Sendung vom 08.02.1966 - Schmidt, Helmut

Günter Gaus im Gespräch mit Helmut Schmidt

Ein Mindestmaß an Ehrgeiz ist notwendig

Helmut Schmidt, geboren am 23. Dezember 1918 in Hamburg-Barmbek.
Absolvierte die Oberschule und wurde 1937 zum Arbeitsdienst, später zum Militär eingezogen. War bei Kriegsende Oberleutnant der Luftwaffe. Studium der Staatswissenschaften und der Volkswirtschaft. 1949 Diplom-Volkswirt. 1946 Beitritt zur SPD, 1947/58 Vorsitzender des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS). 1953 Wahl in den Bundestag, ab 1957 Vorstandsmitglied der SPD-Bundestagsfraktion, ab 1958 Vorstandsmitglied der SPD. Von 1961 bis 1965 Innensenator in Hamburg (galt seit seinem Einsatz bei der Sturmflutkatastrophe 1962 als „Macher“). Ab 1965 wieder im Bundestag und stellvertretender Fraktionsvorsitzender, ab 1967 Fraktionsvorsitzender und Mitglied des SPD-Präsidiums, ab 1968 Stellvertretender Parteivorsitzender. 1969 wurde er Verteidigungsminister im ersten Kabinett Brandt, 1972 nach dem Rücktritt von Schiller Wirtschafts- und Finanzminister. Im Mai 1974 nach dem Rücktritt von Brandt wurde er zum Bundeskanzler gewählt. Und in diesem Amte 1976 und 1980 bestätigt. Im Februar 1982 stellte er im Bundestag angesichts zunehmender Auseinandersetzungen in der Koalition die Vertrauensfrage, die er gewann; im September 1982 kam es dann zum Bruch der Koalition mit der FDP und zum erfolgreichen Mißtrauensvotum gegen ihn; er wurde durch Helmut Kohl als Bundeskanzler abgelöst. Für 1987 verzichtete er auf eine weitere Kandidatur zum Bundestag. Schmidt ist seit 1983 Herausgeber der Hamburger Wochenzeitung "Die Zeit".
Das Gespräch wurde gesendet am 8. Februar 1966.


Gaus: Herr Schmidt, Sie haben nach der Bundestagswahl im Herbst 1965 Ihr Amt als Hamburger Innensenator aufgegeben und sind als Abgeordneter in die sozialdemokratische Bundestagsfraktion zurückgekehrt, zurückgekehrt also in die Opposition. Wie groß ist Ihre ganz persönliche Bitterkeit darüber, daß Sie aus der handfesten Arbeit des Regierens – wenn auch nur auf Länderebene – in die relative Ohnmacht der parlamentarischen Opposition in Bonn zurückkehren mußten?

Schmidt: Ja, Sie sagten "mußten", Herr Gaus; ich mußte ja nicht, ich habe ja gewollt. Aber der Ausdruck Bitterkeit ist vielleicht gleichwohl gerechtfertigt. Ich würde nicht sagen eine sehr große Bitterkeit, aber immerhin: Mit ein wenig Wehmut bin ich aus Hamburg weggegangen. Zum einen, weil es in Hamburg eine Arbeit war, die mir sehr viel Spaß gemacht hat, eine sehr handfeste Arbeit. Und zum anderen, weil ich, wie ich in Hamburg gerne im Spaß sage, von Geburt und von Gesinnung Hamburger bin und in meiner Vaterstadt besonders gerne gearbeitet habe. Ja, das harte Brot der Opposition ... So hart ist es nun auch wieder nicht. Ich hatte es ja schon einmal acht Jahre mitgemacht.

Gaus: Aber ein bißchen Enttäuschung, daß es nicht weitergegangen ist mit dem Regieren?

Schmidt: Ja, ich weiß nicht, ob der Ausdruck Enttäuschung richtig ist. Ich habe mich ja dazu entschlossen, nicht wahr; aber es ist mir nicht ganz leicht gefallen.

Gaus: Sie gelten als ein Mann mit nüchternem Tatsachensinn, als ein Pragmatiker; haben Sie an einen sozialdemokratischen Wahlsieg 1965 geglaubt?

Schmidt: Nein, ehrlich gesagt, das habe ich nicht geglaubt. Ich habe damit gerechnet, daß wir – eine relativ zurückhaltende Rechnung hatte ich mir aufgemacht, Wetten abgeschlossen –, daß wir ungefähr 42 Prozent der Mandate bekommen würden.

Gaus: Warum haben Sie sich bereit gefunden, in das Schattenkabinett Willy Brandts einzutreten, wenn Sie an den Wahlsieg nicht glaubten?

Schmidt: Weil das notwendig war. Es müssen sich immer, auch wenn eine Sache nicht außerordentlich aussichtsreich steht und außerordentlich hoffnungsreich ist, Leute finden, die das machen.

Gaus: Was sind nach Ihrer Meinung die wichtigsten Gründe gewesen, die zu dem neuerlichen Mißerfolg der SPD geführt haben?

Schmidt: Da gibt es tief liegende Gründe und welche, die mehr an der Oberfläche sind. Zu den tief liegenden Gründen würde ich zählen, daß große Teile der deutschen Wählerschaft nach wie vor zwar zwischen den Wahlen durchaus mit der Sozialdemokratie liebäugeln – zum Teil aus Verärgerung über etwas, was die Regierung tut oder was sie läßt, zum Teil deswegen, weil die Sozialdemokratie manches sagt oder tut, was ihnen besonders gefällt –, die aber dann gleichwohl in dem Augenblick, wo sie an die Wahlurne gehen, letzte Hemmungen nicht überwinden können. Das sitzt wahrscheinlich tief im gefühlsmäßigen Bereich, und das kann man deshalb auch durch einen besonders guten Wahlkampf und durch besonders gute Kandidaten, durch eine besonders gute Mannschaft, durch einen besonders guten Kanzlerkandidaten keineswegs überwinden. Das ist eine Sache, die im Laufe der Zeit erst überwunden werden muß. Da stecken auch sehr alte Vorurteile drin, die den Leuten vielleicht nicht klar bewußt sind. Zum anderen gibt es Gründe, die mehr an der Oberfläche liegen, die man ohne besonderen psychologischen Scharfblick erkennen kann.

Gaus: Ist der Wahlkampf so geführt worden, wie Helmut Schmidt ihn geführt sehen wollte?

Schmidt: Nein, ich hätte mir den Wahlkampf etwas anders gewünscht. Ich würde die Substanz der sozialdemokratischen Politik, die dargeboten worden ist, nicht wesentlich verändert haben, wenn ich die Richtlinien der Politik dieser Mannschaft hätte bestimmen können. Aber ich hätte wahrscheinlich die Verpackung wesentlich geändert. Ich hätte auch sehr viel deutlicher gemacht die Punkte, an denen nun wirklich bedeutsame Unterschiede zur CDU/CSU, zur bisherigen Regierung gegeben waren; die hätte ich versucht, sehr viel deutlicher in Erscheinung treten zu lassen.

Gaus: Herr Schmidt, die Politiker Ihrer Generation – Sie wurden im Dezember 1918 in Hamburg geboren –, die Politiker Ihrer Generation, die erst nach dem Zweiten Weltkrieg in die Politik geraten sind, haben die einst schier unübersteigbaren ideologischen Schranken zwischen den Parteien nicht mehr recht kennengelernt. Die westdeutschen Parteien sind in vielen Grundauffassungen heute eines Sinnes. Unter diesen Umständen könnte sich doch ein Mann Ihrer Generation sehr wohl einmal sagen, so ganz für sich selber sagen: Wärst du nach 1945 nicht in die bisherige Verliererpartei, sondern in die Gewinnerpartei gegangen, nicht in die SPD, sondern in die CDU, dann wärst du heute vielleicht Mitregierender in Bonn, du könntest deine politischen Vorstellungen in die Wirklichkeit umsetzen. Direkt gefragt, Herr Schmidt: Haben Sie gelegentlich das bittere Gefühl: Ich habe falsch optiert, als ich 1946 in die SPD eingetreten bin?

