Sendung vom 09.07.2003 - Müntefering, Franz

Günter Gaus im Gespräch mit Franz Müntefering

Gaus:
Mein heutiger Interviewpartner, Franz Müntefering, geboren 1940 im Sauerland, ist als Fraktionsvorsitzender der SPD im Bundestag einer der wichtigsten und einflussreichsten Politiker in Deutschland. Er ist 1966 in die SPD eingetreten und hat eine ‚Ochsentour’ in der Partei hinter sich gebracht. Müntefering ist zum zweiten Mal verheiratet und hat zwei Töchter. Sehen Sie zur Person Franz Müntefering.
Sind die hohen Gehälter und anderen Einnahmen vieler Spitzenmanager der deutschen Wirtschaft schamlos und unanständig, Herr Müntefering?

Müntefering:
Da sage ich ja. Ich bin für gerechte Löhne, aber die Zahlen, die man da liest, die gehen über das hinaus, was ein Mann, oder ein Mensch verdienen kann. Man kann das wohl bekommen, aber verdienen glaube ich nicht.

Gaus:
Aus der Wirtschaft werden diese hohen Bezüge inzwischen selbst moniert. Warum hat es so lange gedauert, bis ein Politiker einmal – es hat angefangen, aber es hat lange gedauert – klar und deutlich sagt: Diese Bezüge sind obszön.

Müntefering:
Die waren ja lange tabuisiert. Man hat nicht drüber gesprochen...

Gaus:
Das ist meine Frage.

Müntefering:
Vielleicht gewusst...

Gaus:
Warum hat die Politik darüber nicht gesprochen?

Müntefering:
Ich weiß es nicht. Es hat uns jedenfalls nicht bewegt, das ist richtig. Und ich glaube, das hängt damit zusammen, dass man in der Phase des Wachstums, wie in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten, vieles für möglich gehalten hat und das man zu wenig darüber nachgedacht hat, was eigentlich letztmöglich da gerecht ist.

Gaus:
Sie sind als Fraktionsvorsitzender der SPD, der stärksten Regierungspartei im Bundestag, einer der – sagen wir – fünf wichtigsten Politiker in Deutschland. Warum gilt Jürgen Schrempp in Deutschland als bedeutender als Franz Müntefering?

Müntefering:
Möglicherweise ist er’s, ich weiß es ja nicht. Ich glaube nicht, dass Politik alles ist. Ich glaube, dass die Wirtschaft, dass die Gesellschaft, dass die Kirchen, dass die Gewerkschaften, dass Menschen in anderen Berufen – in Medien zum Beispiel - so wichtig sind, wie Politik auch. Ich sehe Politik nicht als die oberste Stufe der Hierarchie. Aber ich sehe sie als die freie gesellschaftliche Vereinbarung, wie man denn versucht zu leben. Also, ich will gar nicht sagen, dass wir wichtiger sind. Aber die Politik ist wichtig.

Gaus:
Ein bisschen kommt mir das vor wie: „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass.“ Es heißt, ein so erfahrener, ausgebuffter Politiker, wie Franz Müntefering – mit Respekt gesagt - kriegt der mit der Zeit so eine déformation professionelle? Sind Politiker von einer gewissen Zeit, von einem gewissen Punkt an ihrer Berufsausübung, gar nicht mehr im Stande, eine klare Antwort zu geben? Dies war doch eine Antwort, die hat sich geschlängelt. Empfinden Sie es nicht als bedenklich, dass – es geht jetzt gar nicht ums Ansehen, es geht nicht um das Ansehen, dass die Politiker, die Politik mehr oder weniger haben und eher ist es nicht sehr gut. Ich glaube, das der Industrievorstände ist auch nicht mehr so gut, wie die Leute glauben, dass es sei. Aber es geht mir gar nicht ums Ansehen, es geht einfach darum: in einer parlamentarischen Demokratie müsste es nicht das Normale sein. Das ist glaube ich in Amerika so, bei allen Einwänden, die man gegen die USA haben kann und ich habe viele. Aber ich glaube, in Amerika ist der Respekt vor dem Volksvertreter noch immer so selbstverständlich, dass ein wahrscheinlich richtig oder überbezahlter, aber nicht in jedem Falle erfolgreicher Industriemanager keinesfalls hierarchisch gleich geachtet wird. Warum sagen Sie nicht: Ja, eigentlich sollte es so sein?

Müntefering:
Weil ich das wirklich nicht glaube, weil ich schon meine, dass Politik Wichtiges leistet, dass wir Einfluss nehmen, dass wir wichtig sind dafür, dass das Leben im Lande gelingt. Aber ich glaube nicht, dass Politik sich nach solcher Hierarchie ausrichten darf.

Gaus:
Also, ich versuche es noch mal.

Müntefering:
Ja. (lacht)

Gaus:
Zwei Fragen. Die erste ist sehr einfach: War es ganz schön – bei meiner ersten Frage, die hohen Gehälter sind obszön – beinahe mit einem ganz schlichten Ja zu antworten, ist das mal ganz schön? Wenn man einfach mal Ja sagen kann, oder nein? Und nicht so umherfahren muss?

Müntefering:
Ja, das tue ich auch gerne, ja. Aber es gibt auch Dinge, die kann man nicht mit Ja oder Nein beantworten. Sondern da muss man dann auch die Differenzierung hereinbringen.

Gaus:
Keine Frage. Aber jetzt kommts: Die schwierigere Frage in diesem Zusammenhang. Jürgen Schrempp, dem ich jetzt schon Unrecht tue, weil ich ihn zu oft erwähne. Ich möchte ihn übrigens gerne einmal in dieser Reihe porträtieren. Jürgen Schrempp und Franz Müntefering, es geht nicht um die Wichtigkeit - natürlich ist Daimler Chrysler wichtig, nicht für alle gleichermaßen - sondern es geht um das Selbstbewusstsein von Demokraten. Und zwar jetzt nicht Sie gemeint, sondern der Souverän, das Wählervolk, sollte das nicht eigentlich sagen: Das sind meine Repräsentanten? Der Herr Jürgen Schrempp ist ja der Repräsentant seiner Aktionäre...

