Sendung vom 18.07.2001 - May, Gisela

Günter Gaus im Gespräch mit Gisela May

Ich frage mich, woher diese Genügsamkeit kommt

Gisela May, geboren 1924, bekannt geworden als Interpretin von Brecht-Liedern nach Kompositionen von Weill, Eisler und Dessau. Dreißig Jahre lang gehörte sie dem Berliner Ensemble an. Sie war Mitglied der SED, mehrfache Nationalpreisträgerin der DDR, eine bewußte Staatsbürgerin des anderen deutschen Staates. Heute ist sie vor allem im Fernsehen tätig, aber inzwischen auch mit einem Brecht-Weill-Programm auf die Bühne des Berliner Ensembles zurückgekehrt.

Gaus: Sie sind, Frau May, vermutlich die in New York, Mailand, Moskau, Paris, Sydney berühmteste deutsche Diseuse, die berühmteste Interpretin von Brecht-Songs nach Kompositionen von Kurt Weill, Hanns Eisler und Paul Dessau. Kränkt es Sie gelegentlich, daß die meisten Westdeutschen Sie weit eher als Mutti von Evelyn Hamann kennen aus der Serie „Adelheid und ihre Mörder“?

May: Nein, das kränkt mich nicht. Aber ich muß erst mal lachen, weil es wirklich in der Verbindung ...

Gaus: Das ist ein guter Start in ein Interview. Was ist daran für Sie so zum Lachen?

May: ... weil es solche Extreme sind. Und ich freue mich, wenn diese Randfigur in dieser doch eigentlich recht intelligenten und auch spannenden Serie, die es immerhin zu einer Einschaltquote bis zu sechs Millionen Zuschauern gebracht hat, ...

Gaus: Nach diesem Interview werden es mehr werden.

May: Also, wenn ich in dieser kleinen Rolle immer ...

Gaus: Es stört Sie wirklich nicht?

May: Wirklich nicht. Wenn ich mich mit dieser kleinen Rolle so beim Publikum eingeprägt habe, daß Leute an mir vorbeigehen auf der Straße ...

Gaus: ... und sagen, das ist die berühmte Brecht-Sängerin?

May: Eben nicht, sondern denken, die kenne ich doch, die kenne ich doch. Nun sehe ich ja privat ein bißchen anders aus als in dieser Mutti-Rolle. Dennoch drehen sie sich dann um und sagen: ›Sach nicht immer Muddi zu mir, nicht wahr, Frau May?‹

Gaus: In dieser Reihe sollten Sie mal singen, war geplant. So wie Manfred Krug in seinen „Tatorten“. Kommt das noch mal, daß Sie singen?

May: Das wäre ein Vorschlag an einen Drehbuchautor. Nun sitzt der eine Drehbuchautor in L. A., in Amerika. Man müßte ihm das erst mal in Amerika klar machen. Aber ich bin zu allem bereit.

Gaus: Sie würden es gerne tun?

May: Ja, sicher. Alles, was dieser Rolle verhilft, sich ein bißchen mehr in diese Serie einzubringen, würde ich machen. Da habe ich nichts dagegen. Aber wissen Sie, was mir am meisten Spaß macht? Wenn dieses Publikum, das mich eigentlich nur als „Muddi“ von Adelheid, dieser wunderbaren Evelyn Hamann, kennengelernt hat, in einem meiner Konzerte landet und sagt: ›Ach, das ist ja die ...‹

Gaus: ... Diseuse?

May: Ja, dann freue ich mich.

Gaus: Frau May, zu Ihrem Leben, zu Ihrer Arbeit als Bühnenkünstlerin gehörte immer auch ein politisches Bewußtsein. Wir werden darauf in diesem Interview zu sprechen kommen. Hier frage ich schon mal: Hat sich die Mehrheit der Deutschen in Ost wie West, hatte sich die Mehrheit weiter auseinandergelebt, als die Mehrheit nach der Vereinigung geglaubt hat? Hat es da Täuschungen gegeben auf beiden Seiten, Illusionen?

May: Ganz sicher. Die Illusionen kurz nach der Wende waren zunächst auf der östlichen Seite. Weil vor allem die jungen Menschen geglaubt haben, jetzt komme das Paradies. Sie kannten ja nichts von der Bundesrepublik. Sie kannten überhaupt kein kapitalistisches Land und glaubten, jetzt werde alles wunderbar. Die sind in erster Linie frustriert. Mit der westdeutschen Bevölkerung war es anders. Die haben sich wahnsinnig gefreut über die Wiedervereinigung – ich auch, denn meine Freunde lebten da. Aber ich wußte, was an Schwierigkeiten auf uns zu kommen würde, und das wußten die Westdeutschen nicht. Diese Euphorie der Vereinigung ist ja nun überall weg. Es läuft augenblicklich wieder mehr auseinander. Das ist schade.

Gaus: Das Trennende wächst schneller als das Zusammenführende?

May: Im Moment ja. Auch durch diesen sehr massiven Wahlkampf, der im Augenblick stattfindet, in dem immer wieder nur auf die Vergangenheit Bezug genommen wird.

Gaus: In Berlin?

May: Nicht nur in Berlin. In der gesamten Politik wird immer wieder nur auf die Vergangenheit Bezug genommen. Alle Untaten werden aufgeschlüsselt, und man muß sich dazu rechtfertigen. Es geht nicht um die Zukunft.