Schmidt: Bittere Gefühle hat man zuweilen in der Politik, aber das Gefühl, in die falsche Partei eingetreten zu sein, hat mich niemals beschlichen. Vielleicht soll ich in dem Zusammenhang sagen, wie es überhaupt kam, daß ich zur Sozialdemokratie gekommen bin. Ich bin lange Soldat gewesen wie alle Leute meines Jahrgangs, von 1937 bis 1939 aktive Wehrpflicht, dann anschließend kam der Krieg und dann noch eine kurze Gefangenschaft. Ich bin in der Gefangenschaft Sozialdemokrat geworden, unter dem Einfluß älterer Offiziere. Und da spielt das Kriegserlebnis eine große Rolle.
Manches von dem, was wir als junge Soldaten, vorher in der Hitlerjugend, später als junge Soldaten während des Krieges, an Idealen vorgesetzt bekommen hatten, haben viele meines Alters, so auch ich, sehr schnell als nicht ernstzunehmend, als vorgetäuscht, als Mache empfunden. Aber manches haben wir doch auch sehr ernst genommen. 25 Jahre später, also heute, klingt es für manche Ohren gar nicht sehr angenehm, wenn ich sage, daß für mich das Erlebnis der Kameradschaft im Kriege einer der Werte ist – bei vielen schlimmen Dingen, die man auch mitgebracht hat aus dem Krieg –, die ich glaubte, mitgebracht zu haben. Und ich habe dann im Gefangenenlager eigentlich entdeckt, daß letztlich ähnliche Grundprinzipien diesem Erlebnis der Kameradschaft – das ja gleichzeitig eine Maxime war – zugrunde lagen wie den Prinzipien des Sozialismus. Deswegen kam für mich eine andere Wahl überhaupt nicht in Betracht, als ich schließlich wieder zu Hause war.

Gaus: Was sind für Sie die stärksten Vorbehalte gegenüber der anderen großen Partei, der CDU, nach dem Kriege gewesen?

Schmidt: Nach dem Kriege? Ja, ich stand also gar nicht vor der Wahl, für mich gab es gar keine Wahl. Das war eine selbstverständliche Entwicklung. Ich habe nie überlegt, ob eine andere Partei in Frage kam. Und ich habe also damals auch keine allzu starken Vorbehalte gehabt gegen die CDU. Die FDP war mir nicht so geläufig und deutlich, die hat ja auch lange Jahre gebraucht, bis sie ein einigermaßen einheitliches, deutliches Profil bekam. Aber ich habe gegen die CDU keine allzu großen Vorbehalte gehabt, die haben sich dann erst später herausgestellt.

Gaus: Und welche späteren sind das?

Schmidt: Lassen Sie mich darüber einen Augenblick nachdenken. Ich glaube, daß die CDU eine Partei ist, die über einen großen Fundus ausgezeichneter Leute verfügt, verschiedenen Charakters, verschiedener menschlicher Entwicklung, verschiedener Auffassung. Ich sehe sehr viel Positives bei dieser Partei. Aber was mich letztlich häufig wieder sehr stört, das ist das Beiseiteschieben von Überzeugungen, von Grundsätzen, die man eigentlich nicht beiseite schieben darf. Die schwersten Vorwürfe, die ich in all den Jahren unter Adenauer, in den vierzehn Jahren, der CDU machen würde, das sind der bisweilen allzu legere Umgang mit der Wahrhaftigkeit, der bisweilen nicht bis ins äußerste penible Umgang mit dem Prinzip der Gerechtigkeit. Sie werden sagen, das hat mit Politik gar nichts zu tun.

Gaus: Ich sage es nicht.

Schmidt: Aber das sind eigentlich die Dinge, die mich am meisten stören bei der CDU.

Gaus: Nun sind ein Teil der Vorbehalte, die Sie jetzt als Sozialdemokrat gegen die CDU vorgetragen haben, auch genau jene Vorbehalte, die Christliche Demokraten gegenüber der SPD vorbringen. Wie ist es mit dem Opportunismus heutzutage in der Politik überhaupt, und wie steht Helmut Schmidt dazu?

Schmidt: Opportunismus ist ein sehr schwierig zu behandelndes Wort, weil jeder, der das Wort hört, sofort sehr negative Einstellungen damit verbindet. Auf die Gefahr hin, daß das jetzt auch geschieht, wenn Sie diese Frage so stellen und ich also antworten soll, was ich vom Opportunismus hielte, will ich zunächst einmal als eine Teilantwort sagen, daß ein gehöriges Gefühl für das, was opportun ist, notwendigerweise jedem Politiker eigen sein muß, sonst ist er nicht zu gebrauchen für seine Berufung.

Gaus: Diese Portion haben Sie?

Schmidt: Ich bin nicht immer ganz sicher, ob ich sie habe. Ich habe mich auch schon bisweilen in die Nesseln gesetzt. Die zweite Hälfte der Antwort lautet aber: Das, was landläufigerweise Opportunismus genannt wird, nämlich das allzu wendige Einstellen auf jeweilige Verhältnisse, um nicht aufzufallen, um nicht anzuecken, um sich durchzulavieren, davon halte ich nicht viel.

Gaus: Hat sich die SPD nach diesem Gesetz, wie Sie es jetzt aufgestellt haben, verhalten in den letzten Jahren?

Schmidt: Die Partei als Ganzes – sie ist ja eine Summe aus dem Wirken vieler einzelner Menschen, bedeutender und weniger bedeutender –, die Partei als Ganzes ist sicherlich frei von Opportunismus. Und das, was ihr als Opportunismus angekreidet wird, was ihr als Opportunismus unterstellt wird, würde ich anders sehen wollen und würde ich anders nennen. Es ist zum großen Teil Anpassung an die tatsächlichen Verhältnisse und das Abgehen von Vorstellungen, die in der Realität nicht mehr vorgefunden werden. Das würde ich nicht Opportunismus nennen. Aber sicherlich hat es, wie bei Politikern aller Richtungen, auch opportunistische Handlungen einzelner gegeben. Aber ich würde gerne in dem Zusammenhang auf einen mir sehr wichtigen Akt kommen, nämlich auf das Godesberger Programm von 1959.

Gaus: Ich wäre darauf gekommen, aber bitte ...

Schmidt: Ja, das Godesberger Programm steht ja bei vielen, die den Sozialdemokraten Opportunismus vorwerfen, oder stand bei vielen im Vordergrund. Viele haben das zunächst mißverstanden als eine opportunistische Anpassung an die neue psychologische oder massenpsychologische Situation. Das war völlig abwegig. Ich habe ja selber, als zunächst ganz junger Mann, fünfzehn Jahre daran teilgehabt, wie all diese Gedanken sich entwickelten und wie sie dann schließlich im Godesberger Programm, das eine Art Summe war, die gezogen wurde, sich niedergeschlagen haben. Das war keine opportunistische Anpassung, sondern das war der schließliche und endliche Vollzug, das Sichtbarmachen einer Entwicklung, die wahrscheinlich in manchen einzelnen schon in der Weimarer Zeit angefangen hat; die während des Dritten Reiches, in den Konzentrationslagern, in der Emigration, auf manche Weise während des Krieges, auch von manchen Leuten, die gar nicht zur Sozialdemokratie gehört hatten vordem, fortgesetzt worden war und die dann schließlich und endlich zwangsläufig eines Tages in ein solches Programm einmünden mußte.

Gaus: Herr Schmidt, was hat Sie denn nun überhaupt bewogen, 1946 in eine Partei einzutreten? Wieso hatten Sie nicht, gerade aus der Kriegsgefangenschaft, aus langer Militärzeit zurück, sozusagen die Nase voll?