Müntefering:
Gut, aber das liegt an uns beiden, dem Wählervolk und an uns. Ich glaube, dass, wenn man sich die Geschichte dieser Bundesrepublik anguckt, das Ansehen der Politik, der Politiker geschrumpft ist. Das hängt damit zusammen, dass wir lange Zeit so getan haben, als ob wir allmächtig wären, das sind wir nicht. Und nun ist der Pendelausschlag da und nun gehen wir hinter das zurück, was wir eigentlich wert sind. Der Eppler hat dazu ein schönes Buch geschrieben, vor zwei, drei Jahren: „Rückkehr der Politik“. Und ich glaube, dass wir auf dem Weg sind, wieder mehr an Gewicht zu gewinnen. Da haben wir beide Seiten – die Politiker und die Menschen selbst – lange Zeit die Dinge verkannt.

Gaus:
War es stillos vom Sozialdemokraten Schröder 1998 – es gab schon Millionen Arbeitslose – in Frack und Claque auf den Wiener Opernball zu gehen oder war es ein beherzter Schritt zur neuen Mitte hin?

Müntefering:
Das hat mit der neuen Mitte nichts zu tun, aber ich finde das ganz in Ordnung. Warum soll er keinen Frack anziehen und da auch hingehen, wenn ihm das Spaß macht? Die Frage ist, ob es zu ihm als Person passt – das muss er selbst entscheiden. Aber, dass ein Politiker im Frack zur Oper gehen kann, wieso nicht?.

Gaus:
Erstens, Frack und Claque ist eine Metapher. Zweitens, wir sind immer noch ein bisschen bei der Selbstachtung des Souveräns und damit auch der Achtung der Repräsentanten des Souveräns vor der Lage des Souveräns, ich hatte ausdrücklich nach dem Stil, nicht nach Lust und Laune, nach dem Stil gefragt, ob es stillos ist, wenn ein Sozialdemokrat in Frack und Claque – anders lassen sie ihn nicht rein – bei Millionen Arbeitslosen im Land, auf den Wiener Opernball geht. Glauben Sie, dass Schröder es jetzt noch mal täte?

Müntefering:
Im Augenblick nicht, jedenfalls haben wir jetzt andere Sorgen.

Gaus:
Die hatten wir damals auch schon...

Müntefering:
Ja aber... Nein, nein...

Gaus:
Es gab über drei Millionen Arbeitslose, das war Sorge genug. Warum können Sie nicht sagen: Mein Stil wäre es nicht gewesen?

Müntefering:
Da haben sie mich nicht danach gefragt. Sie haben mich gefragt ob...

Gaus:
War es stillos oder nicht für einen Sozialdemokraten?

Müntefering:
Nein, nicht für einen Sozialdemokraten, nein. Ich persönlich neige nicht zu so was. Ich hätte es wahrscheinlich nicht gemacht, aber mich hat auch keiner gefragt, insofern ist mir die Antwort ja ganz leicht, wissen Sie?

Gaus:
Ja, er ist mitgenommen worden als Aufsichtsratsvorsitzender von Volkswagen. Piëch hat ihn mitgenommen in seinem Flugzeug. Ich habe das den Schröder gefragt in meinem „Zur Person“ Interview vor der Bundestagswahl und er war sehr gekränkt. Finden Sie das eine kränkende Frage?

Müntefering:
Die Frage nicht. Aber, er kann doch ja darauf sagen, dass er das gerne gemacht hat. Weshalb denn nicht? Ich finde da wirklich nichts dabei. Ich glaube auch nicht, dass die Menschen uns das verdenken. Sondern es geht um was anderes. Es geht darum, ob wir als Politiker noch die Kraft und die Macht haben, Dinge zu entscheiden. Oder ob die Wirtschaft, das Geld, die Welt, die Globalisierung die Dinge schiebt. Das ist die Sorge, die die Menschen haben, dass wir nicht mehr aus uns selbst heraus genug Hebel in der Hand haben um die Dinge zu bestimmen.

Gaus:
Es mag der Streik der IG Metall um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland ganz falsch zum ganz falschen Zeitpunkt gewesen sein. Sie haben jetzt gesagt, es geht für die Menschen darum, zu glauben: Kann die Politik die Wirtschaft noch bändigen im Zeitalter der Globalisierung?. So falsch der Streik thematisch und zeitlich gewesen sein mag – dies ist ein Interview, keine Sachdiskussion – hätte es sich nicht gehört, dass die SPD - sie hat jetzt wieder angefangen, die Gewerkschaften ein bisschen besser in der Öffentlichkeit zu behandeln, aber - dass die führenden SPD-Leute während des Streiks ein bisschen mehr Solidarität gezeigt hätten, auch wenn sie damit gegen die Meinung, die Hauptmeinung der Öffentlichkeit gewesen wären? Stellt ihr euch noch gegen den Mainstream der öffentlichen Meinung?

Müntefering:
Doch, dazu sind wir schon bereit. Aber in diesem konkreten Fall war die Frage der Klugheit: Kann man es durchsetzen, ja oder nein? Wenn man vor Augen hat ein solches Scheitern, wie es jetzt gekommen ist, ist ja die Frage, wie weit man die Menschen hereintreibt und wie weit man das noch unterstützt. Und das war ziemlich schnell voraussehbar, dass das nicht Aussicht auf Erfolg haben würde. Ich glaube gar nicht, dass sie Unrecht haben mit dem, was sie da versuchen, nämlich den Gleichklang hinzubringen mit der Belastung...

Gaus:
Es hätte doch genügt zu sagen, bevor man sagt: Ihr macht einen Fehler – davor den Satz: Aber es ist ein richtiges Ziel.

Müntefering:
Da gibt es Interviews von mir, da bin ich ganz sicher, wo ich das gesagt habe, das haben Sie dann nicht gelesen, ja. Ich habe da kein Problem mit.

Gaus:
Das weiß ich nicht. Über welche politische Taktik, über welchen politischen Inhalt haben Sie, Herr Müntefering, als Bundesgeschäftsführer und als Generalsekretär der SPD und jetzt als ihr Fraktionsvorsitzender schon einmal gestritten mit Bundeskanzler Schröder, worüber haben Sie das letzte Mal mit ihm gestritten? Oder streiten Sie nicht?

Müntefering:
Streit ist ein großes Wort. Aber es geht darum, dass man in bestimmten Situationen feststellt, was sind die wichtigsten Themen? Was müssen wir behandeln, in welcher Abfolge? Muss man weit voraus planen? Was sind die Dinge, die man überschauen kann? Daran macht sich dann auch immer die Kontroverse fest, doch, natürlich gibts auch Kontroversen.

