Sendung vom 20.08.2003 - Scherf, Henning

Günter Gaus im Gespräch mit Henning Scherf

Günter Gaus:
Mein heutiger Interviewpartner, Henning Scherf, 1938 in Bremen geboren, regiert als Sozialdemokrat in einer großen Koalition mit der CDU den Stadtstaat Bremen. Er war in seiner Jugend ein bekennender Linker in der SPD - der Bürgermeister Scherf hat inzwischen pragmatische Einsichten. Scherf ist ein bekennender protestantischer Christ. Seine Frau und er haben drei erwachsene Kinder, sechs Enkelkinder. Sehen Sie zur Person Henning Scherf.
Versuchen Sie bitte, Herr Scherf, in Worte zu fassen, was Ihnen im Gemüt die Heimat Bremen bedeutet und was in Ihren Augen die Stadt und ihre Bewohner auszeichnet.

Henning Scherf:
Ich bin hier geboren, am 31. Oktober ’38 in eine Familie, die in der bekennenden Kirche sich sehr exponiert hatte. Und ich habe als Kind mit meinen Geschwistern erlebt, wie das geht, dieses Zusammenhalten, offen miteinander reden, obwohl drum herum viele Gefahren lauern. Wir hatten zum Beispiel eine jüdische Familie bei uns in der Gemeinde. Das waren getaufte Juden, mit denen bin ich zusammen aufgewachsen in der Nazizeit. Und ich habe erlebt, wie das geht - Gefahr und Nähe und Schutz, die Gefahr aushalten – als Kind, als kleines Kind. Und als dann in der Nachkriegszeit alles richtig sich entfalten konnte, wie meine Eltern das immer erhofft hatten, da habe ich gelernt - und davon lebe ich bis heute, dass in dieser Stadt ganz viele alte hanseatische Traditionen, die liberal sind, die international sind, die tolerant sind, die neugierig sind auf andere, nicht zumachen, wenn Fremde kommen, die prägen dieses...

Günter Gaus:
Anders als die Hamburger?

Henning Scherf:
Ich habe in Hamburg studiert und meine Geschwister sind in Hamburg, ein Teil meiner Geschwister. Und mein Sohn ist in Hamburg, meine Enkelkinder leben in Hamburg. Ich bin mit Hamburg nie in Konkurrenz geraten. Ich bewege mich in Hamburg, wie wenn ich da zu Hause bin. Ich erlebe dort ganz ähnliche Milieus. Natürlich ist es größer, viel größer. Man muss da auch Glück haben, dass man in die richtige - ins richtige Milieu kommt.

Günter Gaus:
In Hamburg sagt man: „Er sank immer tiefer und tiefer und schließlich arbeitete er in Bremen.“

Henning Scherf:
Ja, es gibt so...

Günter Gaus:
Zahlen Sie mal heim, zahlen Sie das Hamburg mal heim! Sie sind der bremische Bürgermeister, nun zahlen Sie es ihnen mal zurück!

Henning Scherf:
Ich habe mal mit einer alten Bremer Dame zu tun gehabt, einer Kaufmannsfrau, die gesagt hat: „Ich versteh euch Hamburger gar nicht. Wenn ich in Hamburg bin, redet ihr ständig über uns Bremer. Bei uns in Bremen redet keiner über euch.“

Günter Gaus:
Wie gut ist ihr bremisches Platt?

Henning Scherf:
Also ich verstehe es, aber meine Frau warnt mich davor, es zu sprechen weil sie sagt, das sieht krampfig aus, wenn du dich bemühst nah zu sein. Also ich kann es, aber ich spreche es ungern.

Günter Gaus:
Sie ‚knutschen’ lieber direkt.

Henning Scherf:
Ja, das geht manchmal über so ein – Missingsch ist das mehr, es ist kein richtiges Platt. Aber es geht auch oft nonverbal. Man muss nicht lange Reden halten, um mit den Leuten gut auszukommen, sondern man muss die richtig...

Günter Gaus:
Umarmen.

Henning Scherf:
Manchmal umarmen, manchmal nah sein, manchmal einfach ein offenes Gesicht haben und einfach neugierig auf Leute zugehen und ihnen das Gefühl von Nähe und von Interesse und von, ja, von Freundlichkeit anbieten und dann kommt’s schon.

Günter Gaus:
Dies ist jetzt, glaube ich, eine unfaire Frage. Da Sie gerade zugegeben haben, ihre Frau warnt Sie und sagt: Lass das mit dem bremischen Platt weg. Ich kenne es nicht, das bremische Platt. Wären Sie bereit, mal - was weiß ich - eine Gedichtszeile oder irgendetwas auf bremisch zu sagen?

Henning Scherf:
Sie wollen mich aufs Eis führen (lacht)

Günter Gaus:
Aber nein.

Henning Scherf:
Ich lasse mich nicht aufs Eis führen.

Günter Gaus:
Sie meinen jetzt die Eiswette – nein, nein.

Henning Scherf:
Sie hat gesagt, es wirkt grotesk. Es gibt auch so einen, das ist so eine Art Missingsch, würde ich sagen, das ist nicht ein richtiges Platt...

Günter Gaus:
Also los. Jetzt...

Henning Scherf:
... wie das die in Mecklenburg sprechen oder auf dem Land sprechen. Und ich werde es Ihnen trotzdem nicht anbieten. Meine Frau ist eine kluge Frau und auf die achte ich.

Günter Gaus:
Bad in der Menge – was so einen bisschen abschätzigen Wert und Beigeschmack gekriegt hat, wegen dieser Mediendemokratie. Dennoch ist es ja – auch aus Amerika gelernt, ist es ja auch eine Form der Verbundenheit zwischen Wählern und Gewählten. Lieben Sie das Bad in der Menge oder ist es Ihnen manchmal zuviel?

Henning Scherf:
Also, Bad in der Menge, da verbinden sich ja für die meisten Riesenmengen damit. Das ist gar nicht das, was ich besonders schön finde. Ich finde einfach... der Umgang mit einfachen Leuten, das können fünf, sechs, sieben sein, das müssen nicht Hunderttausende sein. Und das macht mir meinen Alltag möglich. Ich kenne Situationen, in denen ich Gremien, so richtig zerstrittene, überarbeitete, abgewirtschaftete Gremien, einfach verlasse und sage, ich muss jetzt mal unter normale Menschen. Und dann gehe ich auf den Marktplatz und rede mit ganz normalen Menschen. Und es kommt wieder, ich kriege wieder Mumm, ich kriege wieder Lust auf Leute, ich kann mich richtig wieder aufrichten und dann kann ich auch ein anstrengendes Gremium wieder aushalten. Das ist mir oft passiert.