Schmidt: Ja, da haben Sie recht, ich hatte durchaus die Nase voll.

Gaus: Warum dann in eine Partei?

Schmidt: Meine Frau und ich und einige Freunde, die dazugehörten, haben während des Krieges und insbesondere in den letzten Kriegsjahren eigentlich gar keinen Zweifel mehr daran gehabt, daß das alles in einem schrecklichen, äußeren und inneren und moralischen Zusammenbruch enden würde. Ich muß gestehen, wir haben uns den Zusammenbruch sogar noch schlimmer vorgestellt, als er gekommen ist. Und bei dieser Vorstellung von der Sinnlosigkeit, in die all unser damaliges Tun und Lassen einmünden würde, haben wir wohl manchmal gesagt, nie im Leben wollten wir etwas mit Politik zu tun haben.
Unsere Idealvorstellung war – damals gab es ein Buch von Ernst Wiechert, "Das einfache Leben"; ich weiß, daß viele Leute damals ähnlich empfunden haben wie wir auch; dies wäre unser Ideal gewesen, ganz zurückgezogen zu leben von dem Getriebe der Welt. Und als man dann aus der Gefangenschaft nach Hause kam und sah, was alles an entsetzlichen Dingen da war und was ja änderbar war, man konnte ja etwas dagegen tun, da fand ich mich wie viele meiner Altersgenossen herausgefordert, daran mitzuwirken. Wir haben schon 1945 in Hamburg eine Gruppe sozialistischer Studenten gegründet.

Gaus: Sie waren an der Universität und studierten Volkswirtschaft?

Schmidt: Ja, an der Hamburger Universität. Und das waren fast alles Soldaten, die heimgekehrt waren, die alle das selbe Gefühl harten, hier muß man irgend etwas tun, das kann man nicht einfach so sich selber überlassen, das Chaos.

Gaus: Nun gut. Nun waren Sie also in der SPD. Und die Sozialdemokratie hatte zwar immer gute Soldaten gestellt, aber nach der damals vorherrschenden Parteimeinung galten mindestens Offiziere theoretisch doch als suspekt. Ich würde gerne wissen, wie reagierte denn der traditionell gebundene Genosse auf den Offiziersledermantel-Genossen Schmidt, der da nun plötzlich auftauchte?

Schmidt: Zunächst gar nicht so ganz freundlich. Aber nachdem er dann merkte, daß der andere es ernst meinte und auch trotz Hänseleien und gelegentlicher Flachserei und gelegentlicher böser Bemerkungen gleichwohl dabeiblieb, hat sich das dann im Laufe der Jahre abgerieben. Das ist ja nicht nur mir so gegangen, das ist manchem anderen auch so gegangen.

Gaus: Was waren das für böse Bemerkungen?

Schmidt: Nun, es gab Leute, die allen Ernstes zunächst uns, die wir als ehemalige Offiziere aus dem Krieg nach Hause kamen, nicht ganz abnehmen wollten, daß wir uns innerlich für die Sozialdemokratie und in der Sozialdemokratie engagierten. Sie hielten das für irgendeine Art von Mache oder Opportunismus oder sonst was. Das gab es schon. Das wurde dann bisweilen auch in bösen Bemerkungen gesagt.

Gaus: Wie haben Sie das durchgestanden? Sie gelten als ein harter Debattierer. Das muß nicht dasselbe sein wie ein unempfindlicher Politiker. Ich würde gern wissen, wie reagieren Sie auf Widerstand gegen Ihre Person und Ihre Absichten: Gleichgültig, sofern es nicht ein Widerstand wird, der die Position gefährdet, oder wachsen Sie am Widerstand, oder deprimiert Sie Widerstand, wenn er persönlich gefärbt ist, weil Sie sich dann verkannt fühlen?

Schmidt: Nein, das letzte wollen wir erst mal ausschalten. Deprimiert habe ich mich nie gefühlt, wenn ich mich mit jemand streiten mußte oder wenn andere sich mit mir streiten wollten. Das Wort, daß man am Widerstand wächst, dem man gegenübersteht, das kommt mir ein bißchen hochgestochen vor, das würde ich nicht gerne gebrauchen.

Gaus: Sie würden es aber sachlich nicht ausschließen?

Schmidt: Nein, ich würde das nicht ausschließen, im Gegenteil.

Gaus: Sie würden es eigentlich doch für sich in Anspruch nehmen wollen?

Schmidt: Ja, ich würde es anders ausdrücken: Manche Fähigkeiten entfalten sich erst in der Auseinandersetzung. Das ist sicherlich bei vielen Menschen so, nicht nur bei mir.

Gaus: Haben Sie eine Scheu vor bestimmten Formulierungen, die Ihnen hochgestochen erscheinen, obwohl Sie den Tatbestand, der damit bezeichnet wird, für sich in Anspruch nehmen?

Schmidt: Oh ja. Ich glaube, das ist für meine ganze Generation ziemlich weitgehend kennzeichnend, daß wir uns in der Ausdrucksweise gerne herunterspielen oder, wie man in Hamburg sagt, aus dem Englischen importiert, wir lieben eigentlich das Understatement mehr als die Übertreibung, und nichts ist meiner Generation verhaßter als die Phrase.

Gaus: Ich möchte das mit dem Widerstand gegen Helmut Schmidt, und wie er darauf reagiert, gerne noch genauer wissen. Lassen Sie mich einen Vergleich ziehen: Der Vorsitzende der SPD, Willy Brandt, ist in seinen Wahlkämpfen als Kanzlerkandidat häufig persönlich verunglimpft worden, und Brandt wurde offensichtlich dadurch tief verletzt. Wie weit sind Sie nun, Herr Schmidt, im Gegensatz zu Brandt bei politischen Auseinandersetzungen von Gefühlen frei?

Schmidt: Von Gefühlen frei bin ich sicher nicht. Aber daß ich verletzt würde, das kann ich auch nicht sagen. Das gehört ja gewissermaßen zu dem Beruf des Politikers dazu, daß er im Laufe der Zeit, wenn es ihm nicht von Natur aus mitgegeben ist, sich selber dazu erzieht, eben nicht allzu leicht verletzt zu sein. Willy Brandt hatte übrigens allen Grund, verletzt zu sein.

Gaus: Das ist nicht in Zweifel gezogen. Mich interessiert hier die Frage: Wie wäre Helmut Schmidt zu verletzen? Gibt es etwas, was Helmut Schmidt verwunden würde?

Schmidt: Wenn ich an Brandts Stelle gewesen wäre, mit demselben Lebensweg wie er, möchte ich glauben, es hätte mich auch verletzt. Ich hätte mich allerdings resolut zur Wehr gesetzt. Willy Brandt hat gemeint, darüber mit einer gewissen Großzügigkeit hinweggehen zu sollen. Ich hätte wahrscheinlich anders reagiert.

Gaus: Wie hätten Sie reagiert?

Schmidt: Scharf.

Gaus: Sie hätten geklagt?

Schmidt: Nein, in offener Feldschlacht hätte ich mich auseinandergesetzt mit diesen Leuten.

Gaus: Kommen Sie sich niemals zu fein vor, um irgendeine Auseinandersetzung zu führen?

Schmidt: Das ist wieder so ein hochgestochener Ausdruck, Herr Gaus, nicht? Nein, ich möchte nicht gerne sagen, ich käme mir zu fein vor, aber es gibt Leute, mit denen ich mich nicht einlassen würde, einfach weil ich das Gefühl habe, es steht nicht dafür, weil sie zu kleinkariert sind oder weil sie zu gehässig sind. Die gibt es nicht unbedingt im Parlament, aber man begegnet im Leben Leuten, die einen ärgern wollen, und man sagt sich dann, da schieben wir was ein, da kümmern wir uns nicht drum.