Gaus:
Dann wollen wir es mal nicht Streit nennen. Worüber haben Sie das letzte Mal mit ihm unterschiedliche Auffassungen gehabt?

Müntefering:
Als es damals um die Entfernungspauschale ging, zum Beispiel. Als da eine bessere Kondition vereinbart worden ist, war ich ganz anderer Meinung. Darüber haben wir uns gestritten, aber nicht so, dass ich mich durchgesetzt hätte dabei, sondern die Bundesregierung hat das beschlossen. Das sind so Punkte, wo es um ganz konkrete, handfeste Sachen geht. Wo man unterschiedlicher Meinung ist und die werden dann auch ausgetauscht. Und mal behält man recht, mal nicht. Ich bin im Augenblick zum Beispiel sehr der Meinung, dass unsere Kommunen mehr Geld brauchen, dass wir die Bedeutung der Politik vor Ort stärker betonen müssen. Und da muss ich sicher mit dem Finanzminister und auch ein bisschen mit dem Kanzler noch drum streiten, dass wir den richtigen Weg finden.

Gaus:
Definieren Sie bitte Ihre Loyalität, wem gehört Sie?

Müntefering:
Erstens dem Land – das mag jetzt groß klingen, aber ich bin frei gewählter Abgeordneter, davor habe ich selbst großen Respekt und das ist meine erste Loyalität. Zweitens die zur sozialdemokratischen Idee, es besser machen wollen, sich nicht abfinden mit den Dingen, wie sie sind, wissen, dass Reformen nötig sind, dass Reformen manchmal bedeuten: zwei Schritt vor, zwei Schritt zurück. Das passiert, dass man auch Fehler macht dabei. Es ist keine Loyalität, die auf Personen bezogen ist, aber ich weiß, dass die Demokratie nur funktionieren kann, wenn man die politische Macht, die man in einer Wahl bekommen hat, dann auch gemeinsam nutzt und dass nicht jeder dann seinen eigenen Kopf durchsetzen darf. Wir sind eine Mannschaft, Frauschaft und ein Team. Wir müssen zusammen arbeiten. Aber die Loyalität geht aufs Land. Und ich warne alle bei uns, Politik zu machen nach Politbarometer. Sondern ich glaube, dass wir Vertrauen gewinnen im Handeln. Wenn die Menschen berechtigterweise das Gefühl haben können: Die wissen, wohin sie wollen und auch wenn es schwer ist, zeigen die in verantwortlicher Weise den Weg.

Gaus:
Irren sich die Menschen, wenn sie das im Moment nicht glauben von den Politikern?

Müntefering:
Nein, die irren sich nicht. Ich glaube, dass wir in einer Phase der Orientierung sind in Deutschland und das hat was zu tun mit dem Ende der beiden großen Blöcke. Ich glaube, dass alle Parteien, dass alle gesellschaftlichen Gruppen in Deutschland, im Westen - vielleicht überhaupt in Europa – auf der Suche sind. Es gab den Kapitalismus und den Kommunismus, ein System ist weg, wir haben sozusagen gewonnen. Und jetzt müssen wir zeigen, ob und wie dieser Kapitalismus, diese soziale Marktwirtschaft aus sich selbst heraus funktioniert. Und das ist der Punkt, an dem wir alle arbeiten.

Gaus:
Hat die Existenz des Ostblocks - auf die Bundesrepublik betrachtet - die Existenz der DDR den sozialen Faktor in der Marktwirtschaft verstärkt?

Müntefering:
Ja, ich glaube, dass das so ist. Ich glaube, dass wir um deutlich zu machen, dass unser System das bessere war und ist, wir die soziale Marktwirtschaft auch so gestaltet haben, dass sie bestehen konnte gegenüber anderen Systemen. Vielleicht war das in den fünfziger, sechziger Jahren gar nicht so klar, wer gewinnt eigentlich dieses Rennen. Und deshalb glaube ich schon, dass nicht der blanke Kapitalismus sich bei uns hat austoben können, weil man immer im Blick gehabt hat, wir müssen auch die soziale Komponente mitfahren, wir müssen diese soziale Idee auch zu unserer Idee machen.

Gaus:
Ist der blanke Kapitalismus, wie Sie gesagt haben, ist der derzeit ziemlich zügellos?

Müntefering:
Das ist das große Problem, in dem wir stecken. Unser Sozialstaat und auch Sozialdemokratie, die deutsche, ist eine Antwort auf den nationalen Kapitalismus gewesen, wenn man so will.

Gaus:
Aber sie hat sich geändert - der Kapitalismus und die Sozialdemokratie.

Müntefering:
Der ist international geworden. Der Kapitalismus ist international geworden und die Frage, die die Menschen haben, unterschwellig oder offen, die wir auch haben, welche Hebel haben wir eigentlich? Dieses Geld, das sich um die ganze Welt bewegt, zu steuern, daraus auch soziale Ansprüche abzuleiten.

Gaus:
Sie haben einmal gesagt: Schwache Leute brauchen einen starken Staat. Wir werden später darauf kommen, dass Sie auch mal gesagt haben: Man muss dazu lernen. Aber jetzt bleibe ich mal bei dem Satz: Schwache Leute brauchen einen starken Staat. Die Antwort, die die Sozialdemokratie mehrheitlich derzeit gibt, lautet, unter anderem, Privatisierung, Entstaatlichung. Ist es nicht eine Erfahrung, dass alles, was privatisiert worden ist, mit Ausnahme von Telefon, in der Dienstleistung schlechter geworden ist und teurer?

Müntefering:
Das muss nicht so sein, aber das...

Gaus:
Aber das ist so, es ist so.

Müntefering:
Nein, das würde ich so nicht sagen...

Gaus:
Warum nicht?

Müntefering:
Ich glaube, dass in kommunalen Bereichen viele Dinge sind, die privat genauso gut organisiert werden können, wie das staatlicherseits gemacht worden ist. Aber was ich meine damit ist, wenn man soziale Gerechtigkeit will, und das will ich, dann darf man das Leben nicht total individualisieren und privatisieren, sondern die Gemeinschaft, der Staat – das Wort trauen wir uns ja kaum noch in den Mund zu nehmen – hat die Aufgabe, dies zu organisieren. Schulen für alle und Hochschulen für alle kann es nur geben, wenn der Staat dazu die nötigen Mittel hat und auch die Kraft.