Gaus: War die deutsche Teilung, Frau May, nur eine politisch-staatliche Teilung, oder auch eine soziale? Ich hatte den Eindruck, als ich hier privilegierter Beobachter DDR war, daß es auch eine soziale Teilung war. Ich habe darüber geschrieben. Es ist eigentlich nie so richtig ins Bewußtsein gedrungen, glaube ich. Die Eigentums- und Besatzungspolitik, auch die Bildungspolitik der SED vertrieb große Teile des Mittelstands, der größeren Bauern und der Akademiker. Es blieb im Grunde eine Schicht zurück, die sich erst im Laufe der Zeit wieder auffächerte. Die erste Frage in diesem Zusammenhang: War diese Teilung auch eine soziale Teilung? Und zweitens: Trägt das zu der Fremdartigkeit im Umgang zwischen Ost und West immer noch bei?

May: Sie haben eine Tatsache übersehen, und diese erscheint mir die entscheidende. Wir hatten eine getrennte Währung. 1948 hat die Bundesrepublik mit der D-Mark sich dem Dollar angeschlossen, während wir am Rubel hingen und eine Währung bekamen, die in der westlichen Welt nichts mehr wert war. Insofern war dieser soziale Unterschied schon durch die unterschiedliche Währung gegeben.

Gaus: Was ist für Sie noch immer – auch zehn Jahre nach der Wende – das Fremdartigste an den Westdeutschen?

May: Fremdartig würde ich das nicht nennen. Was mich immer wieder erstaunt – als Schauspielerin reagiere ich in erster Linie auf die Impulse, die vom Publikum kommen –, daß sie wahnsinnig gerne lachen und viel mehr lachen über Dinge, bei denen wir sagen: Ja, kann man darüber eigentlich lachen? Das ist etwas, was ich ganz besonders beobachte: sie schütten sich aus vor Lachen.

Gaus: Das finden Sie nachahmenswert und gut?

May: Nein, im Gegenteil, da staune ich drüber, wo diese Anspruchslosigkeit herkommt, sich über Dinge zu amüsieren ...

Gaus: Heißt das im Umkehrschluß, daß die Ostdeutschen soweit dem deutschen Ruf gerechter werden, daß sie über allem schwer werden und grüblerisch nachsinnen?

May: Vielleicht wollen sie alles mehr in der Tiefe nachvollziehen und überlegen: ›Wie war denn das gemeint? Ist da vielleicht nicht noch ein Hintergedanke dabei?‹ Wir waren mehr dazu erzogen, zwischen den Tönen, zwischen den Texten zu hören, und diese Erziehung ist geblieben.

Gaus: Zur Person Gisela May: Geboren am 31. Mai 1924 in Wetzlar, ein ebenso künstlerisches wie politisches Elternhaus. Der Vater Ferdinand May ist Schriftsteller und Dramaturg. Er ist sozialdemokratisch organisiert. Die Mutter Käte May ist Schauspielerin und kommunistisch gesinnt. Sozusagen die private Einheit der Arbeiterklasse. Erzählen Sie bitte von Ihren Eltern. Worin sind Sie geprägt worden von ihnen? Hat es Konflikte gegeben zwischen der aufwachsenden Gisela May und diesem Elternhaus?

May: Ich hatte ein wunderbares Elternhaus. Ich hatte ein politisch sehr engagiertes Elternhaus. Ich bin aufgewachsen in der Nazizeit. Wegen des Elternhauses bin ich nicht der Gefahr erlegen, den Nazis auf den Leim zu gehen. Und ich hatte ein künstlerisch engagiertes Elternhaus. Mein Vater hat mich, als ich zwölf Jahre alt war, bereits an Brecht herangeführt. Wir hatten die erste Schallplatte von der „Dreigroschenoper“, die ich mit zwölf, dreizehn Jahren gehört habe, als wenn das Schlager wären. Meine Mutter war diejenige, die ich abgöttisch geliebt habe. Wir hatten auch ein sehr gastfreundliches Elternhaus. Es verkehrten viele Künstler bei uns, natürlich alles Leute aus dem linken Spektrum. Und als ich mich mit dreizehn Jahren entschlossen hatte, Schauspielerin zu werden, war das Glück meiner Eltern groß. Ganz im Gegensatz zu vielen anderen Kollegen, die sich erst einmal gegen Widerstände durchsetzen mußten.

Gaus: Ein Jugendfreund von Ihnen ist als Kommunist in Plötzensee hingerichtet worden.

May: Ja.

Gaus: Würden Sie darüber etwas sagen?

May: Er hat mein Leben ungeheuer stark beeinflußt. Ich war gerade in der Zeit, in der ein junger Mensch sehr offen, sehr sensibel und sehr emotional empfänglich ist. Er war ein glänzender Pädagoge. Er hat mir das Klavierspielen beigebracht.

Gaus: Wir reden jetzt nicht über Ihren Vater?

May: Nein.

Gaus: Wir reden von Ihrem hingerichteten Jugendfreund.

May: Ja, von dem Sass Schmidt. Er wurde inhaftiert, weil man bei ihm eine Druckmaschine gefunden hatte, auf der stand: ›Verhindert den Krieg! Seid gegen den Krieg!‹ Das genügte, um ihn einzusperren und zum Tode zu verurteilen. Er saß 129 Tage in der Todeszelle, bis man das Urteil vollstreckte.

Gaus: Ist die sozialistische Idee die politische und geistige Heimstatt von Gisela May geblieben?

May: Ja. Meine Grunderlebnisse sind der Krieg, die Nazizeit, der Verlust meines Bruders, der in diesem Krieg geblieben ist, das Hungern, die Trümmer. Dieses ganze Grauen sitzt so tief in mir und meiner Generation, daß ich das nicht abschütteln kann. Wir wollten eine echte Alternative zu diesem kapitalistischen System, das ja zu Hitler geführt hat. Die Kommunisten waren die einzigen, die gesagt haben: ›Hitler bedeutet Krieg.‹
Die Sozialdemokraten haben ja noch die Kriegskredite bewilligt.