Günter Gaus:
Weil Sie eben gesagt haben, Sie verlassen dann manchmal Gremiensitzungen und gehen vor das Bremer Rathaus und reden mit normalen Passanten, die da vorbei gehen. Sie wissen, dass Willy Brandt, als er nun wirklich ein höheres Alter erreicht hatte, so weise geworden war, zu sagen: Was nach zehn Uhr abends geredet wird ist sowieso alles Quatsch – kann manchmal lustig sein, aber es trägt zur Sache nichts bei. Und der an keiner Sitzung mehr teilgenommen hat nach zehn Uhr abends. Gibt es Erscheinungen dieser Art auch bei Ihnen?

Henning Scherf:
Also, mit dem zehn Uhr Termin, das ist mir nicht so ganz wichtig. Aber ich hasse inzwischen lange Sitzungen. Also so Sitzungen, die über drei, vier, fünf Stunden gehen, die können nicht mehr gut werden. Ich spüre ziemlich schnell, ob eine Sitzung gut vorbereitet ist oder nicht, ob die Leute, die daran teilnehmen, wissen, was sie loswerden wollen. Und wenn das der Fall ist, dann bin ich geduldig und dann höre ich zu und dann...

Günter Gaus:
Was machen Sie wenn es nicht der Fall ist?

Henning Scherf:
Dann sage ich: Leute, das macht heute keinen Sinn. Wir müssen uns auf einen nächsten Tag vorbereiten und ich schlage vor, wir machen das jetzt kurz, wir quälen uns nicht und wir verabreden uns auf einen neuen Zeitpunkt. Und die meisten akzeptieren das dann.

Günter Gaus:
Sind Sie geduldig oder sind Sie gelegentlich dann auch ein Choleriker?

Henning Scherf:
Ich kann auch leider cholerisch werden. Ich schäme mich ein bisschen darüber. Und das Typische ist das nicht bei mir, aber ich kann die Geduld verlieren.

Günter Gaus:
Also, eins möchte ich wissen, Sie fahren gern, ist ja auch kleidsam und macht einen schönen Teint, Sie fahren gern mit dem Fahrrad.

Henning Scherf:
Ja.

Günter Gaus:
Müssen die Sicherheitsbullen hinter ihnen hertrampeln?

Henning Scherf:
Ich habe niemanden, der mich beschützt!

Günter Gaus:
Sie haben keine Sicherheitsleute um sich herum?-.

Henning Scherf:
Nein, nie. Noch nie gehabt.

Günter Gaus:
Auch nicht, wenn Sie Bremen verlassen und ins feindliche Umland kommen.

Henning Scherf:
Noch nie in meinem ganzen politischen Leben und darüber hinaus habe ich Personenschutz gehabt.

Günter Gaus:
Wenn nun Otto Schily - eher ein Choleriker, zuständig für unsere Innere Sicherheit – sagt: Henning Scherf muss. Was machen Sie dann?

Henning Scherf:
Das heißt, das ist ja seine Einschätzung und ich sage, ich habe eine andere Einschätzung. Also das ist bei uns im Kabinett schon ein paar Mal verhandelt worden und dann hat der jeweilige CDU-Kollege gesagt, er möchte das schriftlich haben. Da habe ich ihm schriftlich gesagt, meine Gefährdungseinschätzung, die ich selber verantworte, ist anders als die, die Ihnen Ihre Beamten aufgeschrieben haben und ich bitte, davon abzusehen. Und dann haben Sie sich zufrieden gegeben.

Günter Gaus:
Zur Person Henning Scherf. Geboren am 31. Oktober 1938 in Bremen. Sie bringen einen durcheinander, Herr Scherf, dies hier ist ein Fragenkatalog, der ein bisschen dramaturgisch ist. Und Sie haben einfach in der ersten Antwort schon vieles erzählt, was ich jetzt fragen will. Aber es wird gehen. Geboren als Sohn eines Drogisten und einer Apothekenhelferin, mit fünf Geschwistern, also sechs Kinder im Haus. Aufgewachsen im, wie es heißt, kleinbürgerlichen bremischen Stadtteil Neustadt. Manchmal kann man, wenn man über Sie nachliest, wenn man Sie auftreten sieht, den Eindruck haben, Sie kokettieren ein bisschen mit dem Kleinbürgerlichen. Sind Sie ganz sicher, dass das nicht so ist?

Henning Scherf:
Ich bin ganz gewiss, dass das so war, dass wir kleinbürgerlich aufgewachsen sind und dass...

Günter Gaus:
Ja. Nein, dass Sie damit kokettieren.

Henning Scherf:
Das ist schwer – einen selber danach zu fragen. Wer weiß schon, ob er wirklich kokett ist?

Günter Gaus:
Sie wissen das. Erzählen Sie mir nichts. Was sagt Ihre Frau, sagt die, Sie sind kokett?

Henning Scherf:
Die sagt, es gibt Situationen, in denen ich mich kokett verhalte. Aber sie sagt nicht, ich bin kokett.

Günter Gaus:
Gut. Sie wissen den Wert von Koketterie im Umgang mit der Öffentlichkeit zu schätzen?

Henning Scherf:
Das ist gefährlich. Also, richtig Theater machen, das würde ich gerne den Theaterprofis überlassen. Ich finde diese Laienschauspieler in der Politik entsetzlich.

Günter Gaus:
Aber es werden mehr und mehr, oder?

Henning Scherf:
Ja, aber das erhöht nicht den Charme.

Günter Gaus:
Sie sind jetzt seit vierzig Jahren ernsthaft in der Politik, in der beruflichen Politik. Wie hat sich dieses Personal verändert?

Henning Scherf:
Also, ich wollte das nie. Ich wollte nie Berufspolitiker werden. Ich habe mir immer vorgenommen, bloß nicht abhängig sein von Politik. Darum habe ich auch schwer darauf geachtet, dass ich ein ordentliches Examen mache und dass ich einen ordentlichen Beruf habe. Und ich bin ganz stolz darauf, dass ich mal Anwalt war und dass ich mal Staatsanwalt war und dass ich mal im Regierungsrat war und für die Verwaltung gearbeitet habe und dass ich mal im Studienwerk in der Studienleitung war. Das sind alles für mich wichtige Legitimationsmittel, zu sagen, ich bin nicht von A bis Z nur auf hauptamtliche Politik eingestellt gewesen und bin es eigentlich bis heute immer noch nicht.

Günter Gaus:
Die Frage war: Wie hat sich das Personal verändert?

Henning Scherf:
Das ist sehr subjektiv. Also, mich zu fragen, ist ja schwer, weil ich über mich selber und über meine...

Günter Gaus:
Ich frage nicht, ich frage nicht, wie Sie sich geändert haben. Ich mache ja diese Interviews Zur Person schon sehr lange.