Gaus:
Aber da muss man doch auch sagen, die Gesellschaft ist in der Gefahr, weil die öffentliche Meinung mehrheitlich in diese Richtung tendiert in der Privatisierung – aus der Privatisierung geradezu einen Fetisch zu machen. Und immer auch wenn sozialdemokratisch gestaltete Haushaltspläne eng werden, verkauft man das Tafelsilber. Das heißt, die Bereitschaft, mit der die Sozialdemokratie groß geworden ist über Jahrzehnte, zu sagen, für bestimmte Dienstleistungen muss die Solidargemeinschaft bereit sein, Geld zu zahlen. Es muss sich nicht alles rechnen. Das ist doch geringer geworden, diese Bereitschaft. Ist das die Folge, dass die Sozialdemokratie auch sich nicht freihalten kann von der Stimmungslage im Land?

Müntefering:
Nein, nein. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen der Eigenverantwortung der Menschen - das hat auch was mit Freiheit zu tun, das ist auch sozialdemokratisches Ziel - und der Solidarität. Es gibt ein Spannungsverhältnis zwischen der Subsidiarität - also Aufgaben, die vor Ort erledigt werden können, von gesellschaftlichen Gruppen dort erledigen zu lassen - und dem Staat. Und in dem Spannungsverhältnis müssen wir uns bewegen. Und eine Gesellschaft, die so sehr Wohlstandsgesellschaft ist, wie wir sind, die muss nicht mehr alles über den Staat organisieren, die muss nicht mehr alles...

Gaus:
Aber wir werden doch gerade weniger Wohlstandsgesellschaft und gerade in dem Moment machen wir den Satz von Müntefering: ‚Schwache brauchen einen starken Staat.’ – schwächen wir den Satz.

Müntefering:
Na nicht nur Schwache brauchen den Staat, sondern alle, alle.

Gaus:
Also, gut. Denken Sie wenigstens insgeheim manchmal darüber nach?

Müntefering:
Ich denke da immer drüber nach, weil das Spannungsverhältnis sehr offenkundig ist, an der Stelle. ...

Gaus:
Ja, ja. Gesellschaftliche Gruppen....

Müntefering:
Wie viel, wie viel kann man den Menschen zumuten, selbst zu erledigen und wo muss die Gemeinschaft das organisieren?

Gaus:
Sind die Menschen instand gesetzt worden, so viel selbst zu erledigen, wie die besser ausgebildete Oberschicht es imstande sein kann?

Müntefering:
Nein, nein. Das ist sicher, sicher ein wichtiger Punkt dabei, dass da, wo es kritisch wird, der Staat wieder angeguckt wird. Vor drei, vier Jahren sind mir junge Millionäre begegnet, 25jährige, die haben gesagt: Was brauchen wir noch Politik, das ist alles hinter uns. Und jetzt sind wir in einer Situation, wo sie uns alle wieder angucken und plötzlich sagen: Oh, Politik, du musst das doch richten.

Gaus:
Ja, aber nicht mit Staat, sondern mit Privatisierung.

Müntefering:
Na aber die meinen schon auch den Staat dabei. Wir sollen es schon versuchen hinzubekommen und die Sicherheit zu geben.

Gaus:
Zur Person Franz Müntefering, geboren am 16. Januar 1940 in Neheim-Hüsten im Sauerland, aufgewachsen im sauerländischen Sundern, einer Kleinstadt...

Müntefering:
Einer schönen Kleinstadt.

Gaus:
... einer schönen Kleinstadt. Ein Einzelkind in einem katholisch geprägten Arbeiterhaushalt. Franz Müntefering - der, wie er sagt, eine arme, aber eine sehr gute Kindheit gehabt hat - besucht die Volksschule und lernt mit 14 Jahren Industriekaufmann in einem mittelständischen Metallbetrieb. Beschreiben Sie bitte, Herr Müntefering, was in Ihrer Kindheit ‚arm sein’ bedeutete.

Müntefering:
Hunger haben. Das war der Krieg, das war die kurze Zeit nach dem Krieg, mein Vater im Krieg...

Gaus:
Er ist spät aus der Gefangenschaft zurückgekommen.

Müntefering:
Ja, ’47 im Sommer aus der Gefangenschaft. Da habe ich ihn ja richtig erst kennen gelernt. Und der hat mir dann den Platz des Mannes im Haus dann auch weggenommen, ja? (lacht) Aber es war ein gutes Verhältnis für uns. Aber es war eine glückliche Kindheit im Nachhinein. Aber die Zeit des Hungers und der Not, keine Schuhe haben, in einem Haus wohnen, wo die Wohnverhältnisse unvergleichlich sind zu dem, was wir heute alle kennen. Das war die Situation. Ich habe das damals nicht als belastend empfunden und deshalb kann ich das auch gut sagen: Arm, aber glücklich, ja.

Gaus:
Im Jahr 1966 tritt Franz Müntefering in die SPD ein, 1967 in die IG Metall. Sie haben einmal von sich gesagt: Boshaft könnte man Sie einen Vereinsmeier nennen. Aber auch solche, die sich gern tummeln und einmischen, würden gebraucht. Das ist ganz sicher, aber warum wollten Sie sich bei der SPD tummeln und einmischen? Hätte es nicht von Hause aus im Sauerland näher gelegen, sich bei der CDU zu tummeln und einzumischen?

Müntefering:
Na ja. Das war für meine Eltern eine Überraschung und im Ort, im Dorf auch, überhaupt. Meine Generation, das war aber nicht nur ich, sondern das war ein Phänomen, was da in der Zeit da war. Wir waren Jungs aus dem Dorf, Messdiener, Pfarrjugendführer, Jungsozialist, das war eine etwas seltsame Reihenfolge, die wir da gemacht haben. Aber was wars? Die CDU war alt und grau bei uns in der Stadt und wir wollten was Neues.

Gaus:
Was ist Ihnen vom Katholizismus der Eltern, vor allem der Mutter, geblieben?

Müntefering:
Meine Mutter war da prägend. Wenn ich es zusammenfasse drei Dinge: Sie hat gesagt – das war so ein Spruch von ihr – Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei, am größten aber ist die Liebe. Ist wahrscheinlich ein Bibelwort und ich glaube, diese Liebe, das hat was mit Nächstenliebe zu tun, mit Solidarität. Ich glaube, dass das bis in das politische Denken hinein Menschen prägt. Und das habe ich sicher auch mitgenommen aus der Zeit.