Gaus: Und das können Sie auch wirklich, da müssen Sie sich nicht zwingen? Sie haben sich immer unter Kontrolle?

Schmidt: Ich glaube, das kann man nicht sagen, daß man sich immer unter Kontrolle hat, aber ziemlich, das glaube ich schon, ja.

Gaus: Kommen wir einmal auf den Debattenredner Schmidt zu sprechen. Sie haben sich im Parlament, im Bundestag, dem Sie zunächst von 1953 bis 1961 angehörten, den Beinamen „Schmidt-Schnauze“ zugezogen oder verdient, wie immer Sie wollen. Würden Sie mir sagen: mehr zugezogen oder mehr verdient?

Schmidt: Beides.

Gaus: Sie haben sich den Beinamen "Schmidt-Schnauze" verdient, und es hat Debatten gegeben, bei denen Sie offensichtlich Ihren Gegner in Rage bringen wollten. Ich erinnere mich an eine, in der Sie dem Baron Guttenberg, dem CSU-Abgeordneten, dem Sinne nach vorgehalten haben, daß Großgrundbesitzer wie er allzu oft übriggeblieben seien und dazu beigetragen hätten, daß manche Verhältnisse in Deutschland nicht so geordnet seien, wie Sie sie sich wünschten. Meine Frage: Sind Sie dann auch in Rage, oder behalten Sie dabei einen ganz kühlen Kopf?

Schmidt: Zwar gereizt, aber ganz kühlen Sinnes. Ich erinnere mich sehr gut an diese Auseinandersetzung. Wenn Sie gerade diese Gelegenheit jetzt in Erinnerung rufen, dann muß ich wohl sagen dürfen, daß eine sehr scharfe, bewußt provozierende Rede Guttenbergs unmittelbar vorhergegangen war. Er griff die innere Glaubwürdigkeit der Sozialdemokraten an; und das nach meinem Empfinden arrogant und überheblich. Wir sind inzwischen ganz gute Kollegen geworden, das ist ja nun auch acht Jahre her, wir können sehr freundlich und nett miteinander umgehen, obwohl wir sehr verschiedener Meinung sind. Aber meine ganze Fraktion hat damals als eine Ungeheuerlichkeit empfunden, mit ganz kaltem Blut dargestellt zu werden als Leute, die bewußt etwas anderes sagen, als sie denken. Und ich hatte das Gefühl, daß darauf eine deutliche, scharfe, kämpferische Erwiderung notwendig war. Übrigens war meine Erwiderung nur fünf Minuten lang, und ich habe dann in den nächsten 50 Minuten ganz sachlich ein schwieriges Problem auseinandergesetzt. Sie können das auch nachschlagen.

Gaus: Sie sehen, es sind mir in Erinnerung geblieben die fünf Minuten, als ich nach einem Beispiel suchte.

Schmidt: Ich habe sie nur improvisiert aus der Situation heraus.

Gaus: Ich stelle meine Frage noch einmal: Kühlen Bluts, so sagen Sie, hatte Guttenberg die SPD attackiert. Helmut Schmidt ging hinauf und schlug zurück. Kühlen Bluts oder doch in Rage?

Schmidt: Gereizt, wie ich schon sagte, aber ...

Gaus: Kontrolliert?

Schmidt: Das passiert mir niemals im Parlament, daß ich etwas anderes sage, als ich sagen will.

Gaus: Sie wissen, wenn Sie hinaufgehen, was Sie sagen wollen, und wenn Sie herunterkommen, wissen Sie, was Sie gesagt haben?

Schmidt: Nein, das wäre falsch. Manche Gedanken fliegen ja eigentlich dem Redner zu, während er spricht, und manches bildet sich in Gedanken, indem er in den Gesichtern, die vor ihm sitzen, die Reaktion der Zuhörer sieht; dies ist ganz wesentlich für das, was man sagt. Man muß manchmal eine Sache noch vertiefen, noch nachstoßen, weil man sieht, daß sie nicht ganz verstanden wurde oder noch nicht ganz verstanden wurde, oder daß man sich nicht deutlich genug ausgedrückt hat; oder man sieht, daß eine Pointe vielleicht gar keine war, von der man dachte, sie sei eine gewesen, und muß das dann noch einmal verschärfen. Man weiß nicht unbedingt vorher, was man sagen will. Man weiß im großen und ganzen, was man sagen will.

Gaus: Man kennt den Inhalt, aber nicht die Formulierung.

Schmidt: So ist es. Man kennt den Inhalt, aber keineswegs die Formulierung – mit Ausnahmen allerdings. Es gibt manchmal natürlich auch in Debatten Sätze, die man im Kopf oder vielleicht sogar auch auf dem Papier vorformuliert hat. Das gibt es auch.

Gaus: Gehören Sie zu den Debattenrednern, die lieber vorformulieren, oder zu jenen, die es darauf ankommen lassen, daß ihnen die richtige Formulierung einfällt?

Schmidt: Das letztere. Ich bin gehandikapt und kann in große Verlegenheit geraten, wenn ich, wie ich es schon einmal gemacht habe – es ist schon viele Jahre her –, eine Rede vorformulieren würde. Dann verliere ich den Faden zum Papier, weil ich mich inzwischen davon löse und mir alle möglichen Dinge einfallen, die ich auszudrücken versuche. Und wenn ich mit diesem Gedanken, der mir eingefallen ist, zu Ende bin, dann muß ich ja eigentlich wieder auf das Papier zurückkommen, aber ich finde den Faden nicht mehr. Also, ich hasse diese vorformulierten Reden. Auf der anderen Seite ist es vielleicht notwendig, in dem Zusammenhang zu sagen, daß ja bei großen Debatten ein technischer Zwang auf den Redner ausgeübt wird, vorzuformulieren; und zwar einfach über die Technik der Presse, die einen gewissen Druck ausübt, damit sie rechtzeitig noch ihre Nachrichten durchgeben kann, vorher von ihm zu wissen, was der Mann nun eben sagen wird. Und wenn er diesem Zwang nachgibt und das vorher aufschreibt und formuliert, dann darf er nicht oben nachher etwas völlig anderes sagen als das, was vorher an die Presse gegangen ist. Das ist eine gewisse Kalamität.

Gaus: Kommen wir noch einmal zurück auf die ersten Vorstellungen, die Sie bewogen haben, 1946 in die SPD zu gehen. Hatten Sie eine Art Frontsozialismus mit nach Hause gebracht? Wollten Sie eine gänzlich erneuerte Gesellschaft?

Schmidt: Nein, das möchte ich nicht sagen. Sehen Sie, mir ist es so gegangen, daß ich während des Krieges immer deutlicher spürte und mir immer klarer wurde, bewußter und klarer wurde, daß das ein schlechtes Regiment war, unter dem wir lebten, eine schlechte Regierung, ein schlechter Staat. Mir ist sogar auch, was vielen Frontsoldaten verborgen bleiben mußte, klargeworden, daß es eine verbrecherische Regierung war und ...

Gaus: Warum ist Ihnen das klargeworden?