Henning Scherf:
Ich glaube, wir sind – wir sind akademischer geworden.

Günter Gaus:
Sind Sie nicht...

Henning Scherf:
Also, der Anteil der akademisch ausgebildeten Leute, die in der Politik sich tummeln, ist größer geworden. Ich habe in der Nachkriegszeit viele Leute erlebt, die kamen aus nichtakademischen Milieus, die hatten keine akademische Ausbildung.

Günter Gaus:
Zum Teil auch eine interessantere Biografie. Aber dazu kann man nicht wieder einen Krieg anfangen...

Henning Scherf:
Ja, die sind ja zum Teil richtige Opfer, die waren richtige Opfer. Ich habe Leute gesehen, die haben mir ihre Wunden aus dem KZ gezeigt, Politiker.

Günter Gaus:
Sind Sie, seid ihr Politiker in der Mediendemokratie – das ist ein Eindruck, den ich von meinen Interviews manchmal habe, wenn ich Politiker befrage – glatter geworden, einfach gewandter im Umgang mit Kamera und Mikrophon?

Henning Scherf:
Ja, das halte ich für möglich, weil wir eben viel öfter das sehen und daran teilnehmen und Vorbilder kopieren, weil wir nicht mehr aus dem KZ kommen und Politik machen, weil wir nicht aus dem Krieg kommen und wirklich das Elend uns aus den Augen springt, sondern wir haben es einfacher.

Günter Gaus:
Nach dem Abitur 1958 studiert Henning Scherf mit Unterstützung der Hochbegabtenförderung des Evangelischen Studienwerks Felix, in einem Ort im Münsterländischen, wenn ich es recht weiß – Jura und anfangs auch Theologie. Sie machen beide juristische Staatsexamen, promovieren 1968 in Jura, arbeiten eine Zeit lang – Sie haben es erwähnt – als Anwalt, treten dann in die öffentliche Verwaltung ein. Warum haben Sie nicht Theologie weiter studiert und sind Pastor geworden?

Henning Scherf:
Das war der Wunsch meines Vaters.

Günter Gaus:
Pastor zu sein?

Henning Scherf:
Bis zu seinem Tod. Und er hat noch, da war ich schon mit dem zweiten Staatsexamen durch, da hat er mir gesagt, den größten Wunsch meines Lebens erfüllst du mir nur dann, wenn du jetzt alles hin schmeißt und Theologe wirst.

Günter Gaus:
Warum sind Sie es nicht geworden?

Henning Scherf:
Das ist eine spannende Geschichte. Ich wollte das natürlich eine ganze Zeit lang und habe dann als Schüler, als ich Schulsprecher wurde, gemerkt, dass außerhalb der Kirche eine große Zahl von Leuten mit ganz spannenden Fragen auf mich zukam. Und ich dachte immer: die will ich erreichen. Und ich will doch nicht immer nur mit meinen, mit meinen engeren Freunden zu tun haben. Und da bin ich plötzlich von diesem Gedanken abgekommen.

Günter Gaus:
Christliche Politik, Herr Scherf - gibt es nach Ihrem Verständnis von Christentum und Politik sozusagen zuverlässige Kriterien für eine christliche Politik? Die CDU hat sich in den 50er und 60er Jahren sehr damit gequält mit ihrem hohen C in dem Parteinamen CDU. Gibt es eine christliche Politik oder kann es eine solche Politik in Wahrheit nur für den einzelnen Politiker geben?

Henning Scherf:
Ich halte es da mit Karl Barth, meinem theologischen Ziehvater. Der hat ein berühmtes Buch, ein kleines Büchlein über die Christengemeinde und die Bürgergemeinde geschrieben. Und das hat mich praktisch mein ganzes Leben lang begleitet. Und er hält das sehr sorgfältig auseinander und sagt, es geht nicht, dass ich eine bestimmte Politik, die natürlich interessenabhängig ist, als die christliche Politik ausgebe. Sondern ich kann das immer nur in Anspruch nehmen für meine Begründung mich politisch zu engagieren. Aber dann muss ich abwägen, da muss ich sehen, was geht, was nicht geht. Und ich muss urteilen und nicht sagen, ich rede hier im Sinne der Offenbarung.

Günter Gaus:
Als 25jähriger sind Sie 1963 in die SPD eingetreten, 1971 wurden Sie Abgeordneter in der Bremer Bürgerschaft. Sie waren Senator in verschiedenen Ressorts und sind seit Anfang 1995 Regierungschef in Bremen. Was ist eigentlich Ihr richtiger Titel? Sie sind...

Henning Scherf:
Bürgermeister.

Günter Gaus:
Präsident des Senats...

Henning Scherf:
Das ist meine Funktion.

Günter Gaus:
Das ist... Der Senat ist die Regierung, ist das Kabinett. Und dann sind Sie Bürgermeister. Das heißt der protokollgerechte Titel ist Herr Bürgermeister.

Henning Scherf:
Ja.

Günter Gaus:
Herr Bürgermeister, sagen Sie mir mal, warum muss nach Ihrer Auffassung der kleine Stadtstaat Bremen existieren?

Henning Scherf:
Sehen Sie, dieses groß gewordene, wieder groß gewordene Deutschland, ist ja für seine Nachbarn eine Zumutung. Wenn man die Geschichte dieses Landes auch nur einigermaßen im Kopf hat. Wie kann man sich eigentlich gegenüber einer sehr unterschiedlichen Nachbarschaft vermittelt darstellen? In dem man nämlich die unterschiedlichen geschichtlichen Legitimationen dieses zusammengesetzten Deutschlands präsentiert. Und wir Hansestädter, wir präsentieren eine ganz erstaunliche Tradition.

Günter Gaus:
Jetzt sagen Sie, Bremen ist 12hundert Jahre unabhängig gewesen.

Henning Scherf:
Nein, nicht ganz, aber fast. Aber wir sind die ganzen Jahrhunderte klein gewesen, aber immer international ausgerichtet gewesen. Wir haben nie die Idee gehabt, nationalstaatlich uns...

Günter Gaus:
Ihr habt einen Teil von Skandinavien beherrscht...

Henning Scherf:
Nicht beherrscht, das waren...

Günter Gaus:
Naja ...

Henning Scherf:
Das waren unsere Partner. Wir haben... Ich habe die fast alle abgeklappert, die alten Hanseplätze und Sie können das heute noch sehen, wie die sich aufeinander eingelassen haben. Die haben geheiratet untereinander, die haben sich gegenseitig gestützt, die haben gemeinsame Erfahrungen gemacht, das ist etwas anderes.

Günter Gaus:
Was soll heute an der föderalen Gliederung der Bundesrepublik geändert werden? Was muss geändert werden – oder muss gar nichts geändert werden?