Gaus:
Franz Müntefering machte eine geradezu klassische Ochsentour nach oben in seiner Partei. Über die Lokalebene und den Unterbezirk schließlich in die Oberliga der SPD, Vorsitz des starken Bezirks westliches Westfahlen, 1992 Landesvorsitzender von Nordrheinwestfahlen, ’98 Bundestagsmandat, Landesminister für Soziales in Düsseldorf, im ersten Kabinett Schröders Bundesminister für Verkehr, Bundesgeschäftsführer der SPD, von 1999 an Generalsekretär, seit 2002 Fraktionsvorsitzender. Respekt.

Müntefering:
Mhm.

Gaus:
Was hat Sie angetrieben von Station zu Station: Ehrgeiz, Gewohnheit, Tretmühlenlust – eine Mischung aus allem?

Müntefering:
Sicher eine Mischung aus allem. Vielleicht kann man es am besten festmachen: Als ich das erste Mal Abgeordneter wurde, bin ich zu Herbert Wehner gegangen, er war damals Fraktionsvorsitzender, habe mich vorgestellt, habe ihm beschrieben, wie die Welt aussehen würde. Und er hat sich das geduldig angehört und hat dann gesagt: Das fang mal so an und pass auf, dass du nicht austrocknest. Das hat mich lange begleitet das Wort.Ich habe es auch nie vergessen. Und ich glaube, dass das so ist. Wenn man nicht mehr will, dass die Dinge besser werden, wenn man sich zufrieden gibt mit dem, was ist, dann sollte man aufhören. Und ich glaube, diese Leidenschaft habe ich mir erhalten: Es besser machen zu wollen.

Gaus:
Genügt Ihnen dabei, und es ist ja keine Schande – außerdem habe ich das nicht zu bewerten – ich frage, Sie antworten: Ist das Bessermachen manchmal schon so, wie die Zeit läuft - sie sind schwierig – darin begründet, dass man manchmal auch nur das kleinere Übel gestaltet? Ist Franz Müntefering ein Mann des kleineren Übels?

Müntefering:
Wenn’s nötig ist, auch das. Das ist der Stein, den Sisyphos gerollt hat. Das ist nun mal so. Man weiß es gibt Situationen, wo man sich neu einstellen muss, wo die Bedingungen anders sind und da muss man auch mit weniger zufrieden sein und dann kann das auch so sein, dass man, ja, das Übel möglichst klein halten muss, das kann schon sein bei Reformen, ja.

Gaus:
Stammt der Begriff ‚Neue Mitte’ von Ihnen oder wie stark haben Sie an ihm mitgewirkt?

Müntefering:
Es stammt nicht von mir, natürlich nicht. Den hat Willy Brandt schon gebraucht, das wissen Sie. Er hat in seinen Regierungserklärungen schon über die Mitte und die neue Mitte gesprochen.

Gaus:
Ja, das weiß ich nun in der Tat. Aber die neue Mitte, wie Schröder sie dann etablieren wollte, ist ja doch später. Sie haben den Wahlkampf, den Schröder’schen, Lafontaine’schen Wahlkampf sehr stark bestimmt. Also wie groß ist Ihre Mitwirkung an dem Begriff ‚Neue Mitte’?

Müntefering:
Ich bin stolz darauf, dass wir ihn geprägt haben und ich glaube, er ist noch nicht vorbei. Aber mein Anteil – weiß ich nicht. Das kann man nicht in Prozenten ausdrücken.

Gaus:
Gibt es die neue Mitte noch?

Müntefering:
Ja, das gibt es natürlich. Das ist das Bewusstsein dafür, dass die Gesellschaft aufeinander angewiesen ist. Und das wir uns nicht in Blöcken irgendwo gegenüber stehen, ich glaub das ist das Wichtigste...

Gaus:
Wo gehören die Langzeitarbeitslosen hin, die demnächst...

Müntefering:
Na sehen Sie, das ist schon das Missverständnis, ‚Neue Mitte’ ist nicht eine Kategorie, ist nicht eine Einkommensgruppe, sondern das ist eine Denkart, wie man miteinander umgeht. Das ist ‚Neue Mitte’ gewesen von Anfang an.

Gaus:
Ende der neunziger Jahre hat es in der SPD eine sehr interessante Personenkonstellation gegeben. Ich hoffe, dass ich Ihre Erinnerungen noch lesen kann. Da war Lafontaine Scharpings Nachfolger als Parteivorsitzender. Scharping war aber noch Fraktionsvorsitzender. Und im Gebüsch wartete der niedersächsische Ministerpräsident Schröder auf seine Kanzlerkandidatur-Chance. Und der Moderator dieser leider nie gesendeten Talkshow war Franz Müntefering.

Müntefering:
Das glaube ich nicht, nein.

Gaus:
Ich glaube das, aber das ist auch egal, müssen wir nicht glauben. Sie hatten eine Funktion die ich jetzt mal im Scherz und nicht nur im Scherz Moderator genannt habe. Und die Konstellation war: Lafontaine hatte Scharping in einem Parteienstreich, in einem Staatsstreich abgelöst. Scharping war aber noch sehr stark und im Gebüsch wartet Schröder. Unter Wahrung jeder Loyalität gegenüber jeder der drei Personen sagen Sie doch mal, wie war das Verhältnis zur Macht und der Umgang mit ihr des einen und des anderen und des dritten?

Müntefering:
Ich hatte das... Ich bin Ende ’95 Geschäftsführer geworden, war schon auf dem Parteitag in Mannheim als Oskar Lafontaine Vorsitzender wurde, war ich schon. Ich habe auf dem Parteitag gesagt: Nun haben wir einen anderen Vorsitzenden als wir gedacht haben vor zwei Tagen, ich möchte aber trotzdem Geschäftsführer werden. Und ich habe dann sehr gut mit Lafontaine zusammengewirkt.

Gaus:
Ich habe nur gefragt, was charakterisieren Sie – Sie haben die Frage ja auch sehr gut verstanden – charakterisieren Sie den Umgang, den Lafontaine mit Macht hatte, Scharping und Schröder.

Müntefering:
Wir haben alle miteinander eines gedacht, nämlich, dass wir gewinnen können und darauf haben wir es ausgerichtet. Es war zu der Zeit nicht klar, wer es eigentlich sein würde.