Schmidt: Weil ich während einer Zeit des Krieges in Berlin im Luftfahrtministerium tätig sein konnte und dadurch mehr Einblick gekriegt habe in manche Dinge, als man an der Front hat kriegen können, und auch mehr gehört habe. Ich wußte ganz genau, daß ich dagegen war. Ich wußte aber nicht, wofür ich hätte sein sollen. Das hat in meiner Erziehung nicht drin gelegen. Ich war im Jahre 1933, als die Nazis kamen, vierzehn Jahre alt gewesen. Mir hatte niemand gesagt, wie ein Staat eigentlich beschaffen hätte sein sollen. Ich hatte gar keine positive Vorstellung von der Demokratie. Mir war nur klar, daß die höhnische Herabsetzung der westlichen Demokratien durch das Dritte Reich nicht ganz stimmen konnte; daß das wohl falsch war. Aber wie es denn nun wirklich war in einer Demokratie, wie ein Rechtsstaat wirklich geordnet sein sollte, davon hatte ich keine positive Vorstellung. Und aus diesem Gefühl heraus, einerseits genau zu wissen, so darf es hier nicht sein in Deutschland, andererseits aber nicht genau zu wissen, wie es denn statt dessen sein sollte, ergab sich diese Wißbegierde, wie übrigens in vielen anderen Gefangenenlagern ja auch, die unter uns Kriegsgefangenen zu endlosen Vorträgen und nächtlichen Gesprächen geführt hat. Eigentlich habe ich meine positive Vorstellung, wie ein Staat wohl sein sollte, ich sagte es schon, in der Gefangenschaft gebildet. Und jene Parallelität zwischen dem sozialistischen Prinzip der Solidarität – übrigens nicht nur ein sozialistisches Prinzip, genauso gut kommt es im katholischen Naturrecht vor –, zwischen diesem sozialistischen Prinzip der Solidarität und dem im Kriege erlebten Prinzip der Kameradschaft hat dann ein übriges getan.

Gaus: Ihr Vater war Studienrat in Hamburg gewesen. Haben Sie von ihm in irgendeiner Weise eine politische Vorbildung genossen?

Schmidt: Mein Vater war alles andere als ein Nationalsozialist; er war kein Widerstandskämpfer, aber alles andere als ein Nationalsozialist.

Gaus: Er war auch kein Sozialdemokrat?

Schmidt: Nein, er war auch kein Sozialdemokrat. Ich nehme an, er hat zeit seines Lebens gependelt zwischen Deutscher Volkspartei und der Deutschen Demokratischen Partei der Weimarer Zeit. Aber er war vorsichtig, und er hatte vielleicht auch Grund, vorsichtig zu sein. Jedenfalls hat er vor 1933, als wir beiden Jungs in der Schule und später in der Hitlerjugend waren, sehr sorgfältig vermieden, uns gegenüber dem, was wir dort lernten, nun zu Hause in Konflikte zu bringen, so daß ich also von meinem Vater her zwar atmosphärisch gegen das Dritte Reich beeinflußt worden bin, aber nicht für irgendwelche Dinge.

Gaus: Sie haben vorhin von den nächtelangen Diskussionen gesprochen, die bald nach dem Kriege in den Gefangenenlagern und in Westdeutschland geführt wurden. Teilen Sie die ein wenig sentimentale Sehnsucht vieler Westdeutscher Ihrer Generation nach den ersten Nachkriegsjahren, nach der unermüdlichen Debattierlust jener Zeit, als alles noch ungeordnet war und die Chance zu bergen schien, neu geordnet zu werden?

Schmidt: Nein, Sehnsucht würde ich nicht sagen. Wohl aber empfinde ich sehr deutlich aus der Erinnerung heraus, daß manche der Debatten, die man damals geführt hat, zu den schönsten und fruchtbarsten Debatten und Gesprächen gehört haben, die ich überhaupt erlebt habe – einschließlich der ganzen späteren zwanzig Jahre als Politiker.

Gaus: Sie haben vorhin schon vom Godesberger Programm gesprochen, das sich die SPD 1959 gegeben hat und das nach Vorstellung der SPD ausdrücken soll, daß die Sozialdemokratie heute eine weithin entideologisierte Volkspartei ist. Haben Ideologien jemals etwas für Sie bedeutet, oder haben Sie sie immer als Ballast für die praktische Politik verstanden?

Schmidt: Das sind zwei Fragen. Lassen Sie mich zunächst einmal versuchen, die erste zu beantworten, ob Ideologien je für mich etwas bedeutet hätten. Ich glaube nein. Zweitens würde ich aber nicht sagen, daß die Ideologien, die andere vortrugen oder die andere aus früheren Zeiten mitgebracht hatten, daß mir die als Ballast erschienen wären. Das will ich nicht sagen, sondern doch als etwas historisch Gewachsenes, was als solches zu respektieren war.

Gaus: Auch etwas Respektables kann Ballast sein.

Schmidt: Man mußte versuchen, den Menschen zu zeigen, daß diese Ideen, diese Ideologien nicht recht in Übereinstimmung standen mit der Wirklichkeit und mit den wirklichen Problemen, die es zu lösen galt.

Gaus: In welchen grundsätzlichen Auffassungen haben Sie seit Beginn ihrer politischen Laufbahn am gründlichsten umlernen müssen?

Schmidt: Innerhalb meiner politischen Tätigkeit?

Gaus: Ja, also nach 1945.

Schmidt: Ja, da muß ich einmal einen Augenblick nachdenken. Ihre Formulierung "am meisten umlernen" klingt so, als ob man in vielen Punkten habe umlernen müssen. Umlernen ist für mich nicht ein sehr zutreffender Ausdruck, lernen ja, eine ganze Menge, aber umlernen, das weiß ich nicht. Eines will ich sagen, Herr Gaus: In den ersten Jahren nach dem Kriege war in meinen politischen Vorstellungen die sozialistische Komponente viel gewichtiger, heute ist die demokratische viel gewichtiger. Das würde ich aber nicht als einen Umlern-Prozeß bezeichnen.

Gaus: Einen Lernprozeß.

Schmidt: Ja, einen Entwicklungsprozeß.

Gaus: Ein Lernprozeß, der wodurch ausgelöst wurde? Durch die pragmatische Erkenntnis, daß die sozialistische Komponente die Sozialdemokratie noch weiter von der Macht fernhalten würde, als sie es noch immer ist, oder durch objektive Einsichten, die zur Relativierung des Sozialismus führten?

Schmidt: Beides, und vor allem drittens, daß ich im Laufe der Zeit erfahren habe, daß das Funktionieren der Demokratie und das Funktionieren des Rechtsstaates unendlich viel wichtiger ist nach meiner Vorstellung, als manches an zu weit getriebener sozialistischer Akribie, was wir uns damals vorgestellt hatten. Ich bin auch heute der Meinung, daß zum Beispiel Sozialpolitik, daß soziale Gerechtigkeit schlechthin ein Prinzip ist, ohne das eine moderne Demokratie nicht existenzfähig wird: Ich halte es für grundlegend. Gleichwohl meine ich, noch wichtiger ist, daß Demokratie und Rechtsstaat funktionieren.

Gaus: Sie glauben nicht, daß das eine vom anderen abhängt?

Schmidt: Oh ja, das ist ineinander verwoben, eine Demokratie könnte nicht funktionieren, wenn es in dem Lande keine soziale Gerechtigkeit gäbe. Dann bliebe auch die Demokratie nicht funktionsfähig.

Gaus: Nennen Sie mir die Ideale, die Sie in der Politik, oder auch das Ideal, das Sie in der Politik am höchsten anstreben.

Schmidt: Ich will auf Ihre Frage mit beispielhaften Personen antworten. Als ein Vorbild für einen Politiker ist mir zum Beispiel immer Thomas Jefferson erschienen, einer der frühen amerikanischen Präsidenten.

Gaus: Können Sie begründen warum?