Henning Scherf:
Doch, doch, es muss dringend was geändert werden. Wir haben in den ganzen Jahren die konkurrierende Gesetzgebung so ausgelegt, dass eigentlich immer mehr auf den Bund gekommen ist. Wir Länder sind immer mehr zu – ja – ausführenden Organen geworden. Wir müssen den Föderalismus revitalisieren. Wir müssen eine Klärung...

Günter Gaus:
Wie macht man das?

Henning Scherf:
Wir müssen eine Klärung der Kompetenz haben. Wir müssen die Kompetenzen neu sortieren, wir müssen wirklich über das, was wir verantworten, auch verantwortlich sein.

Günter Gaus:
Aber den Ländern...

Henning Scherf:
Wir dürfen nicht immer nur Stellvertreter sein.

Günter Gaus:
Den Ländern weht der Wind ins Gesicht. Es gibt eine Neigung, zentralistisch zu führen und zu sagen, dass das der Bund mache.

Henning Scherf:
Bin ich nicht sicher. Wenn Sie nach Europa gucken und Europa denken, da sind die Nationen nicht mehr spannend. Und wenn Sie nach der Legitimationsstärke unserer Arbeit fragen, die wird nicht national, sondern die wird regional aufgebaut, jedenfalls ist das bei uns in Bremen ganz deutlich so.

Günter Gaus:
Sie waren einer der namhaften Linken in der SPD. Henning Scherf hat so gut wie alles getan, was ein demokratischer Sozialist zu tun hatte. Sie haben an den Sitzblockaden teilgenommen vor dem amerikanischen Raketendepot in Mutlangen. Sie waren Kaffeepflücker in Nicaragua um der linken Befreiungsbewegung materiell zu helfen. Ihre Frau übrigens, Ihre große Schülerliebe, hat ein Jahr lang als Lehrerin dort gearbeitet. Sind Sie noch ein Linker?

Henning Scherf:
Ich meine, ich bin es noch. Aber viele, die mich begleitet haben, fangen dabei an zu lachen und sagen, Henning nun sag doch, dass du ein Stück relativiert bist. Es ist eine sehr subjektive Beurteilung. Wenn Sie aus der jeweiligen konkreten Lage, aus der jeweiligen zu entscheidenden Situation her das beurteilen, dann würde ich gerne für mich beanspruchen: ja, ich versuche auch jetzt noch links im Sinne Parteinahme für Schwache, für kleine Leute zu praktizieren. Aber wenn Sie das in einem ganz großen Maßstab sehen, wenn Sie uns vergleichen mit den internationalen Bewegungen, dann bin ich natürlich ein klassischer Sozialdemokrat und ein staatsorientierter Mittemann geworden.

Günter Gaus:
Nun da gibt es, da gibt es linke Sozialdemokraten und rechte Sozialdemokraten.

Henning Scherf:
Ja.

Günter Gaus:
Wenn ich gesagt habe, ‚Linker’, habe ich durchaus einen Sozialdemokraten gemeint.

Henning Scherf:
Ja, ja, ich habe auch die ganze Zeit Sozialdemokraten im Kopf gehabt, als ich eben angefangen habe zu sortieren.

Günter Gaus:
Ja.

Henning Scherf:
Es kommt sehr auf die Perspektive an und übrigens kommt es auch sehr darauf an, wie man lebt – darf ich das noch kurz sagen. Ich glaube, es ist eine Dauergefahr, wenn Sie in der Politik hauptamtlich tätig sind, dass Sie sich so anpassen, dass Sie ununterscheidbar werden. Und Sie haben nur wenig Möglichkeiten, sich von dieser Gefahr abzusetzen. Sie müssen ganz streng daran arbeiten, Sie müssen in Ihrem Alltagsverhalten sich sensibel halten, Sie müssen sich nicht vereinnahmen lassen vom Apparat – übrigens auch nicht von den Medien. Sie müssen die Frechheit haben, selbst zu entscheiden, mit wem Sie befreundet sein wollen, selbst zu entscheiden, mit wem Sie kommunizieren wollen, selbst zu entscheiden, wen Sie für wichtig halten oder wen Sie nicht für wichtig halten. Wenn Sie das noch können, ich bilde mir ein, ich kann das noch...

Günter Gaus:
Das ist dann links?

Henning Scherf:
... dann halte ich das für links.

Günter Gaus:
Wir werden noch ein bisschen an dem Thema bleiben. Ich zitiere Henning Scherf aus einem Text vor einigen Jahren: „Nicht innere Sicherheit ist unser zentrales Thema, sondern die schrittweise Verelendung vieler Leute.“ Ende des Zitats. Stehen Sie noch zu dieser Aussage?

Henning Scherf:
Ja. Ja.

Günter Gaus:
Was sagen Sie zur Agenda 2010?

Henning Scherf:
Die versucht - sehr schwierig, und noch nicht gut vermittelt und nicht zu Ende gebracht - an der Wurzel der nicht mehr gerechneten, durchgerechneten sozialen Systeme so etwas wie eine perspektivische Sicherheit hinzubekommen. Das ist wichtig. Wir dürfen nicht sozusagen das alles dem Zufall überlassen: mal sehen, wir werden es schon hinbekommen, irgendwie wird die Vollbeschäftigung schon wieder kommen, sondern wir müssen...

Günter Gaus:
Tun wir das nicht in Wahrheit?

Henning Scherf:
Nein, nein, nein. Wir müssen die Tatsache, dass wir eine hohe Arbeitslosigkeit haben und dass wir ein Langfrist-Beschäftigungsproblem haben und dass uns das alle Rechnungen im Sozialversicherungssystem durcheinander bringt, die müssen wir annehmen und nicht vertagen. Nicht immer wieder rausschieben, sondern die ist jetzt zu regeln. Nicht damit wir alles zerstören, sondern damit wir es solide perspektivisch sortieren. Sonst laufen wir in die Gefahr, dass das Ganze an einen Punkt geschoben wird, wo es richtig chaotisch wird. Das darf nicht sein.

Günter Gaus:
Der Ausgangspunkt dieser Frage und damit Ihre Antwort war: das zentrale Problem ist die schrittweise Verelendung vieler Leute. Viele Teile der Agenda 2010 sind nach Auffassung Vieler – nicht Parteigegnern der regierenden SPD, sondern auch – na, von besorgten Beobachtern der Szene, der Meinung, wenn alles, was an Kürzungen zusammenkommt - und was noch so aussieht, als sei es sehr einseitig gekürzt, vielleicht ändert es sich noch – dass das dann für manche in der Gesellschaft zu Kürzungen in zweistelliger Prozentzahl führen könnte. Ist das die Verelendung?