Gaus: Für den ersten Weltkrieg.

May: Für den ersten Weltkrieg. Mein Vater ist als glühender Pazifist aus dem 1. Weltkrieg zurückgekommen. Und diese pazifistische Haltung hat sich bei ihm fortgesetzt. Er hat versucht, sich irgendwo politisch zu engagieren. 1928 ist er in die SPD eingetreten. Meine Mutter – die Frauen sind ja meistens etwas radikaler – ging in die KPD. Und wie Sie das schon angedeutet haben, fand der Vereinigungsparteitag – für den man sich jetzt entschuldigt hat – bei uns in Familie ganz wunderbar statt, und es gab überhaupt keine Konflikte bei meinen Eltern.

Gaus: Sagen Sie bitte nach Ihrer selbstkritischen Einschätzung und nach Ihrer Beobachtung seit der Wende: Ist die Anpassung unter den Westdeutschen, die Anpassung an das Vorherrschende, geringer, als sie unter den Ost-deutschen war, ist sie anders, oder ist sie im Grunde dasselbe?

May: Ich verstehe nicht, was Sie mit Anpassen meinen. Woran anpassen?

Gaus: Ans Herrschende, an die vorherrschende Meinung.

May: Meinen Sie nach der Wende oder davor?

Gaus: Ich meine, sind die Ostdeutschen in ihrem System zu mehr Anpassung erzogen worden als die Westdeutschen?

May: Ja sicher, das kann man nicht leugnen. Es war ja doch eine Art Diktatur, zunächst wurde das ja auch ganz offiziell so genannt. Später wurde es die Deutsche Demokratische Republik, und da wir eine Mangelgesellschaft hatten, mußte man sich anpassen, mußte man sich gegenseitig helfen, mußte man immer wieder jemanden suchen, der einem in einer bestimmten Situation etwas beschaffte, was man brauchte. Man mußte sich in dieser Hinsicht mehr anpassen, während das in Westdeutschland ja gar nicht nötig war. So würde ich die Anpassung eher verstehen, als daß man Angst haben mußte vor einem System. Aus Angst mußte man sich nicht anpassen.

Gaus: Mußte man nicht?

May: Nein, das glaube ich nicht, daß man sich aus Angst hätte anpassen müssen.

Gaus: Sie wissen, daß Sie mit dieser Antwort viel üble Nachrede bekommen werden. Weil alle Dissidenten, alle Bürgerrechtler – vielleicht nicht alle – sagen werden: ›Wieso sagt die, daß man sich nicht aus Angst vor der Gewalt der SED anpassen mußte?‹

May: Sie haben sich ja eben nicht angepaßt.

Gaus: Eben.

May: Sie hatten keine Angst, die Dissidenten, und weil sie keine Angst hatten, haben sie es ja überhaupt nur durchgesetzt. Also meine ich, eine Angst war es nicht, aus der heraus sie gehandelt haben. Ich selbst habe mit einem zusammengelebt, auf den wir wahrscheinlich noch zu sprechen kommen werden. Er hatte keine Angst, als er versuchte …

Gaus: Nach acht Jahren Zuchthaus.

May: Ja. Wenn er das zuvor gewußt hätte, hätte er vielleicht Angst gehabt. Er hatte sie nicht. Er war ja so naiv zu glauben, daß seine Plattform, die er ausgearbeitet hatte, eine Verbindung zur Westberliner SPD herstellen könnte, auf deren Grundlage dann eine Wiedervereinigung stattfinden könnte. Diese Naivität hatte ja wieder eine Ursache: weil in der Sowjetunion das „Tauwetter“ war, und er glaubte, daß es auch in der DDR eine Lockerung in der Politik gäbe.

Gaus: Frau May, Sie sind in dieser Sendereihe – und das sage ich mit großem Respekt – die erste Partnerin, die die Regie übernimmt.

May: Oh, entschuldigen Sie.

Gaus: Nein überhaupt nicht. Wenn ich es nicht hübsch fände, würde ich es nicht erwähnen, es würde ja keiner sonst wissen. Ich finde das sehr hübsch.

May: Ich verstehe das so gut.

Gaus: Ich danke Ihnen. Wir kommen auf Wolfgang Harich noch, aber ich möchte jetzt erst bei Gisela May bleiben. Sie haben gesagt, als Sie dreizehn waren, war es für Sie sicher, Sie wollten Schauspielerin werden.

May: Ja.

Gaus: Einen Zweifel daran hatten Sie nie?

May: Nein.

Gaus: Sie wurden von 1940 bis 1942 an der Theaterschule in Leipzig ausgebildet. Sie haben erste Engagements in der Provinz gehabt, darunter in Dresden, wo Sie im Schloß gewohnt haben. Ist das richtig?

May: Ich war mit 17 in meinem ersten Engagement in Dresden. Da ich eine Romantikerin war, suchte ich ein möbliertes Zimmerchen und besuchte andererseits aus Wissensdurst das Schloß in Dresden – vor der Zerstörung. Ich sah oben im vierten Stock Gardinen hängen und dachte, wenn da Gardinen sind, dann wird da jemand wohnen. Dann bin ich die Wendeltreppe hinauf, habe geklingelt und sagte: „Haben Sie vielleicht ein Zimmerchen zu vermieten?“ „Ja“, sagten die, „warum nicht“. Und so wurde ich Schlossbewohnerin.

Gaus: Auf sächsisch. Können Sie das nachmachen?

May: Ja freilich. Ich bin ja in Leipzig groß geworden.

Gaus: Und dann haben Sie dort im Schloß gewohnt?

May: Dann habe ich da gewohnt, und es war ganz wundervoll. Ich guckte immer auf diesen herrlichen Innenhof. Bloß es gab ein Problem: Da im Keller das berühmte Grüne Gewölbe war, wurde das Schloß an der Vordertür abends um neun von einem Kastellan geschlossen.