Schmidt: Aus mancherlei Gründen. Einmal hat mich immer angezogen die umfassende Bildung an dem Manne, der eben nicht nur auf sein politisches Geschäft starrte und von allem übrigen nichts wußte, sondern der von einem ganz weiten Horizont her sich den politischen Problemen seines Landes zu widmen wußte. Zum zweiten haben mich an ihm angezogen die feststehenden moralischen Grundsätze. Und damit komme ich vielleicht zur nächsten Person, die ich nennen will – aus unserer Zeit, ich habe das auch in Versammlungen vor jungen Leuten schon gerne einmal gesagt. Aus unserer Zeit finde ich, daß Johannes XXIII. ein Vorbild ist und auch für Politiker sein sollte, übrigens nicht nur für Politiker, sondern auch für andere Menschen, insbesondere für junge Menschen, weil er in so überaus überzeugender Weise, weit über den Bereich seiner katholischen Kirche hinaus, allen Menschen auf der Welt die Notwendigkeit der Toleranz vor Augen führte, die sittliche Notwendigkeit der Toleranz, wenn Menschen im Lande überhaupt sollen miteinander leben können.
Und als Dritten möchte ich jemanden nennen, der gerade für Deutschland etwas geleistet hat, was notwendig war, aber nicht nur für Deutschland: Das ist Kennedy, der den Menschen in der ganzen Welt den Mut zum Ideal zurückgegeben hat. Es war eine Zeitlang und ist auch heute noch unter manchen Menschen in Deutschland etwas Suspektes, Ideale zu haben. Ich finde das gar nicht suspekt. Und ich finde, der Kennedy hat hier zum Beispiel darin etwas geleistet, daß er vielen, vielen jungen Menschen auf der Welt den Mut wiedergegeben hat zum Ideal – ohne dabei auf der anderen Seite die Füße vom Boden zu verlieren. Wenn ich also in diesen drei Beispielen Ihre Frage beantworten darf, dann würde ich sagen, solche Eigenschaften, wie ich sie hier eben hervorgehoben habe an diesen drei Personen, solche Eigenschaften würde ich schon für vorbildlich und ideal auch für einen Politiker halten.

Gaus: Sie haben im Blick auf Jefferson von dem tiefen Eindruck gesprochen, den Ihnen seine umfassende Bildung macht. Beklagen Sie manchmal, daß Sie eingespannt sind in politische Verpflichtungen, die Ihnen …

Schmidt: Ja, ja, ganz zweifellos, man hat so furchtbar viel zu tun und um die Ohren, und manches davon ist einem selber gar nicht so wichtig, aber es ist unvermeidlich, so daß man nicht soviel lesen kann und nicht sich mit so vielen Dingen beschäftigen kann, wie man eigentlich möchte.

Gaus: Sie wollten einmal vor dem Kriege – Sie haben in Hamburg die Lichtwerk-Schule, eine Versuchsoberschule mit stark musischem Charakter, besucht –, Sie wollten Architekt und Städtebauer werden, eine Absicht, die der Krieg vereitelt hat. Gibt es Bemühungen, Anstrengungen, trotz allem das Musische im Leben des Politikers Schmidt nicht ganz verkümmern zu lassen?

Schmidt: Ich würde nicht sagen Bemühungen und Anstrengungen – das wäre ein falscher Ausdruck, aber verkümmert ist es keineswegs.

Gaus: Sie malen zum Spaßvergnügen?

Schmidt: Ja, nur ein ganz klein bißchen.

Gaus: Sie spielen im Urlaub manchmal Orgel.

Schmidt: Ja, das ist richtig, wenngleich ich nicht so viel Orgel spiele, wie in den Zeitungen darüber zu lesen steht. Ganz gelegentlich ja. Gelegentlich spiele ich Klavier.

Gaus: Ihre Frau ist Lehrerin, Ihre Tochter hat gerade das Abitur gemacht; was will sie werden?

Schmidt: Ja, wenn man das bei einer 18- oder knapp 19jährigen Tochter so genau wüßte. Einstweilen will sie Psychologin werden. Ob sie dabei bleibt, wird man sehen.
Gaus: Das ist Ihnen recht?

Schmidt: Ich muß gestehen, es ist mir nicht ganz recht.

Gaus: Warum nicht?

Schmidt: Ich meine, daß, so wie unsere Gesellschaft, wie alle Gesellschaften sich in der westlichen Welt nun einmal entwickelt haben, es für eine Frau nötig ist im Leben, jederzeit auch sich selber erhalten zu können. Ich bin nicht ganz sicher, ob Psychologie der richtige Beruf für eine Frau ist. Aber das muß sie selber herausfinden.

Gaus: Sind Sie nach Ihrer Selbsteinschätzung, Herr Schmidt, ein kontinuierlicher und konsequenter Arbeiter, oder fühlen Sie sich von einer Aufgabe bald gelangweilt, und suchen Sie dann nach einer neuen?

Schmidt: Nein, ich würde mich eher für die erste Kategorie halten.

Gaus: Sie glauben, Sie sind fleißig und konsequent im Arbeiten.

Schmidt: Das würde ich glauben, ja.

Gaus: Als Sie 1953 zum erstenmal in den Bundestag kamen, haben Sie sich anfangs mit verkehrspolitischen Fragen beschäftigt, so wie Sie vorher in Hamburg zuletzt Leiter der wirtschaftspolitischen Abteilung der Behörde für Wirtschaft und Verkehr gewesen waren. Sie sind dann aber sehr schnell als Verteidigungsexperte der sozialdemokratischen Opposition neben Fritz Erler getreten. Zu dieser Parlamentskarriere habe ich mehrere Fragen. Zunächst: Wieweit haben Sie in der Beschäftigung mit verteidigungspolitischen Fragen die ganz persönliche Chance gesehen, voranzukommen, weil das ein Gebiet war, um das viele Sozialdemokraten aus traditionellen Gründen einen Bogen machten?

Schmidt: Nicht als eine Chance voranzukommen, aber als eine Chance überhaupt, sich zu betätigen. Jemand, der neu in den Bundestag kommt, das dürfte heute nicht anders sein als damals vor zwölf Jahren, der findet in seiner jeweiligen Fraktion so ziemlich alle Arbeitsgebiete bereits mit alten Hasen besetzt vor, die das schon alles kennen, die sich um ihr Arbeitsgebiet schon lange gekümmert haben und die das auch viel besser können als er; denn er ist ja ganz neu, bringt zwar einige Kenntnisse mit, aber andere fehlen ihm auch.
Es ist also für jeden jungen Abgeordneten relativ schwierig, sich innerhalb seiner Fraktion im Bundestag ein eigenes Arbeitsgebiet zu schaffen. Ich habe damals sicherlich – Fritz Erler kümmerte sich schon mehr und mehr um Außenpolitik und konnte sich nicht auf die Verteidigungspolitik allein beschränken, konzentrieren –, ich habe damals sicherlich auch empfunden, daß hier ein offenes Feld war, eine Lücke sozusagen, die mir die Möglichkeit geben würde, zu arbeiten und selbst etwas zu tun und nicht nur zuzuhören, wenn andere sprachen. Auf der anderen Seite habe ich die Lücke aber auch noch in einem ganz anderen Sinne empfunden. Das fing etwa 1955 an, nein, 1954 im Zusammenhang mit der großen, ganz Europa damals beschäftigenden EVG-Debatte. Ich habe damals die Notwendigkeit empfunden, gemeinsam mit anderen die Partei aus einer zu stark emotionalen Betrachtung der damit aufgeworfenen Probleme zu einer mehr rationalen, das heißt politischen Betrachtung der Probleme hinzuführen. Ich habe das für eine politische Aufgabe angesehen. Das war es auch. Es war keine sehr angenehme und keine sehr leichte Aufgabe.

Gaus: Ich würde darauf gerne noch kommen. Zwischendurch aber: Warum haben Sie die Formulierung „voranzukommen“ im Zusammenhang mit Ihrer Betätigung als Wehrexperte zurückgewiesen? Scheuen Sie das Eingeständnis, daß ein junger Politiker, der Sie damals waren, auch den Wunsch haben kann – wie ich finde, haben muß –, voranzukommen, oder ...

Schmidt: Nein, das kann er gerne eingestehen. Ein erhebliches Mindestmaß an Ehrgeiz ist notwendig, wenn der Mann überhaupt etwas leisten soll.

Gaus: Sie würden also die Formulierung „voranzukommen“ auch für Helmut Schmidt als eine Überlegung gelten lassen, die er in sein Kalkül mit einbezieht?

Schmidt: Grundsätzlich ja. Für die damalige Zeit, nach der Sie gefragt hatten, aber war es noch kein Kalkül.

