Sendung vom 29.04.1964 - Strauß, Franz Josef

Günter Gaus im Gespräch mit Franz Josef Strauß

Ich bin ein eigenwilliger Mann

Franz Josef Strauß, geboren am 6. September 1915 in München, gestorben am 3. Oktober 1988 in Regensburg.
Studium der Philosophie und Geschichte. Militärdienst bis 1945 als Artillerist, zuletzt als Lehroffizier einer Flakschule. 1945 Mitbegründer der CSU in Bayern, ab 1946 Mitglied im Landesvorstand, 1948 bis 1952 Generalsekretär, ab 1961 bis zu seinem Tode Vorsitzender der Partei. Ab 1949 CSU-Abgeordneter im Bundestag, 1950 stellvertretender Fraktionsvorsitzender.
1953 Bundesminister für Sonderaufgaben, 1955 Minister für Atomfragen und 1956 Bundesverteidigungsminister. 1962 trat er wegen der sogenannten »Spiegel«-Affäre zurück. 1966 übernahm er im Kabinett Kiesinger das Finanzministerium (bis 1969).
Von 1978 bis zu seinem Tode Ministerpräsident in Bayern. 1979 wählte die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ihn zum Kanzlerkandidaten; nach verlorener Wahl verzichtete er auf sein Bundestagsmandat. 1983 bei den vorgezogenen Bundestagswahlen kandidierte er erneut für die CSU, verzichtete aber nach dem Wahlsieg auf ein Ministeramt und blieb als Ministerpräsident in Bayern.
Seine starke persönliche Führungsposition in Bayern verlieh ihm jedoch großen Einfluß auch in der Bundespolitik. Er profilierte sich als rechtskonservativer Kritiker Bonns und betrieb auf Grund vorzüglicher internationaler Kontakte (so zu Peking und zu Ostberlin) eine Art Nebenaußenpolitik.
Das Gespräch wurde gesendet am 29. April 1964.


Gaus: Es gibt wohl keinen zweiten Politiker in der Bundesrepublik, über den so viele festgefügte Urteile und auch Vorurteile, im guten wie im bösen, existieren wie über Sie, Herr Dr. Strauß. Sie gelten einerseits als der Mann, als der verdiente Mann, der die Bundeswehr in ihrer schwierigsten Aufbauphase geführt hat, andererseits sind mit Ihrem Namen die parlamentarische Untersuchung eines geplatzten Riesen-Bauunternehmens und die bisher schwerste Bonner Regierungskrise verbunden. Lassen Sie mich meinen Versuch, ein Strauß-Porträt zu zeichnen, mit der Frage beginnen: Wie erklären Sie sich selbst die Hitzigkeit, die Erregung, die die öffentliche Meinung annimmt, sobald Ihr Name fällt?

Strauß: Vielleicht ist es eine Erklärung, wenn ich Ihnen sage, daß nach meiner Meinung meine angeblich vorhandenen Vorteile und Fähigkeiten genauso übertrieben werden wie meine ohne Zweifel vorhandenen Nachteile und Schwächen.

Gaus: Sie glauben, daß die öffentliche Meinung im ganzen, im guten wie im bösen, Sie überzeichnet, Ihre Talente ebenso wie die Gefährdungen?

Strauß: Das wollte ich damit ausdrücken. Im übrigen ist es wohl so, daß sich die Phantasie an eigenwilligen Persönlichkeiten stärker entzündet als an Persönlichkeiten, denen man weder nach dieser noch nach jener Richtung hin eine besondere Farbe anmerkt. Ich darf Sie vielleicht nur mit einer Bemerkung berichtigen: Es ist keine Bauunternehmung geplatzt, sondern es ist eine Fiktion geplatzt.

Gaus: Richtig. Sie würden also von sich selbst sagen, daß Eigenwilligkeit zu einem beherrschenden Charakterzug bei Ihnen geworden ist. Sind Sie ein eigenwilliger Mann?

Strauß: Das bin ich sicher. Aber auch hier sollte man nicht übertreiben.

Gaus: Herr Strauß, Ihre Karriere als Politiker ist sehr zügig verlaufen. Sie sind nach dem Kriege als Landrat in Schongau eingesetzt und gewählt worden; 1948 Generalsekretär der bayerischen CSU geworden; 1949 in den ersten Bundestag gewählt, dem Sie seither stets angehört haben, sind 1953 zum erstenmal Minister, erst Sonderminister, dann Atomminister und von Oktober 1956 bis Herbst 1962 Verteidigungsminister gewesen. Heute sind Sie Parteivorsitzender der CSU. Für einen Mann, der bei Kriegsende erst 30 Jahre alt war – Sie sind am 6. September 1915 in München geboren –, ist das eine wahrhaft bemerkenswerte Karriere. Ich würde gern von Ihnen wissen, wie Sie sich selbst diesen schnellen Aufstieg erklären.

Strauß: Darüber habe ich nie nachgedacht. Denn wenn Politiker anfangen, über ihre Karriere nachzudenken, dann ist sie meistens ohnehin schon vorbei. Sie wissen ja, daß Marx bei der Abfassung des „Kapital“ gesagt hat, das Ende des Kapitalismus müsse schon deshalb gekommen sein, weil er beginne, darüber zu schreiben.

Gaus: Ohne damit Prophezeiungen über Ihre Karriere abgeben zu wollen, wäre ich Ihnen doch dankbar, wenn Sie jetzt ein bißchen nachdenken würden, was denn wohl diese Karriere bewirkt haben kann.