Henning Scherf:
Ziel muss sein, die Leute wieder in Brot und Arbeit zu bringen. Wir dürfen uns nicht mit der Massenarbeitslosigkeit abfinden und die irgendwie vermitteln. Und wenn es gelingt, wirklich die Beschäftigung der vielen, vielen Menschen wieder zu ermöglichen, dann schaffen wir genau an der Basis die Veränderung, die wir alle brauchen, um aus passiven Leuten aktive Leute zu machen. Um aus Objekten in überforderten Sozialversicherungssystemen, Subjekte zu machen, die ein Stück ihr Schicksal selber gestalten können. Und das ist was Emanzipatorisches. Das ist nichts Rechtes, Konservatives, Destruktives.

Günter Gaus:
Die Situation, wie sie von manchen verstanden wird, läuft auf Folgendes hinaus: Die Deregulierung ist das Heil für alles, die Privatisierung ist – na ja, das Bild ist schief, aber ich sage es jetzt mal weiter – ist das Goldene Kalb, das alle anbeten. Früher hat die Gesellschaft gesagt, ein paar Dinge müssen wir auch zugunsten der Gesellschaft im Allgemeinen und der Schwachen im Besonderen staatlich finanzieren, mit Zuschüssen. Das ist jetzt also durch Deregulierung eher aufgehoben und in Amerika konnte man sehen bzw. konnte man eine Zeit lang nicht sehen, wohin es führt, wenn zuviel dereguliert wird. Wie geht das zusammen, dass man sagt: ‚fördern und fordern’ und ‚sei beweglich, mach private Vorsorge für dich’ einerseits. Andererseits den Kündigungsschutz lockert, was nun wieder die private Vorsorge fast unmöglich macht. Wenn man die private Vorsorge macht und einen Vertrag abschließt mit einer privaten Versicherung und die Raten nicht zahlen kann, weil der Kündigungsschutz weg ist und man plötzlich – heuern und feuern – auf der Straße steht. Ist das nicht ein Grundwiderspruch der derzeitigen Politik? Und ist das nicht der Nachweis von großer Ratlosigkeit?

Henning Scherf:
Also, Sie haben jetzt ganz viel in diese Frage reingetan. Es ist fundamental falsch, die US-amerikanische Sozialpolitik mit der europäischen oder mit der bundesdeutschen zu vergleichen. Die haben ja das nie gehabt, die haben ja nie in ihrer großen Geschichte eine wirklich verlässliche sozialpolitische Sicherung der großen Lebensrisiken organisiert. Wenn die von Deregulierung reden, reden die von einem ganz anderen Niveau aus. Wir haben das Problem, dass wir eine wirklich ausgebaute, ich finde erstaunlich starke, krisenbewährte große Sozialversicherung haben, die allerdings bürokratische Probleme mit sich bringt. Also, die Bundesanstalt für Versicherung ist ein solcher gigantischer bürokratischer Moloch, den finde ich keinen Segen dieser Republik. Wir haben nicht Sozialversicherungssysteme ausgedacht, um zig Tausende von Menschen mit der Verwaltung da zu beauftragen, sondern wir wollten materiell helfen. Also in dem Fall bin ich sehr für Endbürokratisierung und das klingt viel besser als Deregulierung. Das war das Eine. Und das Andere, was Sie gesagt haben mit dem Kündigungsschutz: Es kommt darauf an, dass die Leute beschäftigt werden. Es kommt darauf an, dass ich Unternehmer, auch kleine Unternehmer, mittelständische Unternehmer dazu bringe, Leute zu beschäftigen. Und je höher ich das Risiko des jeweiligen Arbeitsvertrages für den Unternehmer mache, umso geringer ist die beschäftigungspolitische Wirkung. Das ist die Logik und die Plausibilität, wie ich Leute rausbringe aus der Arbeitslosigkeit und besonders aus der Langzeitarbeitslosigkeit und mit ihnen die menschenfreundliche, wirklich emanzipatorische Erfahrung, auf eigene Beine zu kommen, organisiere. Und ich finde, das ist links. Links ist nicht, alle Leute in ein gigantisches staatliches Altersheim hinein zu komplimentieren.

Günter Gaus:
Auf das Altersheim komme ich noch...

Henning Scherf:
Ja.

Günter Gaus:
...wenn ich über Ihre Wohngemeinschaft spreche. Wenn ich danach frage...

Henning Scherf:
Die ist selbst verwaltet und will von niemandem protektioniert werden.

Günter Gaus:
Ich komme darauf. Herr Bürgermeister, ich komme darauf.

Henning Scherf:
Okay.

Günter Gaus:
Erklären Sie bitte, was der Generalsekretär der Regierungspartei SPD, Olaf Scholz, gemeint hat, als er vorzog, nicht länger von sozialer Gerechtigkeit zu sprechen, sondern allgemeiner von Gerechtigkeit, ohne den Zusatz sozial.

Henning Scherf:
Kann ich Ihnen nicht erklären. Ich weiß nicht, was ihn geritten hat dazu. Ich halte das für eine semantische Trickserei, die er da macht, die bringt viele Leute durcheinander. Ich bin kein Freund dieses Versuches.

Günter Gaus:
Können Sie gelegentlich nachts, wenn Sie nicht schlafen können – schlafen Sie gut?

Henning Scherf:
Meistens. Hängt davon ab, wie der Tag gelaufen ist.

Günter Gaus:
Der Urlaub, den Sie mit Ihrer Frau gehabt hatten, war einer mit sechs Enkelkindern.

Henning Scherf:
Ja.

Günter Gaus:
Im Alter zwischen Baby und acht Jahren. Das war mit einem ruhigen Nachtschlaf nicht so weit her, oder?

Henning Scherf:
Das stimmt. Das stimmt und es war trotzdem schön, weil es wirklich herausfordernd war.

Günter Gaus:
Also, können Sie gelegentlich – auch in Tagträumen, die dann Albträume sein könnten – sich vorstellen, dass wir in eine Entwicklung hineinkommen, die sehr lange dauern wird bis zu einem vorerst noch ungewissem Ende? Wo es eine immer stärkere Teilung zwischen einer Oberschicht und einer Unterschicht gibt und der Mittelstand immer weiter dezimiert wird. Und bekanntlich kann man ohne Mittelstand keinen Staat machen, sondern nur Hilfsgebilde und grausame Gebilde. Und das was vielleicht die größte Leistung der SPD nach dem Krieg in Westdeutschland war, nämlich die Angst vor der Bildung, vor der höheren, für die Kinder zu senken. Das heißt, zuzulassen, dass man die Fremdheit der Kinder, wenn sie die höhere Schule besucht hatten, akzeptierte. Dass man sich das nicht mehr zutraut von unten her auch wegen der sozialen Unsicherheiten - kann es sein, dass wir am Anfang einer klassischen griechischen Tragödie uns befinden, gesellschaftlich in Europa? In Amerika ist man schon weiter voran geschritten darin, sozusagen schon beim nächsten Akt. Einer Tragödie, die sich auszeichnet durch das, was griechische Tragödien auszeichnet, nämlich sie ist unausweichlich.