Gaus: Jetzt also zu dem, was Sie eben sinngemäß Befreiung von Gefühlsballast genannt haben. Ich habe in Ihrem Buch „Verteidigung und Vergeltung“ ein, wenn Sie so wollen, Schuldbekenntnis Helmut Schmidts gefunden. Sie haben eingeräumt, daß Sie mit beteiligt und mit schuldig gewesen seien an der Belastung der Wiederbewaffnungsdebatte durch Gefühlsmomente und durch Vorurteile; so haben Sie geschrieben. In welcher Weise haben Sie daran Schuld getragen, was waren die Gründe, die Sie zu diesen Fehlern veranlaßt haben?

Schmidt: Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, daß das, was Sie da aus diesem Buch zitieren, ja nicht eine Art von Selbstkritik ist. Es ist eine Fußnote in dem Buch an einer Stelle, wo allgemein beklagt wird, daß im Bundestag zwar gegenüber militärischen, gegenüber rüstungspolitischen Problemen sehr viel guter Wille, aber relativ sehr wenig Sachverstand vorhanden war.

Gaus: Man muß auch die Fußnoten lesen.

Schmidt: Das ist geschrieben 1960 im Sommer, und darunter steht dann eine Fußnote, die sagt: Übrigens, ich bin auch daran mit schuld, daß die Emotionen bei manchen Bundestagsdebatten den Sachverstand überwogen haben. Nun, mir schien das einfach aus Gründen der intellektuellen Redlichkeit notwendig, diese Fußnote anzubringen.

Gaus: Worin lag Ihre Schuld?

Schmidt: Ja, ob der Ausdruck Schuld ganz richtig ist? Wir haben eben alle nicht genug gewußt. Der einzige, der damals wirklich schon sehr viel wußte zu jener Zeit 1958, war Strauß. Alle übrigen Politiker waren relativ schlecht informiert über die militärischen Probleme, tasteten sich hinein, hatten bis dahin gar keinen richtigen Zugang zu dem Fundus an Literatur, den es darüber bereits gab. Und ob man das nun Schuld nennen will oder wie immer, das bleibe dahingestellt, würde ich sagen. Tatsache ist, daß auf allen Bänken des Bundestages in jenen Atomdebatten zum Beispiel des Jahres 1958 mehr guter Wille und ehrliche Überzeugung als Sachverstand gewaltet hat.

Gaus: Haben Sie bei den seinerzeitigen Debatten auch Rücksicht genommen auf die Gefühle, die die sozialdemokratische Mehrheit in diesen Fragen noch hatte?

Schmidt: Nein, nein. Ich stand bei dieser viertägigen Atomdebatte des Jahres 1958 – Strauß und ich haben uns später noch häufig deswegen gehakt und miteinander gestritten und auch freundschaftlich unterhalten –, ich stand damals unter dem Eindruck, daß die Regierung tatsächlich darauf aus war, Verfügungsgewalt über atomare Waffen zu erlangen, wenngleich sie es nicht sagte. Das hielt ich damals und halte ich übrigens auch heute noch; in der damaligen wie auch in der gegenwärtigen Situation, für eine höchst gefährliche und auf jeden Fall abzulehnende Politik. Nur daß es damals in der Regierung Leute gab, die das wirklich wollten, das würde ich heute nicht mehr beweisen wollen. Strauß hat es seither immer wieder konstant abgestritten. Und die übrigen haben wahrscheinlich viel weniger gewußt, wovon sie sprachen, als er.

Gaus: Sie haben eben schon gesagt, Strauß sei vielleicht der einzige im Parlament überhaupt gewesen, der genau begriffen habe, worum es geht. Das ist ein respektables Kompliment, das Sie dem ehemaligen Bundesverteidigungsminister machen. Strauß ist ein Politiker Ihrer Generation wie etwa auch Erich Mende und Barzel. Sagen Sie bitte, was ist das Gemeinsame – Sie haben vorhin schon die Scheu vor den großen pathetischen Ausdrücken erwähnt – dieser Generation? Wie unterscheidet sie sich von Älteren und von Jüngeren? Denn so ganz jung ist diese Generation ja auch nicht mehr.

Schmidt: Jung kann man, wenn man auf die 50 oder auf die Silberne Hochzeit zugeht, ja nun nicht gerade sagen.

Gaus: Eben.

Schmidt: Ich bin nicht ganz sicher, daß man zwischen Männern, wie Sie sie eben genannt haben – Strauß, Mende, Barzel, ich selber –, ich bin nicht ganz sicher, ob man da Gemeinsamkeit der Generation ohne weiteres auffinden kann. Ich empfinde das Generationenproblem innerhalb der Sozialdemokratie viel deutlicher. Und lassen Sie mich zum Beispiel sagen, daß zwei Freunde von mir, die ich sehr schätze und in ihrer Leistung auch sehr respektiere – Willy Brandt nämlich und Fritz Erler –, nur wenige Jahre älter sind als ich, vier oder fünf Jahre. Gleichwohl empfinde ich sie als einer anderen Generation zugehörig, weil sie nämlich noch geprägt sind von dem bewußten Miterleben der ersten Demokratie in Deutschland, der Weimarer Demokratie. Sie waren damals zwar noch nicht volljährig, aber immerhin doch in einem Alter, in dem man bewußt miterlebte, auch Partei nahm, sich engagierte für die-se Demokratie, während ich einfach zu jung war. Um vier Jahre, fünf Jahre war ich einfach zu jung. Ich war etwa vierzehn. Daraus resultiert ein Generationsunterschied. Den zweiten Unterschied empfinde ich bei denjenigen, die so viel jünger sind als beispielsweise ich, daß sie jenen Konflikt nicht mehr selber miterlebt haben, unter dem wir im Kriege gestanden hatten: den Konflikt, einerseits zu wissen, daß man sein Land verteidigen muß, was wir ja auch taten und willig taten, und andererseits zu wissen, daß jeder Tag und jede Woche, um die auf diese Weise die endgültige Niederlage hinausgezogen wurde, doch nur der Verlängerung eines letztlich eindeutig zu verurteilenden Regimes galt.
Dieser Konflikt ist manchen Leuten in meiner Generation sehr, sehr bewußt gewesen. Wir haben darunter auch gelitten. Dagegen jemand, der zehn Jahre jünger ist, sagen wir, 1928 geboren, der war 1945 gerade noch Flakhelfer oder für ein Vierteljahr Soldat, der kann das eigentlich gar nicht empfunden haben, es sei denn im Ausnahmefall; denn normalerweise hatte der damals – geprägt durch die Hitlerjugend oder wo immer er erzogen war – gar nicht das Gefühl, daß dies eine verbrecherische Clique war, die uns da führte. Insofern empfinde ich da einen zweiten Generationsbruch, obwohl es gar keine dreißig Jahre Abstand sind, wie man normalerweise im Leben zu denken pflegt, daß von Generation zu Generation 30 Jahre Unterschied wären. Um auf Strauß zurückzukommen und auf Mende: Ich weiß nicht, ob ich da typische Gemeinsamkeiten der Generation finden würde.

Gaus: Wie beurteilt der Politiker Helmut Schmidt den Politiker Franz Josef Strauß?