Strauß: Das ist eigentlich alles mehr von selbst gekommen, als auf Grund von Überlegungen oder Beschlüssen. Ich habe mich nie entschlossen, Politiker zu werden. Mein eigentliches Berufsziel – ich wage es vor den gestrengen Vertretern dieser Disziplin zu sagen – wäre es gewesen, Professor für Geschichte zu werden. So war auch mein Studium angelegt. Ich bin dann sechs Jahre beim Militär gewesen, im Westen, im Osten, Heimatkriegsschauplatz; ich habe diesen grandiosen Zusammenbruch, ich darf es ohne Übertreibung sagen, wie viele andere vorher geahnt und gewußt und in diesem Zusammenbruch die Frage gestellt wie Millionen andere: Was jetzt? Und daraus kam meine allgemeine Überlegung: Das darf sich nie mehr wiederholen.

Gaus: Aus Ihrem Elternhaus – Ihr Vater war Metzgermeister in München – hatten Sie keine politische Ausrichtung mitbekommen?

Strauß: 0h doch, es wäre ganz falsch, das anzunehmen. Mein Vater war, ich glaube, sogar Gründungsmitglied der Bayerischen Volkspartei im Jahre 1919 und ist einfaches Mitglied und Helfer dieser Partei als Handwerksmeister in München bis zur Auflösung der Partei im Frühjahr 1933 geblieben.

Gaus: Herr Strauß, Sie waren ein junger Mann, als Hitler zur Macht kam, und haben dann an der Universität München studiert. Was war denn Ihre Einstellung zum Nationalsozialismus?

Strauß: Wenn ich von meiner Einstellung zum Nationalsozialismus rede, dann würde es sehr selbstgefällig klingen, wenn ich hier nicht meine Eltern erwähnen würde, die meine politische Haltung schon vor Beginn des Dritten Reiches, obwohl ich damals noch ziemlich jung war – siebzehn Jahre – entscheidend beeinflußt haben. Mein Vater war das, was man einen geschworenen Gegner Hitlers, Gegner der nationalsozialistischen Weltanschauung und des ganzen Systems nennt, und diese Einstellung hat sich schon so früh auf mich übertragen, daß wir bereits in den Oberklassen der Schule die heftigsten Auseinandersetzungen hatten zwischen denen, die dem Stern der neuen Zeit gefolgt sind, und denen, die die größten Vorbehalte dagegen hatten. Aber ich möchte ausdrücklich sagen, ich weiß nicht, was meine politische Einstellung gewesen wäre, wenn ich in einem anderen Milieu aufgewachsen wäre. Ich nehme als sicher an, daß ich einmal auf dieselbe Einstellung gekommen wäre, aber es ist nicht mein Verdienst, daß ich von vornherein diese Einstellung hatte, wie ich sie eben umrissen habe.

Gaus: Ich muß dazu etwas fragen. Der letzte Landtagswahlkampf in Bayern im Herbst 1962 ist von der CSU, die von Ihnen geführt wird, mit Parolen bestritten worden, die, nach meiner Meinung, mit ihrem nationalistischen Zungenschlag doch bis zu einem gewissen Grad auf die Mentalität ehemaliger Nationalisten und Nationalsozialisten zielten. Besteht nicht ein Widerspruch zwischen der negativen Einstellung zum Nationalsozialismus, die Sie eben bekannt haben, und diesem Appell an Ressentiments von damals, die man doch in der Propaganda der CSU erkennen konnte?

Strauß: Seit geraumer Zeit bin ich im Handwerk der Politik daran gewöhnt, daß Motive gesucht und gefunden, Kombinationen erspäht werden, die gegenüber der wesentlich simpleren Wirklichkeit nicht bestehen können.

Gaus: Ich frage nur nach dem Widerspruch, der da vielleicht besteht.

Strauß: Ich sage ja, ich bin seit langer Zeit gewöhnt, Spekulationen anzutreffen und Kombinationen zu hören, die einfach gegenüber der viel einfacheren Wirklichkeit jede Daseinsberechtigung verlieren. Die Zeit in der CSU, wie zum Beispiel im Bundestagswahlkampf 1949, wo ich als Generalsekretär morgens die Plakate entworfen, nachmittags die Broschüren geschrieben und abends die Versammlungen bestritten habe, gehört der Vergangenheit an. Auch unsere Parteileitung ist heute ein arbeitsteiliger Betrieb. Ich habe vom Inhalt dieser Inserate, deren Verfasser ich kenne, keine Ahnung gehabt, bis ich nach den Wahlen darauf angesprochen worden bin. Aber Sie übertreiben hier auch etwas, Herr Gaus. Denn wenn Sie den letzten englischen Wahlkampf verfolgen, dann haben dort beide Parteien im Zusammenhang mit Deutschland Argumente gebraucht, die sicherlich auch nicht ohne Bedenken hingenommen werden können. Soweit ich hernach erfahren habe, sind in diesen Inseraten einige Bemerkungen über gewisse Aspekte britischer Politik und über bestimmte Entwicklungstendenzen italienischer Politik geprägt worden. Ich glaube, daß dem schon eine gewisse Überlegung von seiten der Urheber dieser Inserate zugrunde gelegen hat. Aber damit eine Verbindung zum Nationalsozialismus zu schaffen, ist schlechthin abwegig.

Gaus: Herr Strauß, ich will mit Ihnen nicht diskutieren. Ich will nicht die Verbindung zwischen diesen Wahlanzeigen und dem Nationalsozialismus herstellen. Mich interessiert nur, ob Sie selbst vielleicht einen Widerspruch zwischen Ihrer eindeutig negativen Einstellung zum Nationalsozialismus und bestimmten rechtsgerichteten, stark rechtsgerichteten Tendenzen in der von Ihnen geführten Partei sehen.