Gaus: War das für die siebzehn Jahre junge Schauspielerin lästig?

May: Es hatte seine Problem, denn wenn ich jemanden mitbringen wollte, mußte ich ihn vor neun mitbringen, und ich konnte ihn erst wieder kurz nach sechs Uhr morgens entlassen.

Gaus: Das hat die Bekanntschaften also möglicherweise vertieft.

May: Damit fing es an, im ersten Engagement, ich gebe es zu.

Gaus: Kehren wir zur Theaterarbeit zurück. Sie sind von 1951 bis 1992 an zwei hochbedeutenden Bühnen Deutschlands gewesen. Bis 1962 am Deutschen Theater unter dem Intendanten und Regisseur Wolfgang Langhoff und von 1962 bis 1992 an Bert Brechts Theater, dem Berliner Ensemble, damals, als Sie hinkamen, unter Leitung von Helene Weigel. Beides Theater in Ostberlin. Dazu habe ich mehrere Fragen. Zunächst diese: Wenn Gisela May zum Beispiel dreizehn Jahre lang den Karren von Mutter Courage am Berliner Ensemble über die Bühne zieht, dann will Sie mit Ihrer Darstellungskunst etwas bewirken. Das Theater ist eine moralische Anstalt. Sie wollen die Menschen verändern.

May: Das ist schön, daß Sie das sagen.

Gaus: War das so? Was wollten Sie verändern an den Menschen? Was wollten Sie bewirken?

May: Es war ein Wunsch von Brecht – wir wollten in erster Linie Geschichtsbewußtsein erzeugen. Wir wollten die Leute zum Denken bringen, zum Mitdenken, aber nicht etwa zum Mitfühlen. Fühlen und Denken – das gehört zusammen.
Es ist oft ein Mißverständnis, daß man denkt, bei Brecht ist alles so kalt, da wird nur gedacht und nur Theorie gemacht. Es war Gefühl und Verstand gleichermaßen. Aber es sollten die Fehler, die man gemacht hat, nicht noch einmal gemacht werden. Er wollte ein Mitdenken auslösen und Fragen: Warum? Er hat ja nie Antworten gegeben von der Bühne, sondern alles, was auf der Bühne geschah, war, um das Publikum zu fragen: Warum reagiert die? Warum sagt denn diese Courage am Ende zu den Soldaten: „Nehmt mich mit!“? Sie hat nicht begriffen, daß der Krieg ihr die drei Kinder genommen hat. Sie hat immer noch geglaubt: der Krieg ist mein Brotgeber. Ich brauche ihn.

Gaus: Wenn man Ihnen zuhört, drängt sich die Frage auf: Wieviel Bitterkeit ist in Ihrem Leben, wenn Sie zurückblicken? Wieviel Bitterkeit wegen nichtrealisierter Träume?

May: Ich würde sagen, Bitterkeit geht zu weit. Dann würde ich ja wirklich als Mensch gar keine große Lebensfreude mehr haben. Ich würde eher sagen, es ist ein Erkennen, wie unglaublich schwer es ist, Menschen mit Vernunft zu erreichen, Menschen zum selbständigen Denken zu bringen. Das war ja in der Hitlerzeit völlig weg, die konnten ja gar nicht mehr selbständig denken.

Gaus: Man sagt, es war in der DDR weg. Es war nicht wohlgelitten.

May: Es war nicht wohlgelitten. Das ist schon richtig. Die Zeitungen waren langweilig. Aber Langeweile ist noch nicht dasselbe wie verdummen. Ich glaube, verdummen war mehr in der Westpresse möglich, zumindest in den Boulevardblättern. Das gab es bei uns nicht. Bei uns waren die Zeitungen langweilig, aber man konnte, wenn man es beherrschte, zwischen den Zeilen doch einiges lesen. Man wurde eigentlich zum selbständigen Denken animiert, schon um auch gegen etwas zu sein. Wenn man gegen etwas ist, wird man ja viel aktiver, als wenn man immer nur mitläuft.

Gaus: Jetzt stilisieren Sie die Bürgerrechtler zu einer Mehrheit in der DDR. Das waren Sie nicht.

May: Nein, das waren sie nicht. Ich war auch keine, das gebe ich zu.

Gaus: Gisela May als Mutter Courage. Ich habe Sie 1978 in der Premiere bewundert. Vorher war diese Krämerin aus dem 30jährigen Krieg von Helene Weigel, Brechts Frau, gespielt worden. Wie sind Sie damit fertig geworden, die Nachfolgerin in dieser berühmten Rolle, von „der Weigel“, zu werden?

May: Das war eigentlich mit die schwerste Aufgabe, die ich je in meiner künstlerischen Entwicklung vollbracht habe. Ich hatte ja mein größtes Theatererlebnis, als ich noch in Halle engagiert war und nach Berlin fuhr, um die Weigel als Courage zu sehen. Das ist nach wie vor das größte Theatererlebnis, das ich hatte.

Gaus: Haben Sie die Giehse gesehen?

May: Auch, ja.

Gaus: Ich unterbreche mich jetzt selber und komme auf die Frage später zurück. Ich habe das große Glück gehabt und 1950 – damals gab es noch Gastspiele des Berliner Ensembles im Westen – in den Kammerspielen in München Therese Giehse als Mutter Courage gesehen. Und im Sommer des Jahres 1950 oder 1951, das kann ich jetzt so genau nicht sagen, habe ich dann die Helene Weigel gesehen. Wer hat Sie mehr angesprochen? Ich habe diese Frage auch Adolf Dresen gestellt.