Schmidt: Strauß ist ein ungeheuer begabter Mann, ein Mann mit großen Fähigkeiten, ein Mann mit einer großen Palette von Fähigkeiten: eine ganz gute Bildung, ein gutes Gedächtnis, eine glänzende Beredsamkeit – er kann ein Gremium von Professoren genauso hinreißen wie eine riesenhafte Volksversammlung –, Entschlußkraft, Energie, auch wohl Mut. Auf der anderen Seite steht dieser großen Zahl von Fähigkeiten, die an und für sich alle schon wünschenswert sind für einen Politiker und die den Strauß eben auch zu diesem Energiebündel machen, das er ist, ein Mangel an Selbstkontrolle gegenüber. Da bin ich eben nicht ganz sicher, ob der Strauß vorher weiß, was er sagt. Aber Sie haben mich nicht gefragt, wie ich ihn beurteile, sondern was ich von ihm halte. Da will ich Ihnen sagen, manchmal bin ich auf den Mann sehr zornig gewesen, und manchmal habe ich ihn für eine ganz gefährliche Kraft gehalten, und ich glaube, daß er auch in Zukunft, wenn er Fehler macht, gefährlich sein kann. Andererseits sehe ich, daß er sich Mühe gibt, sich in den Griff zu kriegen. Und ich muß gestehen, daß mir in all diesen vielen Jahren doch eine gewisse Antenne für den Charme geblieben ist, den er bisweilen hat.

Gaus: Was sind nach Ihrer Selbsteinschätzung Ihre vorherrschenden Eigenschaften, Herr Schmidt? Gelegentlich sind Ihre Talente mit militärischen Talenten gleichgesetzt worden; etwa durch die Art, wie Sie manche Probleme als Hamburger Senator für Inneres anpackten.

Schmidt: Also das, finde ich, ist eine etwas zudringliche Frage, Herr Gaus. Ich denke nicht, daß ich ein guter Militär wäre. Ich glaube schon, daß manches von dem, was ein Militär braucht, bei mir vorhanden ist: rasches Urteil über eine Lage, rasches Erkennen der Lage und Beurteilung dessen, was aus ihr entstehen kann, Entschluß, dieser Lage oder ihrer Entwicklung abzuhelfen, und dann auch das Vermögen, den Entschluß durchzusetzen. Auf der anderen Seite glaube ich – das ist jedenfalls meine Erfahrung aus den acht Jahren, in denen ich tatsächlich Soldat war –, daß ich mich vielleicht nicht sehr gut anpassen würde an den militärischen Organismus.

Gaus: Sind Sie nicht diszipliniert?

Schmidt: Das will ich nicht sagen. Ich selber würde mir keinen Mangel an Disziplin attestieren wollen, aber ich muß mir leider attestieren, daß ich, wenn ich anderer Meinung bin als andere, das ganz gerne sage. Und das würde im Militär nicht unbedingt gerne gesehen – weder in der Bundeswehr noch sonstwo auf der Welt.

Gaus: Sie haben als einer der ersten oder als der erste bekannte Sozialdemokrat überhaupt, 1958 – glaube ich –, an einer Reserveoffiziersübung der Bundeswehr teilgenommen. Das hat Ihnen in der Fraktion zwar damals ein wenig geschadet, aber andererseits hat es Ihnen auch in der Öffentlichkeit genutzt. Denken Sie bei dem, was Sie tun, auch immer ein wenig an den Eindruck Ihres Tuns in der Öffentlichkeit?

Schmidt: Wenn das damals, bei meiner Reserveübung, so gewesen wäre, müßte ich aber schon eine sehr feine Nase gehabt haben. Nein, das ist in dem Zusammenhang sicherlich falsch. Eher würde ich zugeben wollen, daß es mich gereizt hat, meiner Überzeugung gemäß eine Übung zu absolvieren, obwohl die meisten meiner politischen Freunde in diesen Fragen damals anderer Meinung waren.

Gaus: Bei der Vorbereitung auf dieses Interview, Herr Schmidt, habe ich verschiedentlich von Leuten, die Sie sehr gut kennen, gehört, daß es manchmal Spuren von Resignation bei Helmut Schmidt gibt. Sie sind im vergangenen Dezember siebenundvierzig Jahre alt geworden. Sie sind ein führender Sozialdemokrat, Sie gehören zur engsten Führungsspitze; aber Sie sitzen, nachdem Sie aus dem Hamburger Senatorenamt ausgeschieden sind, wieder auf der Oppositionsbank. Ist es richtig, daß Sie gelegentlich zur Resignation neigen, denken Sie manchmal an andere Karrieren, die man hätte machen können oder noch machen könnte in der Wirtschaft?

Schmidt: Der Ausdruck Resignation ist falsch, aber sonst ist etwas Richtiges dran an dem, was Sie fragen. Nein, ich denke nicht an andere Karrieren, das ist es nicht. Aber was mich bisweilen beschäftigt und worüber ich wohl auch einmal gerne mit Freunden rede, was offenbar bis zu Ihnen gedrungen ist, das ist die Frage, ob es eigentlich gesund ist, wenn ein Politiker, der bis zum normalen Pensionsalter von 65 Jahren eben keine volle zwei Jahrzehnte mehr vor sich hat, sondern etwas weniger, ob es eigentlich gesund ist, wenn er auf die Dauer, um mit Max Weber zu reden, nicht nur für die Politik, sondern auch von der Politik lebt. Zur Zeit, so bilde ich mir ein, kann ich das Risiko, das darin liegt, noch leicht auf mich nehmen.
Ich bilde mir ein, daß, wenn aus irgendwelchen politischen Umständen heraus ich in Auseinandersetzungen geraten sollte und Konsequenzen ziehen wollte – Politiker müssen immer damit rechnen, daß sie irgendwann Konsequenzen zu ziehen haben, Minister zum Beispiel können ohne eigenes Verschulden gezwungen werden, Konsequenzen zu ziehen –, ich bilde mir also ein, wenn ich in irgendeine solche Lage käme, dann würde ich mit meinem jetzigen Alter und mit den Erfahrungen und Fähigkeiten, die man im Laufe seines Lebens erworben hat, sicherlich ganz gut eine Arbeit in der Wirtschaft übernehmen können, die mir Spaß machen würde und die nicht nur den Mann, sondern auch die ganze Familie, die dazugehört, ernähren würde.
Aber ich muß Ihnen bekennen, daß ich manche Beispiele von Kollegen im Bundestag erlebt habe, die sechzig, fünfundsechzig, siebzig Jahre alt geworden waren und eben kein Vermögen hatten, auch keinerlei Pensionsansprüche, die dann in eine Abhängigkeit gerieten; sie mußten wieder aufgestellt werden, damit sie weiterhin ihren Lebensstandard behielten. Das finde ich eine ganz, ganz schreckliche Sache. Ich möchte mein ganzes Leben lang, solange ich politisch tätig bin, unabhängig sein. Und diese Unabhängigkeit, glaube ich, verliert man, wenn man an die Sechzig rankommt und immer noch kein Vermögen oder keine Pension oder, was weiß ich, keinen anderen Rückhalt hat. Früher in Preußen konnten sich die Herren dann auf ihre Klitsche zurückziehen, das waren die guten alten Zeiten. Wir haben keine Klitschen mehr, nur die wenigsten von uns. Das alles, meine ich, ist eine ganz legitime Erwägung, und die hat mit Resignation nicht unbedingt etwas zu tun.

Gaus: Erlauben Sie mir eine letzte Frage, Herr Schmidt: Würden Überlegungen, wie Sie sie jetzt angestellt haben, hinfällig werden, wenn Sie sozialdemokratischer Kanzlerkandidat würden?

Schmidt: Lassen Sie mich zu dieser in der Öffentlichkeit bisweilen beredeten Frage eines vorweg sagen: Ich glaube nicht, daß die Zeit heute reif ist – weder für die Sozialdemokratische Partei noch für mich –, eine solche Entscheidung schon zu treffen. Aber auf den eigentlichen Kern Ihrer Frage will ich antworten: Es gibt durchaus nach meiner Vorstellung Aufgaben in vieler Menschen Leben, auch in meinem, die so bedeutsam sind, daß man dafür vieles opfern oder aufs Risiko stellen muß. Das schon. Das gilt für jeden, der zum Beispiel ein Ministeramt annimmt. Etwas anderes ist es, wenn man vor Aufgaben steht, von denen man glaubt, viele andere könnten sie auch erfüllen; dann muß man nicht unbedingt ein Risiko auf sich nehmen.