Strauß: Ich halte nicht allzuviel von politisch-psychologischer Tiefenforschung. Dabei kommt häufig viel Unsinn heraus. Außerdem darf ich in aller Offenheit sagen, daß mir ein großer Unterschied zwischen den Wesenselementen des Nationalsozialismus und einer nüchternen nationalen, auf die deutschen Lebensinteressen bedachten Einstellung zu bestehen scheint. Schließlich möchte ich auch erwidern, daß es in der CSU rechtsextremistische Elemente oder Tendenzen, die sich zu einer rechtsradikalen Einstellung hin entwickeln, schlechthin nicht gibt. Wir würden uns ja in Widerspruch zur überwältigenden Mehrheit unserer Wähler und in Widerspruch zu unserer eigenen politischen Überzeugung setzen. Aber Sie wissen ja, daß nach dieser maßlosen Übertreibung des Nationalismus und des Militärischen, wie es im militärischen System des Nationalsozialismus der Fall war, heute schon manche Worte bei uns einen Klang bekommen und eine Interpretation erhalten, die in anderen Völkern, die wieder zu sich gefunden haben und die mit sich versöhnt sind, nicht so gefunden werden können.

Gaus: Halten Sie es für Ihre Aufgabe, diese mißbrauchten Worte und Begriffe wieder mit einem neuen Sinn zu erfüllen?

Strauß: Man kann bestimmte Worte nicht ersetzen. Das hat sich schon bei der Nationalhymne gezeigt, wo nach einem erfolglosen Versuch vom ehemaligen Bundespräsidenten die dritte Strophe des Deutschlandliedes wieder eingeführt worden ist. Man muß aber bestimmte Worte wie Vaterland, Nation, Opfergeist oder das sehr ambivalente Wort Patriotismus mit großer Vorsicht gebrauchen, wenn man nicht entweder in Gefahr laufen will, es zu einem völlig inhaltsleeren Wortgebilde zu machen oder es mit gefährlichen Erinnerungen zu füllen.

Gaus: Herr Strauß, Sie haben den Krieg als Oberleutnant der Flak beendet. Sie waren zunächst bei der Artillerie, später bei der Heeres-Flak und sind in Rußland verwundet worden und dann nach Deutschland zurückgekommen. Wie haben Sie über den 20. Juli 1944 gedacht?

Strauß: Wenn man heute darüber spricht, kommt man leicht in die Gefahr, als Freund einer Betrachtungsweise post festum zu gelten. Es gibt aber darüber wohl so viele noch lebende Kameraden und Freunde und Zeugen, daß ich es wagen kann, meine Meinung von damals zu sagen, ohne mich als Opportunist damit auszuweisen. Ich war von Anfang des Krieges an der Meinung, daß dieser Krieg so schnell wie möglich, und zwar durch den Sturz Hitlers, beendet werden müßte. Es war die tragische Situation, auch für uns kleine Soldaten – wir waren ja keine großen Leute –, daß man einerseits nicht den totalen Zusammenbruch des Vaterlandes mit Besetzung durch die anderen Armeen wünschen konnte, andererseits aber auch den Sieg Hitlers mit den sich abzeichnenden Konsequenzen auf keinen Fall und um keinen Preis wünschen durfte. Darum war ich im Herzen, von Anfang an, auf seiten derer, die solche Ansätze unternommen haben. Ich gehöre nicht zum Kreis des 20. Juli, weil ich nicht gefragt worden bin, weil ich keinen Zutritt hatte dazu. Ich hätte „ja“ gesagt, wenn ich einen Zutritt gehabt hätte. Es haben aber Angehörige dieses Kreises in den Jahren 1943, 1944 verschiedene Kasernen aufgesucht, darunter auch meine Kaserne, und haben sich, ohne ihre Absichten genau anzudeuten, nach Leuten umgesehen, nach Offizieren umgesehen, die an Ort und Stelle im Fall des Falles bereit wären, mitzuwirken. Einen solchen Kreis hat es auch bei uns gegeben. Ich glaube, ich begehe keine grobe Indiskretion, wenn ich sage, daß der heutige Wirtschaftsredakteur und Leitartikler der „Welt“, Herr Ferdinand Fried, der sonst Zimmermann heißt, einer dieser Besucher war, die in den Kasernen sondiert haben, wo sie Sympathiegänger finden. Ich hätte gewünscht, daß der 20. Juli erstens eher gekommen wäre, trotz des Kalenders, aber Sie wissen, was ich damit meine, und ich hätte gewünscht, daß er ein voller Erfolg geworden wäre. Das Bedenken, das man dagegen erheben kann, ob es dann nicht wieder eine Dolchstoß-Legende gäbe, wenn nicht die letzte, bitterste Konsequenz gezogen worden wäre – diese Gefahr hätte ich trotzdem für geringer erachtet als die Schrecken und die unsäglichen Opfer und Verluste, die noch nach dem 20. Juli 1944 über unser Volk hereingebrochen sind.

Gaus: Herr Strauß, Sie haben schon von den Begriffen gesprochen, die mit dem neuen Inhalt erfüllt werden müßten: Vaterland und Nation. Haben Sie seit 1945 in irgendeiner politischen Prinzipienfrage Ihre Meinung entscheidend geändert, sei es etwa in der Bewertung des Nationalstaates, sei es in der Bewertung des Verhältnisses zwischen Rechts und Links in der Politik; gibt es einen solchen entscheidenden Sinneswandel in irgendeiner Grundsatzfrage der Politik?

Strauß: Von erfahrenen, älteren Politikern habe ich frühzeitig gehört, daß man nur wenige Dinge zu Grundsätzen erheben soll, um nicht durch den Wandel der Zeiten gezwungen zu sein, darin Grundsätze aufzugeben, die einfach durch den Fortgang der Dinge überholt sind. Wenn ich das vorausschicken darf, mochte ich sagen, daß ich keinen Anlaß hatte, in Grundfragen der Politik, am allerwenigsten in der Frage des deutschen Nationalstaates und seines Zusammenhangs mit der europäischen Entwicklung, meine Meinung zu ändern; oder im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus; oder im Zusammenhang mit den Wesenselementen der Demokratie; oder im Zusammenhang mit der Frage eines weltanschaulichen Fundaments einer Politik, ohne daß man damit gleich alles zum weltanschaulichen Grundsatz erhebt.