Gaus:
Herr Müntefering, Sie wissen doch, wonach ich frage.

Müntefering:
Nein, weiß ich nicht.

Gaus:
Nein?

Müntefering:
Nein.

Gaus:
Gut. Wer war am direktesten im Zugriff?

Müntefering:
Lafontaine. Mit ihm habe ich damals aufs Engste zusammengearbeitet. Er war Parteivorsitzender und ohne ihn hätten wir...

Gaus:
Was hat Schröder getan, damit er Lafontaine überrunden konnte?

Müntefering:
Die Niedersachsenwahl gewonnen. Da haben wir alle mitgeholfen und Lafontaine hat mithelfen müssen. Und als er sie gewonnen hatte, war die Sache klar.

Gaus:
Was hat Scharping umgebracht?

Müntefering:
Wenn, dann er sich selbst.

Gaus:
Ja, aber was dabei?

Müntefering:
Er ist nach der Wahl ins Verteidigungsministerium gegangen, das hätte er glaube ich, nicht tun sollen.

Gaus:
Sie sind übrigens nicht zimperlich im Umgang mit Ihrer Macht, Herr Müntefering. Als es im September 2001 um einen deutschen Militäreinsatz in Mazedonien ging, haben Sie 19 Neinsagern in der SPD-Bundestagsfraktion schlechte Listenplätze für die Wahl 2002 angedroht. Was hält Ihr Gewissen ruhig bei einer solchen Androhung, bei einer solchen Machtausübung gegenüber frei gewählten Abgeordneten? Sie selbst haben sich vorhin bei der Loyalität darauf berufen.

Müntefering:
War ein bisschen anders, aber geschenkt.

Gaus:
Wie war es?

Müntefering:
Jedenfalls, jedenfalls es kommt darauf an, wenn man politische Macht hat, dass man sie gemeinsam umsetzt. Und die Frage, die sich da stellt ist: Ist das eine Gewissensfrage für den Einzelnen. Wenn es für den Einzelnen eine Gewissensfrage ist, akzeptiere ich das. Aber ich war ganz sicher, dass es bei den meisten keine Gewissensfrage...

Gaus:
Woher waren Sie ganz sicher?

Müntefering:
Bitte?

Gaus:
Woher waren Sie ganz sicher?

Müntefering:
Man hat miteinander gesprochen, man hat die Argumente ausgetauscht und wenn das keine Gewissensfrage ist, dann muss es gelten in der Politik, in Fraktionen, dass die Mehrheit entscheidet und dann machen die anderen mit.

Gaus:
Gar keine Frage. Aber ist nicht strukturelle Schwierigkeit der Entwicklung, die die Demokratie genommen hat, dass es kein anderes Mittel gibt als Mehrheit und Minderheit. Und die Minderheit muss der Mehrheit folgen, oder sie muss aus der Organisation, Partei, Gewerkschaft, Unternehmensverband austreten.

Müntefering:
Oder die Regierung stürzen.

Gaus:
Oder die Regierung stürzen. Aber es kann keine Gewissensfrage sein, ob man den Etat so beschließt oder anders. Die Frage: Atomkraft ja oder nein, das heißt, Entscheidungen, die nicht reparierbar sind – ein Etat ist zu reparieren – bestimmte Dinge, die früher gar nicht zur Debatte standen für ein Parlament sind irreparabel geworden, wenn sie einmal entschieden sind. Das heißt, das unvermeidliche Herrschaftsmuster der Mehrheit und der Anpassung der Minderheit an die Mehrheit oder Sturz funktioniert nicht mehr. Woher wollen Sie als Fraktionsvorsitzender entscheiden, das ist eine Gewissensfrage, die der Mann oder die Frau vortragen?

Müntefering:
Das kann ich nicht entscheiden, das können nur die Abgeordneten. Das kann nur jeder für sich selbst entscheiden. Da kann man auch kein wirkliches Muster machen. Ich muss nur darauf aufmerksam machen, das habe ich damals getan. Wer sagt, mein Gewissen hindert mich daran, so etwas zu machen, der muss wissen, in welche Situation er die Partei bringt. Und das ist eine Frage, wie man da verantwortlich mit umgeht in einer solchen Situation.

Gaus:
Aber wegen seines Gewissens muss er auch die Partei notfalls in eine schwierige Lage bringen.

Müntefering:
Muss er bringen können. Das muss er mit seinem Gewissen allerdings auch vereinbaren, je nachdem wie viel es ihm wert ist.

Gaus:
Aber nicht mit seinem Fraktionsvorsitzenden oder Generalsekretär.

Müntefering:
Nein, damals nicht. Aber da muss er um die Sache auch streiten können. Das ist uns allen sehr schwer gefallen, damals. Also, im übrigen will ich auch sagen zu der Situation damals, man lernt dazu. Ich würde es auch sicher nicht noch mal in solcher Weise machen, wie ich es angesprochen habe, das will ich gern zugeben dabei, aber, der Streit hat sich gelohnt. Ich war ja selbst einer von denen, die vor sieben, acht Jahren gesagt haben: Nie wieder deutsche Stiefel auf dem Balkan. Habe ich von meinem Vater gelernt. Und dann haben wir gesagt: Doch, weil es dem Frieden nutzt. Und das war ein sehr schwieriger Prozess, den wir damals gemacht haben.

Gaus:
Ich zitiere aus einem Aufsatz Franz Münteferings vom Jahresanfang 2001: „Nicht die Suche nach dem Grand Dessin, sondern die konkrete Umsetzung der notwendigen Reformen ist Aufgabe und Politik der SPD“ Ende des Zitats. Das zu tun und zu leisten, ist nicht wenig, Herr Müntefering. Respekt. Aber ist es nicht auch für eine Partei wie die SPD zu bescheiden?

Müntefering:
Na ja, wir haben natürlich auch immer über die lange Linie gedacht. Ich habe in den Jahren 2000 / 2001 vieles gesagt und geschrieben und wir haben Bücher herausgegeben zur Sicherheit im Wandel und Sicherheit durch Wandel, das was wir jetzt machen. Das was wir nicht gemacht haben damals und das war, wenn Sie so wollen eine Schwäche, ein Fehler. Wir haben es nicht konkret gemacht, wir haben die Kanten herausgenommen. Wir haben nicht die Operation gemacht, die wir jetzt machen müssen. Solange man über die Dinge allgemein spricht, ist das ja immer ungefährlich, da hat man viel Zustimmung. Aber dass der Wandel Voraussetzung dafür ist, dass Sicherheit im Lande ist, das war uns damals schon bewusst.