Henning Scherf:
Also weltweit ist das alles schon sichtbar und man kann das überall erleiden. Wenn Sie in Afrika sind, da gibt es praktisch keine Mittelschicht mehr. Oder wenn Sie in Lateinamerika sind, da wird Sie ganz dramatisch eng und knapp und richtig zerrieben. Das ist sehr bedrohlich. Aber darum finde ich dieses europäische Projekt, eben nicht albtraumartig, sondern das ist eine der wenigen Hoffnungen, die ich auf diesem Globus habe, dass wir im Rahmen der Europäischen Union und im Rahmen auch jetzt der Erweiterung der Europäischen Union in einem Verständigungsprozess sind, möglichst viele in diesen bunten Gesellschaften mitzunehmen. Und möglichst ohne Ansehen der Person. Und möglichst ohne Ansehen auch des Portemonnaies, das sie haben. Und natürlich immer mit dem Anspruch: Wir wollen euch bilden, wir wollen so was wie eine gemeinsame europäische Identität erarbeiten. Das geht nur über Kennen lernen, über Sprachen lernen, über Weiterbildung und das gelingt nur über Aufsteigerphilosophien und Aufsteigerbiografien. Und darum denke ich, wir Europäer sind, ja, sind die Gegenthese gegen die Lateinamerikaner, gegen die Afrikaner und vielleicht auch sogar gelegentlich gegen die US-amerikanische Gesellschaft.

Günter Gaus:
Das ist, glaube ich, der wichtige Punkt. Dass wir uns nicht dem Elendskontinent Afrika anpassen wollen, liegt auf der Hand. Aber gibt es nicht eine gewisse Idolisierung der amerikanischen, des amerikanischen Pioniergeistes, der in Wahrheit europäische Sozialprobleme hat, aber sie immer noch so lösen will wie im 19. Jahrhundert?-.

Henning Scherf:
Also ich glaube, je gründlicher man sich mit der amerikanischen Gesellschaftspolitik wirklich auseinander setzt – machen ja nicht viele, aber die, die es machen – umso klarer wird, in was für dramatischen Brüchen diese Gesellschaft lebt. Ich habe meine letzte große Reise ’86 gemacht mit Journalisten und mit Wissenschaftlern. Und wir haben in den Großstädten Milieus gefunden, die wir in der Dritten Welt nicht so dramatisch bedroht erlebten. In völlig perspektivlosen, schutzlosen Lagen waren die Menschen da. Und das habe ich immer zum Thema gemacht. Ich mache das auch heute noch.

Günter Gaus:
Wir haben über links und rechts gesprochen und nun kann man sagen, es ist ja auch eine übliche Alterserscheinung, die Bewegung, die geistig- politische Bewegung von links nach rechts. Manche sagen - haben Sie gesagt - na, Henning Scherf, so richtig links bist du auch nicht mehr. Und Sie sagen selbst, na ja, hängt von der Perspektive ab. Hatten Sie – ist das die Alterserscheinung von links nach rechts sich zu bewegen? Oder hatte Henning Scherf ein Damaskus-Erlebnis, das ihn zum Pragmatismus geführt hat?

Henning Scherf:
Doch, so was Ähnliches habe ich erlebt. Als wir 1995 hier zum zweiten Mal nacheinander in Bremen die Wahl verloren, wir Sozialdemokraten...

Günter Gaus:
...in einer großen Koalition dann regierten...

Henning Scherf:
Da war noch keine große Koalition.

Günter Gaus:
Ja, ja ich weiß. Da war Ampelkoalition.

Henning Scherf:
Ja. Da wollte ich partout weiter Rot-Grün machen. Und da haben wir eine große Mitgliederbefragung gemacht und die hat gesagt: Nein Scherf, du linker Scherf, du machst große Koalition. Und ich dachte: Oh, das ist ja wie Höchststrafe. Und dann habe ich es trotzdem gemacht, weil es keine Alternative gab. Ich hätte alles ausgeblockt, wenn ich das nicht gemacht hätte. Und seitdem entdecke ich den anderen Teil der Gesellschaft. Und entdecke gutwillige Leute und entdecke Leute, die sagen, wir wollen doch eigentlich mit dazu beitragen, dass diese Stadtgesellschaft, die wir hier repräsentieren, zusammenbleibt. Und wir wollen natürlich raus aus dieser ganzen schwierigen - durch Arbeitslosigkeit und Überschuldung und Strukturwandel schwierigen - Lage dieser Stadt. Und ich beobachte, dass das geht und ich beobachte, dass wir im Zusammengehen, im Aufeinanderzugehen stärker werden, als in dem Polarisieren, was ich davor immer mit Lust gepflegt habe. Das war, wenn Sie so wollen, ein Damaskus-Erlebnis.

Günter Gaus:
Wo ziehen Sie die Grenze zwischen wertbezogenem Pragmatismus und Opportunismus – Ihre persönliche Grenze?

Henning Scherf:
Das ist ganz schwer zu beantworten. Ich glaube, es ist wichtig, ob es einem zum persönlichen Vorteil wird, was man betreibt oder ob es anderen hilft. Ich glaube, es ist wichtig, ob man damit bestehen kann, mit dem, was man macht, vor seinen engeren Freunden, auch seinen kritischen Freunden. Oder ob sie einen in die Isolierung hinein drängen. Das geht mir bei Kirchen zum Beispiel ganz deutlich – mir ist ganz wichtig, dass ich als regierender Sozialdemokrat in meinen kirchlichen Milieus, die natürlich durchgehend kritisch sind gegenüber und besonders auch gegenüber regierenden Sozialdemokraten. Dass ich da bestehen kann und dass ich mich legitimieren kann, dass ich verstanden werde. Und noch wichtiger ist, ob ich von wirklich ganz einfachen Leuten, ganz schwachen Leuten, die eigentlich nicht selber in der Lage sind, sich zu helfen, verstanden werde und begriffen werde. Dass das, was ich mache und was ich bewirken möchte, von ihnen unterstützt wird. Das ist für mich eine Legitimation. Und da geht es manchmal um Ausländer. Ich habe ganz viele ausländische Freunde, einfache Freunde, ich habe ganz viele muslimische Freunde. Ich habe ganz viele Freunde, die eigentlich normalerweise nicht mit Regierenden, mit Ministerpräsidenten auf ‚Du’ sind. Und deren Urteil ist mir ganz wichtig. Und so lange ich das habe, denke ich, kann ich ein Stück diese Legitimationsfrage, die Sie mir gestellt haben, beantworten.