Gaus: Aus einer Wahlrede, die Sie 1949 gehalten haben, wird gelegentlich der Satz zitiert: "Wer noch einmal ein Gewehr in die Hand nimmt, dem soll die Hand abfallen." Sie sagen, daß dieser Satz aus dem Zusammenhang gerissen sei. Nun wäre es ja gar nicht so erstaunlich, wenn man unmittelbar nach Kriegsende oder bald nach Kriegsende unter dem frischen Eindruck der Schrecken des Kriegs eine distanziertere Haltung zur Wehrfrage einnähme als etwas später. Ist das bei Ihnen so gewesen?

Strauß: Das kann ich nur durch eine ganz kurze Schilderung des Zusammenhanges überhaupt verständlich machen. Als einigermaßen historisch gebildeter Mensch – ich bitte das Wort zu verzeihen –, aber einigermaßen historisch gebildeter Mensch, ich habe in dieser Disziplin mein Staatsexamen gemacht, war ich von Natur aus der Auffassung, daß jeder Staat ein Instrument der Verteidigung haben muß, sei es ein eigenes, sei es durch Beteiligung an einem kollektiven Verteidigungsinstrument. Aber was ich, glaube ich, kaum oder nur selten gesagt habe: Ich hätte gewünscht, daß diese Notwendigkeit erst wesentlich später an uns herangetreten wäre, als sie effektiv aufgetreten ist.

Gaus: Aus welchen Gründen hätten Sie sich das gewünscht?

Strauß: Aus diesen Gründen, die Sie genannt haben: Weil die Übertreibung des Militärischen, die Perversion der Gewaltanwendung als Mittel der Politik, diese völlige Entsittlichung unserer Politik durch Anbetung der nackten, brutalen Gewalt einen Erschütterungsprozeß in unserem Volk ausgelöst hat, der eine bestimmte Gesundungsphase eigentlich erfordert hätte. Ich bin ja bis zu einem gewissen Grad dann später das Opfer geworden als Minister für diese Aufgabe, weil ich an mir selbst ja, gemäß Ihren einleitenden Worten, den Zusammenstoß der verschiedenen Fronten, gerade in dieser Frage, persönlich zu spüren bekommen habe. Aber ich war nie ein Gesinnungspazifist, also einer, der Gewaltanwendung – gleichgültig, für welchen Zweck – ablehnt. Ich möchte mich eher als Verantwortungspazifist bezeichnen, der auch durch das Ja zum militärischen Element einen Beitrag und auch durch den eigenen Anteil daran einen Beitrag zur Erhaltung des Friedens leisten will.

Gaus: Was ist Ihre Meinung über Gesinnungspazifisten?

Strauß: Ich darf es an einem geschichtlichen Beispiel sagen. Ich möchte mit diesem Wort nichts von der moralischen und politischen Schuld Hitlers abschreiben, mit dem, was ich jetzt sage, aber ich bin fest überzeugt: Wenn England und Frankreich in den dreißiger Jahren vor der Sudeten-Krise und vor allen Dingen vor dem Überfall auf Polen energischer gegen die Vertragsbrüche Hitlers reagiert hätten, wenn dort nicht starke pazifistische, in sich liebenswerte Tendenzen, nach den Schrecken des Ersten Weltkriegs den Anschein verbreitet hätten, daß diese Staaten nicht mehr bereit wären, sich gegen weitere Rechtsbrüche zu verteidigen – das heißt einfacher ausgedrückt: Wenn Hitler gewußt hätte, daß Frankreich und vor allen Dingen England am 3. September in den Krieg eintreten, was er nicht geglaubt hat –, dann wäre uns der Zweite Weltkrieg wohl trotz des kriminellen Ansatzes dieser Politik erspart geblieben.

Gaus: Halten Sie diese Gesinnungspazifisten bis zu einem gewissen Grad für ehrenwerte, idealistische Dummköpfe?

Strauß: Ich möchte mit dem Wort Dummköpfe vorsichtig sein. Das wollen wir der Endrechnung des lieben Gottes überlassen; im politischen Kampf kommt das Wort hier und da vor, aber da ist es nicht so böse gemeint. Ich halte sie, wenn sie wirklich an das glauben, was sie sagen, für ehrenwerte und ethisch hochstehende Menschen. Damit möchte ich nicht ausschließen, Herr Gaus, daß sie sich gerade deshalb, ohne es zu wissen und zu wollen, in den Dienst einer falschen Politik stellen können oder von einer solchen Politik für sehr gefährliche und gegenteilige Ziele mißbraucht werden können. Es besteht doch kein Zweifel daran, daß sich die ganze kommunistische Aggressions- und Zersetzungspolitik in allen Ländern der Pazifisten bedient in der Absicht, nach kommunistischer Machtübernahme sicherlich die Pazifisten gleich am Anfang zu liquidieren, weil sie mit dem Kommunismus nichts gemeinsam haben und eine Gefahr für ihn sind. Siehe zum Beispiel das Vorgehen in der Zone gegen die Bibelforscher.

Gaus: Herr Strauß, manchmal wird Ihnen nachgesagt, Sie seien sich selbst der böseste Feind. Vielleicht ist das nicht unrichtig. Könnte es sein, daß Sie die vertrackte Neigung haben, immer recht zu behalten, und daß es Ihnen schwerfällt, auch einmal nachzugeben?