Gaus:
Wie ziehen Sie, wie können Sie ziehen, die Grenze zwischen Pragmatismus und Opportunismus, die ist sehr fließend. Ich kenne und Sie kennen sicherlich noch sehr viel mehr eine ganze Reihe von Opportunisten, die von sich selber sagen, sie seien pragmatisch. Das heißt nicht ideologisch, sie seien pragmatisch. Tatsächlich sind sie aber nicht pragmatisch, was etwas Wertebedeutendes ist, sondern sie sind opportunistisch. Wie ziehen Sie für sich, Franz Müntefering, Porträt Müntefering, wie ziehen Sie für sich die Grenze zwischen pragmatisch und opportunistisch?

Müntefering:
Da muss man immer wieder in den Spiegel gucken und vor sich selbst rechtfertigen, das ist das Beste, das Wichtigste, was man machen kann. Ich sehe die Gefahr. Ich sehe allerdings auch die Gefahr, dass der Pragmatismus nicht nur das Problem hat in Opportunismus kippen zu können, sondern er kann auch kippen in eine faule Kompromissunfähigkeit. Es gibt auch eine Art Sturheit in der Positionierung, die auch schädlich sein kann und die nicht gut ist.

Gaus:
Dann definieren wir beide, aber das ist nicht meine Sache in diesem Interview, da definieren wir beide Pragmatismus verschieden. Für mich ist Pragmatismus etwas, das an einen Wertekatalog gebunden ist, aber nicht an ein Dogma. Während Sie, habe ich den Eindruck, eher ein Dogma, etwas Dogmatisches beschrieben haben. An welcher Stelle haben Sie, um bei Ihrer Metapher zu bleiben, schon mal in den Spiegel geguckt und gesagt: Na Franz, hast du da mal zu sehr fünf grade sein lassen? Soll dir nicht wieder passieren.

Müntefering:
Das ist natürlich in der Situation in der wir uns im Augenblick bewegen jeden Tag so. Denn was wir jetzt machen - das Land modernisieren, Dinge verändern, Dinge für die man lange gestanden hat und die man auch den Menschen gesagt hat, als nicht mehr haltbar zu beschreiben und auf was Neues zu orientieren - das ist natürlich ein Punkt, wo man sich jeden Tag neu kontrollieren muss. Ist das in der Sache nötig? Ist das wirklich in Übereinstimmung mit den Grundwerten von Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität? Und wohin geht das, was wir da machen? Da muss man sich schon kontrollieren und da will ich auch nicht sagen...

Gaus:
Wann war es das letzte Mal? Ja?

Müntefering:
Da will ich auch nicht sagen, dass man ohne Fehler ist dabei. Aber ich bin mit mir ganz im Reinen, dass das, was wir jetzt machen, das Land zu erneuern, dass das die Chance ist, im Wandel Sicherheit für Wohlstand und für soziale Gerechtigkeit im Lande zu erstreiten. Und dass alle die, die heute sagen: nichts verändern, Unrecht haben. Das glaube ich schon, dass das so ist.

Gaus:
Politiker sind immer und seit einiger Zeit besonders, sehr in der misslichen Lage, Antworten geben zu müssen - weil das ihre Funktion ist in der Gesellschaft - wo es vielleicht redlicherweise nur Fragen gibt. Sie aber haben die Funktion, Schröder hat die Funktion, Merkel – sie müssen Antworten geben. Die Gesellschaft braucht das und will es. Kann es sein, dass wir am Anfang einer – Sie können das wahrscheinlich gar nicht beantworten, dann wären Sie nämlich nicht mehr funktionsfähig, ich will es trotzdem fragen...

Müntefering:
Ja, fragen Sie mal.

Gaus:
Ich will es trotzdem fragen. Kann es sein, dass wir am Anfang einer Tragödie sind, die wie die klassische antike griechische Tragödie, Unausweichliches... Kann es sein, dass wir - keinen Vorwurf an die SPD, keinen Vorwurf an die CDU, auch keinen Vorwurf an Jürgen Schrempp - kann es sein, dass wir einer gesellschaftlichen Amerikanisierung anheim fallen? Die den Mittelstand - sehr viel mehr als es hierzulande zugegeben wird - in Amerika dezimiert hat, eine sehr dünne, aber sehr reich gewordene Oberschicht herausgebildet hat und eine breiter gewordene Unterschicht aus der - von dem berühmten Tellerwäscher einmal abgesehen - der Aufstieg nach oben viel zu weit ist, als dass er noch zustande kommt als gesellschaftlich nennenswert? Kann es sein, dass wir am Anfang einer solchen Tragödie sind? Das heißt, das die Ingredienzien des Pluralismus aufgebraucht sind.

Müntefering:
Die Gefahr ist da, das ist eine ganz wichtige Frage, wo wir uns da im Augenblick bewegen. Und es ist die Frage, ob wir das europäische Sozialstaatsmodell halten, ja oder nein. Wir wollen es. Und darum kämpfen wir im Grunde. Ich glaube, dass wir da an einem Punkt sind, der uns in den nächsten Jahren sehr beschäftigen wird, nämlich die Frage, was ist das europäische Sozialstaatsmodell. Wir sprechen darüber, aber wir haben im Grunde unterschiedliche nationale Sozialstaatsmodelle in Europa. Und ich glaube, dass Europa sich bewusst werden muss, dass es außer im Bereich Wirtschaft und Finanzen sich koordinieren und unterhaken muss, es auch im Bereich des Sozialstaates das leisten muss. Und das wird eine entscheidende Frage sein, weil entweder bewährt sich Europa da und sorgt dafür, dass die Gesellschaft nicht auseinander fällt und das nicht das amerikanische...

Gaus:
Bleiben Sie mal bei Deutschland.

Müntefering:
Ja, aber es wird in Deutschland auch nur gelingen, wenn wir das kompatibel machen zu dem, was in Europa insgesamt stattfindet.