Günter Gaus:
Würden Sie gerne ein linker Konservativer genannt werden?

Henning Scherf:
Es kommt darauf an, von wem.

Günter Gaus:
Wenn Ihre Frau das sagte...

Henning Scherf:
Dann würde ich das akzeptieren. Ich würde das nicht gerne mir von na – vom Bundeskongress der Jungsozialisten bescheinigen lassen. Denen habe ich übrigens versucht, das zu vermitteln, was ich hier gemacht habe und die haben das hier auf ihrem Bundeskongress verstanden. Also, die waren kurz vor der Wahl, haben ihren Bundeskongress hier nach Bremen verlegt, ich habe einen Riesenschreck bekommen, ich dachte, die vermasseln mir alles. Ich mache hier genau das Gegenteil von dem, was die machen. Und siehe da, es ging. Wir haben uns verstanden. Wir haben uns vertragen, auf einem Bundeskongress, drei Wochen vor der Wahl. Auch selbst das geht.

Günter Gaus:
Ein bisschen Spaß ist aber gefragt. Erinnert sich Henning Scherf noch daran, was er gesagt hat, als vor allem Herbert Wehner die große Koalition in Bonn in der Bundesregierung zwischen CDU, CSU und SPD 1967 herbeigeführt hat? Sind Sie demonstrieren gewesen auf der Straße dagegen?

Henning Scherf:
Ich habe sogar überlegt, ob ich aus der SPD austrete deswegen. Und ich habe dann gesagt – vielleicht auch ein bisschen opportunistisch – wenn das in Bremen gemacht wird, dann trete ich sicher aus der SPD aus.

Günter Gaus:
Gibt es da einen Punkt, bei dem Sie austreten würden?

Henning Scherf:
Ja. ...

Günter Gaus:
Können Sie ihn benennen? Nennen Sie drei.

Henning Scherf:
Drei.

Günter Gaus:
Zwei.

Henning Scherf:
Terror kann ich nicht rechtfertigen.

Günter Gaus:
Moment, Terror, den eine Regierungspartei namens SPD ausübt?

Henning Scherf:
Ja.

Günter Gaus:
Wie könnte der aussehen?

Henning Scherf:
Dass sie mit Militärgewalt gegen abweichende Protestierende vorginge, das ist ja passiert in vielen Ländern dieser Welt. Ich könnte überhaupt nicht ertragen, wenn wir Todesurteil, Todesstrafe akzeptieren. Ich könnte nicht ertragen, wenn wir rassistisch würden, wenn wir aus rassistischen Gründen Leuten ihr Recht, ihr Menschenrecht absprechen würden und sagen: du bist weniger, weil du rassisch weniger bist.

Günter Gaus:
Wenn Johannes Rau, ein Bundespräsident, der es sich nicht leicht macht, nicht wieder für dieses Amt kandidieren sollte, dann nimmt er Abschied von 45 Jahren, von mehr als einem halben Leben aktiver Politik. Das ist eine schwere emotionale Leistung, die gewöhnlich von der Öffentlichkeit kaum bedacht und also nicht respektvoll wahrgenommen wird: Loslassen können. Wir kommen gleich auf die Wohngemeinschaft. Können Sie loslassen?

Henning Scherf:
Ich möchte das gerne...

Günter Gaus:
...können. Ich möchte es gerne können. Aber könnten Sie es?

Henning Scherf:
Ich wollte jetzt vor der Wahl...

Günter Gaus:
Sie wollten zurücktreten, wenn nicht...

Henning Scherf:
Ich wollte vor der Wahl zurücktreten und ich wollte eigentlich aufhören, wollte sagen: So, jetzt müsst ihr euch einen Nachfolger verschaffen. Weil - ich will klar sagen, wann Schluss ist. Und dann habe ich mich sowohl von SPD wie von der CDU bedrängen lassen, noch mal wieder zu kandidieren, um diesen Versuch, Bremen zu sanieren, zu Ende zu bringen. Und da habe ich sehr deutlich von Anfang an gesagt: Ihr könnt mich jetzt nicht von einer Entscheidung zur anderen überreden und auf die Weise bewirken, dass ich überhaupt nicht rauskomme. Sondern ich werde euch ganz klar sagen, vor der Wahl ganz klar sagen, Mitte dieser Legislaturperiode ist Schluss.

Günter Gaus:
Und das bleibt dabei?

Henning Scherf:
Ja. Ich möchte ein Leben nach der Politik.

Günter Gaus:
Und was passiert dann, wenn das... Jetzt an der Stelle will ich Sie etwas anderes fragen und dann komme ich auf dieses zurück. Soll ich nun – wat mut dat mut – die allgemein erwartete Frage stellen, ob Sie gegebenenfalls Bundespräsident werden wollen, oder wollen wir dies überspringen, weil Sie doch nur eine ritualisierte Antwort geben würden? Soll ich’s fragen oder soll ich’s überspringen? Es sei denn...

Henning Scherf:
Sie fragen es ja, Sie fragen es ja.

Günter Gaus:
Eben.

Henning Scherf:
Und ich will es klar sagen, ich bin ein persönlicher Freund von Johannes Rau, wir kennen uns aus der GVP-Zeit noch, so lange.

Günter Gaus:
Gesamtdeutsche Volkspartei für die Nachwachsenden gesagt.

Henning Scherf:
Ja. Und ich finde es unerträglich, was sich die politische Öffentlichkeit zur Zeit leistet. Ich stehe ganz und ohne ‚wenn und aber’ hinter unserem amtierenden Bundespräsidenten und beteilige mich nicht an irgendwelchen Spekulationen, wer und wie das vorangehen kann.

Günter Gaus:
Ja, das ist die Frage – die Antwort, die ich erwartet habe. Hätte man auch ungestellt sein lassen können, denn ich glaube, das ist einfach das anständige Verhalten. Aber die Frage bleibt: Wenn alles vorüber ist und wenn Johannes Rau diese schwere Last auf sich genommen hat, loszulassen. Stehen Sie zur Verfügung oder nicht?

Henning Scherf:
Ich bin nicht bereit dazu, Erklärungen abzugeben, weil ich mich nicht beteiligen will an diesem Spekulativen.

Günter Gaus:
Also Sie stehen zur Verfügung.

Henning Scherf:
Ich möchte nicht durch Spekulationen das alles verwirren und alles durcheinander bringen, sondern ich möchte gerne das so sortiert und mit Respekt vor Person und Amt bekleiden, wie ich das nur kann, nur irgendwie kann. Und darum werde ich einfach nichts sagen zu dieser Frage.