Strauß: Ich habe vor einigen Wochen in Gracins "Handorakel der Weltklugheit", ich glaube, es wurde im 17. Jahrhundert geschrieben, ein Wort gelesen, das heißt, man soll das Intensive höher schätzen als das Extensive. Ich habe vielleicht dieses Wort etwas übertrieben, weil ich bei manchen Diskussionen versucht habe, wie ich es allerdings auch mir selber gegenüber tue, in der analytischen Behandlung einem Problem auf den Grund zu gehen und, lassen Sie mich einfach sagen, den anderen festzunageln, so oder so. Das wird vielleicht von einem Gesprächspartner anderer Struktur und anderer mentaler Haltung leicht mißverstanden oder als aggressive persönliche Haltung ausgelegt, die natürlich dann keine Sympathien erweckt.

Gaus: Selbst Parteifreunde von Ihnen sagen manchmal, daß Sie auch in Diskussionen im kleinen Kreis von Vertrauten so beharrlich und radikal diskutieren – wie Sie es eben gesagt haben, festnageln wollen –, daß man meinen könnte, es fehle Ihnen eine Portion Gelassenheit und Souveränität. Halten Sie diese Charakterisierung im Kern für berechtigt?

Strauß: Es wäre falsch von mir, den richtigen Kern einer solchen Kritik, da andere ja immer schärfer sehen, als unberechtigt zu erklären. Ich möchte auch mit dem folgenden Satz gar nicht rechtfertigen, was ich mit dieser Haltung gesagt habe oder aus dieser Haltung heraus in Diskussionen verfolgt habe, aber ich bin schon ein überzeugter Gegner der Oberflächlichkeit der politischen Argumente. Ich halte gar nichts davon, wenn man sich auf dem niedrigsten Nenner der oberflächlichsten Phrase in Form einer gemeinsamen Terminologie dann findet, wenn man lauter Übereinstimmungs-Erklärungen abgibt und beide Seiten dann weggehen und jeder aus der Unterhaltung das mitnimmt, was er gerne gehört hat, ohne daß die Frage intellektuell geklärt ist. Allerdings kann man das auch übertreiben, und vielleicht habe ich die Neigung, zu übertreiben, und habe deshalb auch mehrmals übertrieben.

Gaus: Ja, ich verstehe, was Sie meinen mit der Abneigung gegen die Phrase, auf die man sich schnell einigen kann. Aber gehört es nicht zur Notwendigkeit der Politik, eine solche schnelle Einigung auch um den Preis des Nicht-ganz-zu-Ende-diskutiert-Habens einmal herbeizuführen?

Strauß: Das kann dazu gehören, wenn man glaubt, ein ausreichendes Maß an Wahrscheinlichkeit oder Gewißheit zu haben, daß sich die nicht ausdiskutierten Elemente nicht zu Sprengkörpern entwickeln und dann die erreichte Einigung sehr schnell belasten und zerstören.

Gaus: Bei Ihrem Standpunkt ...

Strauß: Das läßt sich nicht mit letzter Sicherheit ...

Gaus: Ich verstehe, was Sie meinen, aber bei Ihrem Standpunkt ist doch wohl immer die Gefahr einer mangelnden Distanz gegeben. Sie identifizieren sich doch wahrscheinlich mit allen Dingen, die Sie überhaupt anpacken, und beschäftigen sich mit ihnen mit einer Ausschließlichkeit, die wiederum diesen Mangel an Distanz noch vergrößert.

Strauß: Ob die beiden Dinge damit zusammenhängen, kann man wohl nicht mit einem Wort oder mit einem Satz ausdrücken. Vielleicht ist dieser Vorwurf oder diese Feststellung in erster Linie bei mir im Zusammenhang mit meiner Tätigkeit als Verteidigungsminister entstanden.

Gaus: Auch als Atomminister hat man bereits – damals allerdings noch sehr lobend – gesagt: „Schau an, der Strauß, wie er sich eingearbeitet hat in diese Materie, ist bemerkenswert.“

Strauß: Ich glaube, daß das Lob erhalten geblieben wäre, wenn ich weiterhin Atomminister geblieben wäre. Aber ich habe ja vorher schon gesagt, daß gerade die verschiedenen Strömungen, geistigen und politischen Strömungen, in der Frage „Bundeswehr – ja oder nein?“ sozusagen ihren höchsten Wellenschlag erhalten haben. Und wenn man die damaligen Zusagen der Bundesregierung, die vor meinem Amtsantritt als Verteidigungsminister gegenüber der NATO gemacht worden sind und von denen ich von vornherein gesagt habe, daß sie nicht eingehalten werden können, wenigstens in dem reduzierten Sinn erfüllen wollte, dann mußte man allerdings eine starke Ausschließlichkeitshaltung einnehmen, um die ungeheuren, manchmal kaum überwindlich erscheinenden Widerstände Schritt für Schritt zu beseitigen.

Gaus: Ich möchte noch einmal auf diese Neigung kommen, alles bis zum Ende und sehr absolut zu diskutieren, um festzunageln. Sie stammen aus einem höchst ehrenwerten Elternhaus, Herr Strauß, aber es war dennoch wohl nicht so selbstverständlich von Anfang an, daß Sie studieren würden, und es war wohl gar nicht vorherzusehen, daß Sie zu einem öffentlichen Rang erster Ordnung aufsteigen könnten. Fühlen Sie sich gelegentlich, etwa im Kreis von Parteifreunden, die von Hause aus besser gestellt sind – sagen wir Baron Guttenberg –, fühlen Sie sich in solchem Kreis gelegentlich versucht, auch deswegen so mit Entschiedenheit und Erbitterung zu diskutieren, weil Sie zeigen wollen: Hier bin ich, der bin ich, wie weit habe ich es gebracht?

Strauß: Ich glaube nicht, daß dieses Motiv zugrunde liegt, verhehle aber nicht, daß für mich der Weg durch das Studium, schon die neun Jahre Gymnasium und vier Jahre Universität, materiell außerordentlich schwierig war und daß ich lange Zeit hindurch mit den Daseinsfragen des Lebens ernsthaft zu kämpfen hatte. Vielleicht hat das eine Haltung oder Reaktion hervorgerufen, die so ausgelegt werden kann, wie Sie es jetzt tun. Ich habe bestimmt nicht gegenüber Freiherrn von Guttenberg einen sozialen Minderwertigkeitskomplex oder eine Befangenheit.