May: Mich hat die Weigel mehr angesprochen. Ich fand die Therese Giehse wunderbar. Aber sie blieb bis zum Ende eigentlich immer noch eine kraftvolle Frau, die, so glaube ich, auch den 30jährigen Krieg – den ja Brecht als Sinnbild genommen hat – weiter mitgemacht hätte. Bei der Weigel hat man gespürt, daß sie am Ende nicht mehr konnte.

Gaus: Die Nachfolge der Weigel als Mutter Courage: Wie sind Sie damit fertig geworden?

May: Das war furchtbar, weil ich den ganz falschen Weg gegangen bin. Ich habe mir auf den Proben immer wieder die Bänder von der Weigel angehört, weil ich sie eben so grandios fand in dieser Rolle, weil ich überhaupt dieses ganze epische Theater zum ersten Mal erlebt hatte. Das war ja die erste Aufführung, die in Brechts Regie 1948 im Deutschen Theater stattfand. Das war für mich umwerfend. Nun wollte ich eben die Weigel studieren, und dann „weigelte“ ich. Ich fing plötzlich an, etwas Österreichisch zu sprechen, und über meinen Tonfall dachte ich: Das bin ich doch gar nicht mehr. Da war plötzlich die Weigel. Also das mußte ich dann alles vergessen. Bis zur Premiere … Dann rutsche ich in ein Regiekorsett hinein, in dem ich mich dann so verbiß und mir gar nichts mehr traute. Es war ein furchtbarer Prozeß. Auch bei der Premiere war ich noch nicht so. Nach zehn, zwölf Vorstellungen wurde dann die May zur Courage.

Gaus: Ich habe Sie zweimal gesehen. Einmal in der Premiere ...

May: Tatsächlich?

Gaus: … und Jahre später noch mal. Ich habe den Wahrheitsgehalt der Antwort überprüft und bestätige ihn.

May: Da werde ich noch lange drüber nachdenken, was Sie eben gesagt haben.

Gaus: Der Komponist Hanns Eisler hat Sie als Diseuse entdeckt. Er hörte Sie als eine Vertretung in einem Brecht-Weill-Programm und sagte Ihnen danach, das sollten Sie weiter machen. Sie haben es weiter gemacht bis zum Weltruhm. Können Sie bitte versuchen, Ihre Auffassung davon, wie ein politisch-literarisches Lied vorgetragen werden soll, zu erläutern?

May: Wieviel Minuten habe ich?

Gaus: Zwei.

May: Zwei. Ja also so eine Frage in ...

Gaus: Das ist sehr viel Zeit.

May: Gut. Das heißt, ich muß mich mit dem Inhalt beschäftigen. Ich muß mich mit der Zeit beschäftigen, in der es entstanden ist. Ich muß versuchen, sowohl dem Text als auch der Musik gerecht zu werden. Ich darf singen. Viele Schauspieler denken: Ach Gott, ich bin ja Schauspieler. Wenn ich ein bißchen Sprechgesang mache, genügt das. Aber bei Eisler oder bei Dessau genügte es nicht. Zumal sie ihre eigenen, wunderbaren Vorstellungen hatten, wie man einen Text musikalisch weiter bearbeitet und gestaltet. Also beidem mußte man gerecht werden. Andererseits mußte man auch eine gewisse Zurückhaltung üben, denn ein Lied ist ja eine andere Kunstform als eine realistische Theaterfigur.

Gaus: Brecht hat gewarnt vor der narkotischen Wirkung, die Musik haben könnte. Er hat gesagt: „Ihr dürft diese narkotische Wirkung der Musik nicht in die Lieder hineintragen.“ Haben Sie das so verstanden und gesagt: Das ist wahr. Ich darf es nicht wohlklingender machen, als die Situation und der Text es zulassen.

May: Ich möchte Ihnen jetzt keinen Vortrag halten, was diese Interpretation anbetrifft, aber da sind Unterschiede. Wenn ich Kurt Weill interpretiere, ist musikalisch durchaus ein kulinarisches Erlebnis dabei; weil Kurt Weill große Melodien geschrieben hat, und denen muß man auch folgen. Bei Eisler ist es eine ganz andere Art der Musik. Da ist eine kämpferische Musik, eine Musik, die zum Teil spröde ist. Das wird dann bei Paul Dessau noch spröder. Diese verschiedenen Farben und musikalischen Formen muß man interpretieren. Und so muß man auch in der Interpretation bei einem Eisler-Song ganz anders sein, als wenn ich die Seeräuber-Jenny interpretiere.

Gaus: Surabaya-Song. Mein höchstes ist der Surabaya-Song.

May: Na klar. Natürlich, meines auch...

Gaus: ... sagt Gisela May. Das Deutsche Theater und das Berliner Ensemble damals, als Sie dort arbeiteten: Wie unterscheidet sich Theater nach Ihrer Erfahrung, nach Ihrer Beobachtung jetzt, wie unterscheidet sich das damalige Theater als künstlerischer Betrieb – und ich frage jetzt nicht nur speziell nach den beiden genannten Theatern – sondern grundsätzlich: Wie unterscheidet sich Theater damals vom Theater heute?

May: Es wird Sie verwundern, daß ich da zunächst von Geld spreche. Die DDR-Theater hatten Geld. Der Staat stellte ihnen so viel Geld zur Verfügung, wie sie brauchten. Wenn Brecht sagte: „Ich bin noch nicht fertig mit den Proben.“ Dann probierte er nicht sechs Wochen, sondern er probierte ein halbes Jahr, und das wurde finanziert. Heute muß alles unter dem Gesichtspunkt gesehen werden: Es muß sich rechnen ...

Gaus: Die DDR gibt es nicht mehr, vielleicht auch, weil sie solche Proben zugelassen hat.

