlands. Sind Sie überrascht, dass es so viel Anpassung auch im pluralistischen System gibt, soviel Anpassungszwänge?

Mattheuer: Ich bin nicht überrascht. Nebenbei gesagt: Anpassung ist ja nichts Negatives. Das ist eine der großen Leistungen der Menschen.

Gaus: Anpassung ist ein Menschenrecht?

Mattheuer: Natürlich.

Gaus: Aber sich selbst wollen Sie es nicht zubilligen – frage ich mit Respekt –, weil Sie sagen: Ich bin doch bisher stark genug gewesen, mich der Anpassung zu entziehen. Wenn ich stark genug bin, muss ich es tun, aber ich darf es dem Schwachen nicht verübeln. Wäre das eine Antwort?

Mattheuer: Da könnte ich jetzt viele Geschichten erzählen, wo ich mich natürlich auch angepasst habe. Oder wo ich mich zur Hälfte angepasst habe. Als ich meinen „Jahrhundertschritt“ machte, gab es ja eine große Diskussion, und die Leute sind massenhaft gekommen, mancher wird gedacht haben: Wie wird er das wohl erklären? Ich habe dort nicht gesagt, was ich schon wusste: Dieses ist der Leninismus. Sondern ich habe gesagt: Das ist der Stalinismus. Damit war ich eigentlich unangreifbar. Ein solcher Held, der mutig genug war zu erklären, ich meine damit den Leninismus, der war ich nicht.

Gaus: Warum ist die Vereinigung der Deutschen bisher missglückt?

Mattheuer: Weil sie kein verbindendes selbstverständliches Nationalgefühl haben.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Was wollen Sie noch zustandebringen im Leben, wenn es Ihnen möglich ist?

Mattheuer: Erstmal sehr viel, aber vor allen Dingen, mal noch was ganz anderes. Nämlich: Ich möchte den Versuch machen, ein größeres Stück Literatur zu erarbeiten. Das wird mich allerdings so fordern, dass ich die Bildermacherei für eine längere Zeit als das Zweitrangige betrachten werde.