Gaus: Herr Strauß, Sie haben schon gesprochen von der Notwendigkeit, die es für Sie gab, sich sehr intensiv mit der Verteidigungspolitik zu beschäftigen, als Sie das Ministerium übernommen haben. Diese intensive Beschäftigung – was ist nach Ihrer Meinung darüber hinaus die wichtigste Qualifikation, oder was sind die wichtigsten Qualifikationen für einen heutigen Politiker?

Strauß: Das ist ein ungeheures Feld. Sicherlich gilt noch eine alte Definition, die ich einmal vor vielen Jahren bei Max Weber gelesen und gelegentlich in Reden wiederholt habe, was ein Politiker haben müßte: Leidenschaft, das heißt nicht sterile Aufgeregtheit, daß er haben müßte echtes Verantwortungsbewußtsein und ein gewisses Augenmaß. Aber das ist mir noch etwas zu wertneutral ausgedrückt.

Gaus: Wäre es mir auch gewesen.

Strauß: Politik ist ja Ziel, Funktion und Mittel und meistens in der echten Politik eine Kombination von beiden. Wenn ich sage echte Politik, dann zur Unterscheidung von anderen Anwendungen des Wortes Politik, weil das Wort Politik ja heute für alles angewendet wird. Es gibt eine Verkaufspolitik einer Firma, eine Devisenpolitik der Bundesbank und so weiter. Aber Politik in diesem Sinne, wie ich es sage, ist eine Verbindung von Funktion, Mittel und Zweck. Und zwar muß meines Erachtens vorhanden sein ein weltanschauliches Fundament, ohne daß man alles zum Grundsatz erhebt und von Grundsätzen trieft. Es muß zweitens nach meiner Auffassung vorhanden sein ein Weltbild, zu unterscheiden von Weltanschauung, ein Weltbild und ein Geschichtsbild. Es muß eine Fähigkeit vorhanden sein, die politischen, sozialen und technischen Strömungen unserer Zeit zu erfassen und ihre Auswirkungen in die Zukunft und die damit verbundenen Probleme zu ahnen. Ich drücke es jetzt in meinen Reden immer so aus, daß es heute nicht mehr genügt, im Gegensatz zu früher, auf einem reichen Erfahrungsschatz und auf einem Erfolg der Vergangenheit aufzubauen. Das ist zwar eine gute Legitimation, aber nicht ausreichend.
Es gehört dazu auch eine gewisse Intuition, ein gewisser Instinkt für auf uns zukommende Probleme und Aufgaben und auch ein gewisser Mut zum Wagnis. Ein Politiker soll zwar kein Abenteurer sein, das meine ich nicht damit, aber die Biographien vieler Staatsmänner haben einen Untertitel „Das große Wagnis“ oder „Das große Abenteuer“. Das gilt für alle, mit denen ich mich in keiner Weise an Bedeutung vergleichen möchte, so wie Oliver in seinem Werk geschrieben hat „The endless adventure“. Ich glaube, mir hat sehr gut gefallen eine Definition, auf die ich noch abschließend eingehen will, die nach meiner Erinnerung von Clausewitz stammen dürfte: daß ein Politiker einen Verstand haben muß, mit dem er auch in einer düsteren Zeit noch die schwachen Spuren des Lichtes der Wahrheit entdeckt, und den Mut, diesen schwachen Spuren zu folgen. Er kann sich dabei natürlich auch täuschen.
Und wenn Sie jetzt die Summe aus dem nehmen, was ich gesagt habe, dann glaube ich, daß eine bestimmte Grundlage da ist. Lassen Sie mich aber noch ein Wort dazu sagen. Ich halte gar nichts von akademisch gelernten Politikern im Sinne eines Politik-Studiums. Ich bin der Meinung, daß sich in der Politik nur jemand betätigen sollte, der den festen Boden eines erlernten Berufs hat, der es ihm auch ermöglicht, ohne diese Tätigkeit in der Politik für sich und für seine Familie den Lebensunterhalt zu bestreiten. Das heißt, er muß auch ein wirtschaftlich-soziales Fundament haben, sonst bekommen wir einen Typ des Berufspolitikers – heute ist der Berufspolitiker unvermeidlich –, aber einen Typ des Berufspolitikers, der dann zu sehr zum Funktionär und Manager wird.

Gaus: Aber Sie selbst halten sich doch auch für einen Berufspolitiker? Sie sind Berufspolitiker?

Strauß: Meine Tätigkeit ist fast ausschließlich, infolge der Funktionen, die ich habe, mit politischen Aufgaben erfüllt. Aber ich versuche auch dann und wann, vor allen Dingen in den Ferien, mich zurückzuziehen und geistiges Rüstzeug zu schaffen, mit dem man auch anderswo als in der Politik tätig sein könnte.

Gaus: Und dieses wäre dann, wenn es nach Ihrem Wunsch ginge, nach wie vor der Lehrstuhl für Geschichte?

Strauß: Nicht mehr ausschließlich.

Gaus: Lehrstuhl für Volkswirtschaft?

Strauß: Interessante Sache.

Gaus: Bevor wir auf die weltanschauliche Plattform kommen, die Sie eben erwähnt haben, hätte ich noch eine Frage vorher. Sie haben in diesem bisherigen Gespräch schon eine ganze Reihe von Zitaten, klassischen Zitaten gebracht – Gracin, Clausewitz. Macht es Ihnen Spaß, so etwas parat zu haben?