May: Sicher nicht. Vielleicht war sie auf dem Gebiet besonders großzügig, aber ich denke schon, daß wir sehr viele Möglichkeiten hatten damals. Wir erzogen uns ein Publikum, was ein ungeheuer intelligentes Publikum war. Wir hatten ein wunderbares Publikum. Der Gesichtspunkt eben: Es muß ausverkauft sein jeden Abend. Wir waren immer ausverkauft, aber aus anderen Gründen. Dieses „Es muss sich rechnen“, dieser Gesichtspunkt: „Die Proben müssen schnell sein“, „Wir haben nicht länger als vier Wochen“ oder „Sechs Wochen ist das höchste“ ... Das spielte keine Rolle.

Gaus: Hat sich die Macht der Regisseure verändert? Ist die Macht der Regisseure größer geworden?

May: Die Macht der Regisseure hat sich verändert. Aber nicht in dem Sinne, daß sie sich vergrößert hat, sondern daß es Regisseure gibt, die glauben, sie müssen sich selbst verwirklichen. Und sie benutzen ein Stück nur als Rohmaterial, z. B. auch ein Stück von Brecht, was ich einfach als eine unbeschreibliche Arroganz empfinde, die dann aus einem Stück ein eigenes Produkt macht. Wir waren mehr für ein „Dem-Werk-gerecht-Werden“. Das war unsere Absicht.

Gaus: Jetzt kommt Wolfgang Harich wieder in unser Interview hinein. Sie haben nach einer gescheiterten Ehe ...

May: Das war eine schöne Ehe.

Gaus: Sie haben die Ehe gebrochen.

May: Ich würde nicht sagen, daß sie von Anfang an gescheitert war.

Gaus: Niemand sagt „von Anfang“ an. Die Ehe ist gescheitert, weil Sie sie in Italien mit einem Italiener gebrochen haben und Ihr Mann damit nicht fertig wurde.

May: Erstens war es der nicht, es war ein anderer. Aber wo haben Sie denn das alles nachgeforscht?

Gaus: Ich pflege, mich vorzubereiten. Sie haben jedenfalls nach einer Ehe ...

May: Schauen Sie, ich kam aus einem grauen Land. Die DDR war ja wirklich für viele Jahre ein graues Land. Ich hatte den Vorzug und das Privileg – ich empfand das durchaus als Privileg –, in ein Land zu fahren wie Italien, wo schon die Luft anders war und die Erotik in der Luft lag. Daß ich da schwach geworden bin, habe ich angenommen, daß das für unsere Ehe nicht sehr entscheidend sein würde. Aber das war es.

Gaus: Sie haben jedenfalls ...

May: Wir hatten damals unter einem ganz hohen Gesichtspunkt geheiratet. Ich habe erst sehr spät geheiratet. Ich war ja schon über dreißig. Und ich habe einen jüdischen Deutschen geheiratet, der meinetwegen sich hat von einer Jüdin scheiden lassen. Er war aus der englischen Emigration gekommen. Ich hatte eine große Verantwortung auch seinem Kind gegenüber. Das war also eine ganz schlimme Zeit. Wir wollten eigentlich darüber nicht sprechen.
Aber wenn Sie mich danach fragen, muß ich da so ehrlich sein. Das war schon ganz schlimm, was ich ihm da angetan habe. Aber es hing auch damit zusammen, daß ich aus einem grauen Land in ein Land kam, in dem Milch und Honig flossen, in dem ich vergöttert wurde auch als Schauspielerin. Ich hatte ja die erste Solokarriere in Italien und nicht etwa in der DDR. Da wollte das gar keiner wissen.

Gaus: Ich komme auf Wolfgang Harich. Sie haben von 1965 bis 1974 in Ostberlin mit ihm zusammengelebt.

May: Das war der zweite Versuch.

Gaus: ... der nicht zur Ehe führte.

May: Der nicht zur Ehe führte, aber langjährig war.

Gaus: Das ist wahr. Harich, Jahrgang 1923, war das intellektuelle Wunderkind der frühen DDR gewesen. Ein hochgebildeter marxistischer Philosoph, Lektor, Autor, Theaterkritiker. Sie selbst haben ihn vorhin charakterisiert als naiv, als illusionär. Er wollte auf einer durchaus sozialistischen Plattform eine Vereinigung zwischen den beiden deutschen Staaten fördern. Er wollte Ulbricht stürzen, weil er dachte, das ist dafür nötig. Er hat für diese Verschwörung mit anderen acht Jahre im Zuchthaus gesessen. Er blieb bis zu seinem Tod Mitte der 90er Jahre ein überzeugter Marxist, auch ein Anhänger der DDR. Sie haben ihn erst nach seiner Haft kennengelernt. Erzählen Sie das, bitte! Wie war das? Da kommt ein Mann aus acht Jahren Zuchthaus ...

May: Wir alle wußten von seinem Schicksal. Wir alle haben daran unendlich Anteil genommen. Helene Weigel ganz besonders. Als er endlich wieder heraus war aus dieser grauenhaften Zeit, war einer seiner ersten Besuche ein Theaterbesuch. Seine Freundschaft zu Brecht, der ja nicht mehr lebte, wollte er mit Helene Weigel weiterführen. Er suchte natürlich auch Kontakte. Manfred Wekwerth, unser damaliger Intendant, machte eine Durchsage: ›Liebe Kollegen aus der Vorstellung. Kommt alle nach der Vorstellung in die Kantine. Wolfgang Harich ist frei. Wir wollen ihn alle begrüßen.‹ Wir trafen uns in unserer berühmten „BE-Kantine“. Wir sahen uns. Ich mochte ihn, und ich sah, daß er mich auch mochte. Wir verabschiedeten uns nach einem wunderbaren Gespräch, das wir alle zusammen hatten – das ganze Ensemble. Es war ein wunderbarer, unvergeßlicher Abend, und wir sagten: ›Vielleicht sieht man sich wieder, irgendwo.‹ Einige Monate später war der 1. Januar. Meine liebe Nachbarin, die bei mir auf demselben Flur wohnt, Elisabeth Hauptmann, Mitarbeiterin von Brecht ...