Günter Gaus:
Ich wollte ja auch gar nicht gefragt haben.

Henning Scherf:
Okay.

Günter Gaus:
Wenn Sie loslassen, in der Mitte der Legislaturperiode und kein anderes politisches Amt anstreben, jetzt kommt die Wohngemeinschaft. Als die drei Kinder aus dem Haus waren - zwei Töchter und ein Sohn - da haben Ihre Frau und Sie gemeint, wir müssen ja irgendetwas noch machen mit unserem Leben. Sie waren ja noch kaum über vierzig. Und da haben Sie lange gesucht und haben den Gedanken an eine Wohngemeinschaft entwickelt mit Freunden zusammen. Und das sollte so ein Haus sein und Sie haben es gefunden, gemeinsam ausgebaut, hat keine Türschwellen, damit man auch mit einem Rollstuhl, wenn man alt ist rüberkann, und ein Fahrstuhl, damit man nach oben kann und es soll auch schon das Sterbehaus sein, wenn es drauf ankommt.

Henning Scherf:
Ist es auch schon. Zwei...

Günter Gaus:
Zwei sind schon gestorben.

Henning Scherf:
So ist es.

Günter Gaus:
Ist das eine Art linke Existenz, der Versuch, in einem eher rechts gewordenen Land...

Henning Scherf:
Also, wir sind keine SPD-Wohngemeinschaft.

Günter Gaus:
Nein, ihr seid auch kein Kibbuz.

Henning Scherf:
Sondern wir sind ganz bunt und wir sind eher an Ökumene interessiert, als an Politik interessiert. Und wir haben gemeinsam ein christliches Logierhaus gegründet und haben, beteiligen uns...

Günter Gaus:
Was geschieht da?

Henning Scherf:
Wir versuchen, uns gegenseitig das Alte Testament wieder lebendig zu machen, direkt darüber zu reden. Wir versuchen, uns reinzuarbeiten in die Texte und zwar in die überkonfessionellen Texte. Und zum Beispiel fahren wir dann auch dahin. Jetzt planen wir gerade an einer Reise im Oktober in die südöstliche Türkei in diese Gebiete, in denen wirklich zur Apostelzeit begonnen worden ist, Gemeinden zu gründen. Das ist... das hält uns zusammen.

Günter Gaus:
Wer gehört alles dazu?

Henning Scherf:
Da gehört ein katholischer Geistlicher dazu, da gehört...

Günter Gaus:
Bekreuzigt sich der nicht, wenn er den Protestanten Scherf sieht?

Henning Scherf:
Nein, wir sind richtig dicke Freunde, wir vertragen uns sehr gut und wir lernen voneinander und ich lerne besonders viel von ihm. Ein Ehepaar, da ist er Arzt und hat jetzt aufgehört als Arzt und sie ist Lehrerin, ist auch schon pensioniert, war zuletzt Günther Grass’ Geschäftsführerin und wir leben sehr eng zusammen. Dann ein persönlicher Referent von mir. Dann ein Muslim aus der Saharawüste mit seiner Frau, die gerade schwanger ist und ein Kind bekommt. Wir sind also eine – wenn Sie so wollen – überkonfessionelle Gruppe, die eben sogar Muslims mit versucht zu integrieren. Das ist uns viel spannender als wenn wir parteipolitische Programme uns gegenseitig vorlesen. Und wir wollen uns gegenseitig helfen. Wir wollen uns auch unterstützen im Altwerden, wir wollen - wie das eben bei dem Tod der Beiden gewesen ist. Die sind beide an Krebs gestorben und haben lange, lange Jahre dazu gebraucht und wollten nicht in ein Krankenhaus. Und wir haben das nur gemeinsam geschafft. Jeder von uns wäre einzeln überfordert gewesen, das mit seiner eigenen Kraft zu machen.

Günter Gaus:
Es gibt gemeinsame Mahlzeiten.

Henning Scherf:
Ja, nicht jeden Tag, sondern so... Und wenn das jetzt so ist – heute zum Beispiel werde ich wieder – weil meine Frau in Berlin ist – werde ich wieder mit den anderen zusammen essen. Und so – wir teilen uns die Tage so wie sie kommen und helfen uns. Und das ist – ja, ist das links? Es ist eigentlich menschlich. Das ist eigentlich jedem zu wünschen, dass er Menschen hat, die in diesem komplizierten Lebensalterabschnitt, wo man die Kinder aus dem Haus gelassen hat, wo man vielleicht sogar schon aus dem Beruf ausgeschieden ist, die sich dann zusammentun und sagen: Wir mischen unsere Talente, wir mischen unsere Begabungen und wir machen daraus was Lebendiges.

Günter Gaus:
Ich bin nicht der Meinung, dass das zwingend links sein muss - nur, es war ein Angebot, Sie noch mal auf das Links-Rechts-Thema zu bringen. Wie groß ist die Privatheit in einem solchen Haus dann? Wie kann man sich zurückziehen und wie respektieren die anderen, dass man sich jetzt zurückziehen will?

Henning Scherf:
Wir haben die Fehler von Studentenwohngemeinschaften alle reflektiert, die ja sehr eng und mit großen Konfliktpunkten auch zu tun hatten. Wir sind also auf großzügigen fünf Etagen verteilt. Und wir können ohne Mühe, ohne dass jemand einen Beschluss fordert, können uns jeder zurückziehen, wann immer der Einzelne will. Da wir uns inzwischen so gut kennen, wissen wir auch genau voneinander, wann es geht und wann es nicht geht. Das geht alles informell und das Haus ermöglicht das, ermöglicht dieses neugierige Aufeinanderzugehen und das Respektieren, dass, wer immer es will, alleine gelassen wird.

Günter Gaus:
Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Scherf. Was macht Ihnen Spaß daran, dann und wann, nicht oft, als Pianist zum Beispiel mit Mozarts A-Dur-Sonate öffentlich aufzutreten?

Henning Scherf:
Das mit dem Öffentlichen muss ich einschränken. Ich spiele viel lieber für mich selber alleine. Und es macht mir ganz große Freude. Mozart ist wie wenn – ja – wie wenn eine andere Welt mir begegnet. Es gibt diesen schönen Film, wo dann der Salieri sagt: Das ist ja der liebe Gott, der diese Musik geschrieben hat, das ist nicht dieser dumme Rotzbengel, der da den Mädchen hinterherläuft. Mozart ist, wie wenn man ein Tor aufstößt und eine andere Welt entdeckt, in der man sich einrichten kann. In der man sich auch wieder aufrichten kann. Karl Barth hat jeden Morgen begonnen, seinen Arbeitstag begonnen, dadurch, dass er Mozart gespielt hat. So ähnlich geht’s mir, ich kann es leider nicht jeden Morgen organisieren.