Strauß: Die Zitate, die ich heute gebraucht habe, sind nicht exakt und können es nicht sein, weil ich über wenig Präsenz-Wissen im Sinne genauer Zitierung verfüge, ob das nun ein Gedicht ist oder ein Kapitel aus Leopold von Rankes "Weltgeschichte"; aber ich bemühe mich, aus meiner Lektüre essentielle Dinge und vielleicht manche wesentliche Formulierung herauszuholen, weil ich mir bewußt bin, daß andere – schon in der Vergangenheit – besser formulieren konnten als ich, und das wende ich ganz gerne an.

Gaus: Glauben Sie auch, daß – was ja durchaus legitim wäre zu überlegen – die Bildung, die damit verraten wird, bei dem heutigen Wählerpublikum gut ankommt?

Strauß: Das kann man nicht so einfach beantworten, aber lassen Sie mich einen pragmatischen Vergleich gebrauchen. Mein Schatz an präsentablen Zitaten oder Sentenzen beträgt nur einen Bruchteil des Thesaurus, aus dem zum Beispiel der verehrte Kollege und Vizepräsident Carlo Schmid schöpft. Und ich habe nicht den Eindruck, daß er mit seinen sehr reichhaltigen Redensarten beim Volk etwa auf Ablehnung stößt.

Gaus: Jetzt zu dieser weltanschaulichen Plattform, die Sie als eine Notwendigkeit für die Ausbildung des politischen Talents angesehen haben. Sie gehörten 1945 zu den jugendlichen Mitbegründern der CSU. Was hat Sie so sicher gemacht außer dem Einfluß des Elternhauses, daß dies die richtige Partei für Sie sein wird?

Strauß: Ich kann hierfür kein durchschlagendes rationales Argument gebrauchen. Die Frage hat sich eigentlich für mich nie gestellt.

Gaus: Es gab für Sie gar keinen Zweifel, erstens in eine Partei zu gehen –

Strauß: Das habe ich mir am Ende des Krieges vorgenommen aus den Motiven, die ich vorher genannt habe.

Gaus: ... zweitens dann in die CSU zu gehen? Oder jedenfalls in eine christliche Partei, die sich gründete und die dann CSU hieß?

Strauß: Ich habe zum Beispiel am Ende der Weimarer Republik und auch in den Jahren der Hitlerzeit großen Respekt vor der Sozialdemokratie gehabt, weil sie nach meiner Meinung am Ende der Weimarer Republik trotz ihrer politischen Erfolglosigkeit und politischen Impotenz den richtigen Instinkt für die Gefährlichkeit Hitlers hatte, mehr als manche bürgerlich-konservativen Kreise, die unter dem Schatten des angeblich drohenden Bolschewismus – und manche haben ja auch diese Gefahr, vielleicht nicht ganz mit Unrecht, für sehr ernsthaft gehalten – in die Arme Hitlers geflüchtet sind; nicht weil sie Nazis waren, sondern weil sie dort noch die letzte Rettung vor dem Unheil gesehen haben, um dann festzustellen, daß sie sich für das Unheil schlechthin entschieden hatten. Aber eine ernsthafte Überlegung, mich einer anderen Partei anzuschließen, habe ich nie getroffen. Es ist bezeichnend, daß man an mich herangetreten ist in dem Landkreis, in dem ich Landrat war, heute mein Wahlkreis oder Teil meines Wahlkreises, mit der Aufforderung, in die Bayernpartei einzutreten.

Gaus: Warum haben Sie gezögert?

Strauß: Weil mir diese Partei zu eng horizontiert erschien, und weil ich überzeugt war, daß angesichts der großen Umwälzung der Zeit eine Partei, die das Bayern des 19. Jahrhunderts restaurieren will – liebenswertes Ziel –, einfach keine Daseinsberechtigung mehr hat und sich auf die Dauer auch nicht mehr halten kann. Aber ich habe keinen langen Denkprozeß gebraucht, um mich für die CSU zu entscheiden.

Gaus: Wie denken Sie heute über diese Zeit?

Strauß: Vielleicht hängt das auch damit zusammen, Herr Gaus, daß wir ja bereits im Sommer 1945 ernsthafte Auseinandersetzungen – lassen Sie mich einmal sagen: im christlich-bürgerlichen Lager hatten; das Wort bürgerlich gebrauche ich nicht gerne, weil es so an Plüschsofa und Nippes erinnert, aber Sie wissen, was ich damit meine – daß wir ernsthafte Auseinandersetzungen hatten: Soll die Bayerische Volkspartei wieder gegründet werden, oder soll etwas Neues kommen? Und irgendwie haben wir auch instinktiv – ich darf das schon sagen – vor Ausbruch des Krieges und während des Krieges gespürt, daß etwas ganz Neues geschaffen werden muß auf der politischen Plattform, wenn nicht eine neue Schöpfung der deutschen Demokratie wieder einen sehr negativen Verlauf nehmen soll. Und so möchte ich nicht sagen, daß es – abgesehen von der Erziehung und vom Elternhaus – eine rationale Überlegung war, sondern es war eine instinktive Entscheidung, mich für die Union zu erklären. Ich habe ja in der Partei etwas dazu beigetragen, daß sich die Richtung Adam Stegerwald-Joseph Müller später durchgesetzt hat gegenüber einer anderen Richtung, die mehr bayerisch gefärbt war …

Gaus: unter …

Strauß: ... unter Schäffer, die nicht bayernparteifreundlich war, aber die damals aus ihrer politischen Vergangenheit heraus, auch im Bewußtsein ihrer untadeligen Gesinnung, die Bayerische Volkspartei vielleicht ursprünglich lieber gesehen hätte als die Union.

Gaus: Was halten Sie eigentlich, Herr Strauß, von den Bemühungen, die sowohl von sozialdemokratischer Seite aus als auch von einigen katholischen Kreisen vorgenommen werden, ein neues Verhältnis zwischen SPD und katholischer Kirche herbeizuführen?