Gaus: Die angeblich einige der Brecht-Stücke geschrieben haben soll.

May: Nun, das hat sie selber nie behauptet. Niemals. Sie hat auch nie ein böses Wort über Brecht gesagt, als wir dort miteinander wohnten. Jedenfalls wollte ich am 1. Januar ihr zum neuen Jahr gratulieren, weil sie eine wunderbare Frau war. Ich habe sie sehr geliebt. Ich klingelte, und wer öffnete die Tür? Wolfgang Harich. Er war zu dem selben Zweck erschienen. Wir plauderten mit Elisabeth. Es war bezaubernd. Als die nächsten Gratulanten zum neuen Jahr kamen, sagte ich etwas ganz ahnungslos zu ihm: ›Ach, lieber Wolfgang Harich, wollen Sie vielleicht noch einen Moment zu mir rüberkommen und mit mir einen Tee trinken?‹ Und dann blieb er neun Jahre.

Gaus: Sie haben Harich und mich auf seinen Wunsch Mitte der 70er Jahre zusammengebracht.

May: Ja.

Gaus: Er schien mir Lebensängste zu haben. Aber er schien kein gebrochener Mann zu sein. Was ist Ihr Eindruck, der Ihnen geblieben ist von diesem Manne? War er sich selber treu?

May: Nein, da muß ich widersprechen. Keine Lebensängste.

Gaus: Er hatte große Lebensangst wegen einer Herzoperation.

May: Das war eine medizinische Angelegenheit.

Gaus: Ja.

May: Aber die hatte ja nichts mit seiner Einstellung, mit seiner Lebenshaltung zu tun.

Gaus: Ist er sich treu geblieben als Kommunist?

May: Ja. Er hat sich natürlich eine andere DDR gewünscht. Er hat sich eine demokratische Variante erträumt. Darum hat er ja auch gelitten. Aber er ist seinen sozialistischen Idealen treu geblieben.

Gaus: Nach der Wende sind Sie Anfang der 90er Jahre Knall auf Fall ...

May: Ach, ich hätte soviel dazu zu erzählen...

Gaus: Sagen Sie noch was.

May: Wissen Sie, es war ja die Zeit, wo wir uns dann leider getrennt haben. Aber wir sind bis zu seinem Lebensende wunderbar befreundet geblieben. Ich konnte ihn in jeder Frage immer wieder um Rat fragen. Er versuchte, zu den Grünen in Westdeutschland Kontakt zu bekommen und war sehr enttäuscht.

Gaus: Er hat im Grunde ein stalinistisches Ökologiesystem propagiert. Ich habe ihn gefragt: ›Wer kontrolliert die Kontrolleure? Dies ist ja nun mal die Grundfrage jedes sozialistischen Systems.‹ Ist er mit sich im reinen gewesen?

May: Ich glaube ja. Da seine ganze Lebenshaltung auch dem Luxus abhold war, er war durchaus entschlossen, ein sehr einfaches Leben zu führen. Er war natürlich auch ein Satiriker und ein Ironiker. Als er einmal gesagt hat: ›Man müßte eine ganze Mauer um Berlin bauen‹, war das doch auch nur als Scherz gemeint. Aber irgendwo war was dran. Er ist nie Auto gefahren. Er war ein ökologischer Fanatiker.

Gaus: Das war er wirklich.

May: Er war wirklich ein Fanatiker. Und da hat man es natürlich schwer, auch in jeder Demokratie hat man es als Fanatiker schwer.

Gaus: Nach der Wende sind Sie, Frau May, Anfang der 90er Jahre Knall auf Fall nach 30 Jahren Zugehörigkeit zum Berliner Ensemble von diesem Theater entlassen worden. Sie sind, so sagen Sie, in ein tiefes Loch gefallen.

May: Darf ich Sie ganz kurz korrigieren? Es war nicht das Theater. Es war ein fünfköpfiges Team.

Gaus: Ja, eine neue Intendanz.

May: Eine neue fünfköpfige Intendanz, die schwachsinnigerweise eingesetzt worden war, die sich untereinander auch nicht vertragen haben. In dieser Interimszeit geschah das.

Gaus: Sie jedenfalls waren entlassen und sind, sagen Sie, in ein sehr tiefes Loch gefallen. Haben Sie schlimme Gedanken gehabt? Haben Sie dran gedacht, vielleicht das Leben zu beenden?

May: Nein, niemals. Komödiant zu sein, ist wunderbar, und dem Publikum Erlebnisse zu verschaffen, ist herrlich. Aber das nicht mehr zu können, ist für mich kein Grund, sich das Leben zu nehmen. Ich habe dann versucht, was könnte ich machen, irgendeine soziale Tätigkeit. Vielleicht in ein Krankenhaus zu gehen und den Kranken was vorzulesen. Bis dann endlich wiederum das Glück mir hold war. Inge Meysel war schuld, daß ich wieder Theater spielte. Das wissen Sie gar nicht. Inge Meysel sollte nämlich das Stück „Der rote Hahn“, eine Nachfolge nach dem berühmten „Biberpelz“, im Renaissance-Theater spielen. Sie hat nach 14 Tagen aufgehört zu probieren, weil sie mit dem Regisseur nicht klar kam. Und er rief mich an. Und ich hab gesagt: ›Ja, klar. Gern.‹ So bin ich sehr bald wieder in Arbeit gekommen, so daß also dieses tiefe Loch Gott sei Dank eigentlich recht schnell wieder beendet war.