Gaus:
Ich glaube, in Ihrer Funktion muss man von dem, was Sie jetzt gesagt haben nicht nur überzeugt sein, das muss man glauben, sonst kann man es gar nicht ertragen. Ich will noch ein bisschen zweifeln. Ist es nicht so, dass die westliche Politik, ich meine jetzt speziell die westdeutsche, aber die westliche insgesamt, nach dem ja doch nicht gerade so bald erwarteten Zusammenbruch des Ostblocks in einer gewissen Ratlosigkeit zunächst einmal die Ernte eingefahren hat? Und das heißt, Pläne verwirklicht hat, die früher Träume waren im Kalten Krieg. Und ist es nicht so, dass die Ausdehnung Europas – jetzt kommen zehn neue dazu, alles Billiglohnländer, sie werden es bleiben, oder die Wirtschaft muss noch weiter weggehen. Ist es nicht so, dass in Wahrheit das überdehnte Europa ein Primat der Wirtschaft hat, hinter dem das Primat der Politik völlig zurücktritt?

Müntefering:
Nee. Das ist nicht zwangsläufig so und das darf auch nicht so werden. Wir haben die Chance, aber nur diese Chance, in Europa Wohlstandsregion zu bleiben und auch das Sozialstaatsmodell zu halten - orientiert an dem, was uns da ganz wichtig ist - wenn wir das in Europa gemeinsam organisieren. Ich glaube, dass kein Nationalstaat alleine es zum guten Schluss schaffen wird.

Gaus:
Was ist mit dem Primat des Wirtschaftlichen, in dem - meine Definition, um die Frage deutlich zu machen – überdehnten Europa? Ist es nicht in Wahrheit so, dass dieses Europa über die Idee der Freihandelszone hinaus gar nicht zu organisieren ist?

Müntefering:
Wenn ich da so mutlos wäre, wie Sie in Ihrer Frage andeuten, dann könnten wir die Bücher zuklappen. Denn ich sage Ihnen, in allen Bereichen der Welt, ganz Amerika, der ganze amerikanische Kontinent, nicht nur USA, sondern alle Länder außer Kuba – das ist irgendwann auch dabei – oder der asiatische Raum - da gucken Sie sich China an mit dreimal soviel Menschen, wie das neue Europa hat - das sind alles Regionen, die sich wirtschaftlich und finanzpolitisch organisieren in einer globalisierten Welt. Die Fähigkeit der Menschen, die Mobilität, die wir gewonnen haben, Menschen und Güter und Informationen zu transportieren, hat die Welt klein gemacht. Und dieses Europa ist nicht so groß und Deutschland ist klein im Vergleich zu anderen Ländern der Welt und wir werden dies alles nur halten können, wenn wir aus diesem Europa was Gutes machen. Ob es gelingt, weiß ich nicht. Aber das ist der Anspruch, den wir haben.

Gaus:
Jetzt wird in Ihrer Heimat, in Nordrhein-Westfahlen wird jetzt ein Eisenbahnausbesserungswerk geschlossen. Die Leute haben Hungerstreik dafür gemacht. Etwas, was vor zehn Jahren die Kalibergleute in der DDR, also in Ostdeutschland gemacht haben, hat alles nichts genutzt, es wird geschlossen. Und nun ist die Antwort – ich sage nicht Ihre, aber die Antwort doch auch der Regierung, wir sind so beweglich, wir sind so mobil. Sie selbst haben eben von der Mobilität gesprochen – da müssen vielleicht manche, es soll ja keine Kündigungen geben, aber sie müssen vielleicht woanders hingehen. Ist das nicht beinahe zynisch? Ist es nicht so, dass die USA in der Größe ihres Raumes ganz lange als Halbnomaden gelebt haben? Wenn die Arbeit ausging, waren sie es gewöhnt, ihr nachzuziehen in Richtung Westen. Ich glaube, dass das zu Ende ist. Und dass das große Probleme für die Welt und für die USA mit sich bringt. Europa war es nie - wenn man mal absieht von den Polen, die Ende des 19. Jahrhunderts Ruhrbergleute wurden in Ruhrberg. Aber jetzt zu sagen, dann zieh doch von Opladen - unabhängig mal von der Frage, ob er Arbeit dort hat – zieh doch nach Freising. Das ist doch beinahe zynisch und ist doch Theorie. Praktisch heißt das doch, ein Mensch wird aus seinem Freundeskreis herausgerissen, aus seiner Wohnung, aus seinem kleinen Häuschen. Aber ihr habt keine andere Antwort.

Müntefering:
Also, dass es Bewegung gegeben hat, dass es Arbeitswanderung gegeben hat, das ist ja nicht neu. Im Sauerland, wo ich zu Hause bin, da verschwinden viele junge Menschen, die studieren und die dann irgendwo anders sind. Und das ist auch zwischen den Ländern immer so gewesen. Ich will jetzt den konkreten Fall in Opladen weiß Gott nicht schön malen und ich verstehe die Enttäuschung, die Empörung und die Trauer die da ist, aber dass es im Prinzip so ist, dass der Staat nicht erzwingen kann, auch nicht erzwingen sollte, dass die Arbeit genau da ist, wo die Menschen sind, sondern dass die Unternehmer das versuchen müssen und dass natürlich die Menschen sich darauf einstellen müssen, wo finde ich Arbeit. Das, finde ich, muss man auch offen und klar sagen. Und da gibt es in Deutschland Regionen, wo die Ausbildungsplätze nicht belegt sind, wo Arbeitsplätze sind. Und das ist schon etwas, über das wir uns auch Gedanken machen müssen. Wir müssen die Arbeit, die es in Deutschland gibt, auch tun mit den Menschen, die in Deutschland sind. Und es geht nicht, dass irgendwo Arbeitslose sind und irgendwo Arbeit und wir stöhnen darüber, dass wir das alles nicht mehr finanzieren können. Da steckt viel Forderung und Anspruch auch drin, das weiß ich.

Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage. Worin liegt für Sie, Herr Müntefering, der Wesenskern gesellschaftlicher menschenmöglicher Gerechtigkeit?

Müntefering:
Eine Chancengerechtigkeit. Das heißt, es müssen alle Menschen die Chancen haben zu lernen, gebildet zu sein und ihr Leben selbst zu gestalten. Ich glaube, der Grundwert der Freiheit ist der größte, den man eigentlich den Menschen geben kann. Und daraus entsteht Solidarität, daraus entsteht Gerechtigkeit. Aber zunächst einmal: Freiheit bedeutet Freiheit von unmittelbarer Not und Angst und Verfolgung, aber auch Freiheit zur Selbstgestaltung und zur Selbstbestimmung. Das ist das Wichtigste, was man tun kann und tun muss.