Gaus: Gehört Zähigkeit nach Ihrer Selbsteinschätzung zu Ihren Charaktermerkmalen?

May: Nein, das Wort würde mir nie in den Sinn kommen. Das finde ich auch ein unangenehmes Wort. Ich würde eher sagen Leidenschaft. Die Leidenschaft zu meinem Beruf ist mir geblieben und die wird mir ewig bleiben.

Gaus: Sie haben einmal Mitte der 90er Jahre in Pankow – so habe ich mir berichten lassen – ein Konzert gegeben. Diese Brecht-Interpretin, diese Diseuse, die für ihren Staat bei der Aufnahme in die UNO ein Kulturprogramm gegeben hat in New York ...

May: Schön, daß Sie das wissen.

Gaus: …, die in Sydney gewesen ist. Sie haben in Pankow, in einem nördlichen Vorort von Berlin, der bekannt war, weil es das Synonym war für die DDR-Regierung in den ersten Jahren der DDR in der Westpresse. Aber das ist nicht der Punkt. Das sage ich nur, bevor es irgendeiner falsch versteht. Sie haben in einem solchen kleinen Stadtviertel ein Konzert gegeben Mitte der 90er Jahre vor zwanzig Zuhörern. Das heißt, Sie sind dort aufgetreten und haben Ihr Programm gemacht. Wenn es zwei gewesen wären, hätte es Gisela May auch gemacht?

May: Also das muß in meiner Erinnerung verdrängt worden sein. Ich kann mich nicht erinnern.

Gaus: Ich kenne jemanden, der dort war.

May: Wirklich?

Gaus: Ja.

May: Dann war das schlecht organisiert, denn ich habe in Pankow ansonsten Konzerte gegeben, die immer ausverkauft waren.

Gaus: Dann war es schlecht organisiert. Unterstellen wir das. Zwanzig Leute, das genügt. Zwei genügen.

May: Dann würde ich die lieber zu mir nach Hause einladen und sagen: Ich erzähl euch oder ich sing euch das zu Hause vor. Aber zwanzig: Ich habe vor jedem Zuschauer Respekt, der sich seine Pantoffeln auszieht und auf den Weg macht und irgendwo hingeht, wo er noch nicht weiß, was ihm da bevorsteht. Das ist das alte Theaterpferd oder gibt es noch einen anderen Ausdruck?

Gaus: Zirkuspferd.

May: Zirkuspferd, sehr richtig, das dann in mir lebendig wird. Dann muß ich. Dann ist es mir egal. Dann markiere ich auch nicht oder gebe vielleicht nicht so viel, wie ich vor einem tausendköpfigen Publikum geben würde. Das ist mir dann egal. Dann steige ich genauso gut ein und versuche genauso gut zu sein, als wenn ich tausend Leute sehe.

Gaus: Wie werden Sie mit dem Altsein fertig?

May: Sie erinnern mich daran. Ich denke da wenig darüber nach. Das ist ja der Widerspruch, in dem ich mich befinde. Ich fühle mich nicht alt. Ich werde aber durch so eine Frage, wie Sie sie mir stellen, daran erinnert.

Gaus: Sie hätten gerne – habe ich gehört –, daß nicht nur bei Künstlern, bei Schauspielerinnen, bei Schauspielern, wenn es den Rezensenten gemäß erscheint, in Klammern gesagt wird, wie alt sie sind. Also Sie sind 1924 geboren, es kann sich jeder ausrechnen, wie alt Sie sind. Sondern Sie sagen: ›Eigentlich sollte es auch bei Kritikern dahinter in Klammern stehen, denn es hätte ja auch etwas mit dem Alter zu tun, wie fundiert die Kritik ist.

May: Wie viele Maßstäbe man hat, natürlich.

Gaus: Also dies hätten Sie ganz gerne.

May: Ja. Bei einem 60jährigen Kritiker kann ich voraussetzen, der hat bereits mit dreißig Jahren Elisabeth Bergner gesehen oder auf jeden Fall die Weigel gesehen. Ein 25jähriger, wie soll der mich vergleichen mit dem, wie das die Weigel gespielt hat.

Gaus: Steckt in dieser Antwort doch ein bißchen Selbstschutz gegenüber dem Bewußtsein von Altsein?

May: Darüber habe ich noch nicht nachgedacht. Ich werde immer wieder daran erinnert durch ein kleines Wörtchen. Und das Wörtchen heißt ›noch‹. Das ist das Wort in der deutschen Sprache, das ich am meisten hasse. Wenn nämlich die Leute zu mir sagen: Frau May, Sie sehen ja noch toll aus. Frau May, können Sie noch Auto fahren? Dieses Wort noch schränkt jede Bewunderung ein. Und ein großes Kompliment. Wenn Sie zu mir sagen, ›Frau May, Sie sehen ja wunderbar aus‹, sage ich: ›Danke, lieber Herr Gaus.‹ Aber wenn Sie mir sagen, ›Frau May, Sie sehen ja noch toll aus‹, denke ich: Na ja gut.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Sie sind inzwischen wieder erfolgreich mit einem Brecht-Weill-Programm auf der Bühne des Berliner Ensembles aufgetreten. Was bedeutete das vor allem für Sie, Frau May, Heimkehr oder Triumph?

May: Es bedeutete Heimkehr, insoweit, daß ich sage, Heimkehr in ein Haus, in ein wunderbares Haus, in dem ich 30 Jahre ein wunderbares Publikum hatte. Aber es bedeutete nicht Heimkehr in ein Ensemble. Ein Ensemble vermisse ich noch heute.