Strauß: Ich habe volles Verständnis dafür, daß die Kirche nicht einer politischen Partei verhaftet sein will. Ich habe auch in meiner Partei – manchmal deswegen Angriffen ausgesetzt – gesagt, daß wir nicht die Kirche oder die Kirchen etwa zu einem verlängerten Arm der Parteipropaganda und der Wahlwerbung benutzen dürften. Ich betrachte zwar nicht die Kirchen als Partner, wie es in der Terminologie der SPD heißt. Wir haben wohl gemeinsame Aufgaben, wir sind ja als Christen in vollem Bewusstsein unserer menschlichen Schwächen, Fehler und Sündhaftigkeit beiden Bereichen angehörig, dem Bereich der Kirche als Mitglieder einer Konfession und dem Bereich der Partei. Aber diese beiden Bereiche stehen nicht auf einer Ebene. Ich habe auch volles Verständnis dafür, daß die Kirche, die ein Quell der Zuflucht, ein Hort des Glaubens, eine moralische Stärkung ist, uns den Zugang zu den religiösen Werten darstellen will, ohne Rücksicht auf das politische Bekenntnis oder die soziale Zugehörigkeit.

Gaus: Es läßt sich doch wohl nicht leugnen, daß ein Zurückdrängen des bisherigen Anspruchs der CDU/CSU, als einzige Partei die rechte Verbindung zu den Kirchen zu besitzen, daß dies für die CDU/CSU wahltaktisch von Nachteil sein würde.

Strauß: Dann muß eben die CDU/CSU an politischer Substanz gewinnen, wenn sie damit rechnen muß, an wahltaktischen Opportunitäten zu verlieren. Ich habe nie etwas dagegen gehabt. Vor allen Dingen: Wir erleben ja heute, daß die Sozialdemokraten uns vorhalten, die Kirche sei in Schulfragen moderner als die Partei. Ich glaube, ich habe eben in unserer Partei zu denen gehört, die gesagt haben, man sollte nicht Positionen verteidigen, die auf die Dauer nicht verteidigt werden können.

Gaus: Halten Sie diesen sozialdemokratischen Vorwurf, die CSU sei in Schulfragen weniger fortschrittlich als die Kirche, für ganz unberechtigt?

Strauß: Das kann man nur in einer genauen Darlegung der Zusammenhänge erörtern, aber nicht mit ein paar Stichworten. Generell ist der Vorwurf unberechtigt, aber es gibt einige Punkte, die immerhin diesem Vorwurf eine gewisse optische Berechtigung verleihen. Ich habe mich seit Jahren bemüht, und nicht ohne Erfolg, diese Punkte auszuräumen. Nur soll sich die Kirche natürlich auch nicht Täuschungen hingeben. Es muß noch ein gewaltiger Weg von der Sozialdemokratie zurückgelegt werden, bis etwa die beiden großen Parteien CDU/CSU und SPD dasselbe Verhältnis zu den Kirchen haben wie, sagen wir, die Mehrheit der Labour Party in England und die Konservativen, wo diese Frage ja kaum jemals eine solche Rolle gespielt hat in der innenpolitischen Auseinandersetzung. Ich würde gerne auch von seiten der Sozialdemokratie hier echte Schritte sehen, zum Beispiel beim Religionsunterricht in Berlin, beim Religionsunterricht in Bremen oder die Zurücknahme der Klage in Karlsruhe gegen das Sozialhilfegesetz und Jugendwohlfahrtsgesetz.

Gaus: Allgemein hat die Sozialdemokratie eine neue Haltung in der Frage der Bekenntnisschule eingenommen.

Strauß: Das kann man noch nicht sagen: Die Sozialdemokratie steht ohne Zweifel auf dem Boden der verabschiedeten Länderverfassung. Die Sozialdemokratie toleriert die Konfessionsschule, aber fördert sie nicht. Wir halten demgegenüber am Prinzip der Konfessionsschule fest, aber, wie ich neulich vor einem großen Kreis ausgeführt habe, mit der Einschränkung, daß es dort, wo die Durchführung des Prinzips der Konfessionsschule die Qualität der Ausbildung, die Qualität der schulischen Möglichkeiten verschlechtert oder persönliche Härten schafft durch lange Verkehrswege oder aus anderen sachlichen, auch zum Teil materiellen Gründen, nicht angewendet werden kann, auch nicht als Prinzip, als Grundsatz durchgehalten werden kann. Siehe Baden, wo die Kirche der christlichen Gemeinschaftsschule von Anfang an zugestimmt hat.

Gaus: Herr Strauß, gelegentlich machen Sie in Reden scharf Front gegen die Intellektuellen. Sie haben Kritikern, denen bestimmte Verhältnisse in der Bundesrepublik nicht gefallen, empfohlen, sie möchten doch in die Sowjetzone gehen, wenn es ihnen hier nicht paßt. Lassen Sie mich fragen: Solche Formulierungen, entstehen die bei Ihren Reden in der Rage des Augenblicks, oder haben Sie sich, wenn Sie reden – ganz gleich, vor welchem Publikum, ganz gleich, an welchem Ort –, immer in der Hand?

Strauß: Sie fragen mich, ob ich über die Kunst verfüge, in Zorn geraten zu können. Das trifft zum Teil zu, zum Teil nicht. Aber Sie haben mich jetzt eben – was ich Ihnen, Herr Gaus, nicht übelnehme – etwas Unrichtiges gefragt, weil der Hauptberichterstatter, wie seine Zeitung nicht leugnete, mich falsch zitiert hat. Ich habe gerade bei der Rede, die Sie meinen, vor einigen Monaten, gesagt: Wir sind kein Staat mit einer Mauer um unsere Grenzen herum. Und bei uns ist jeder willkommen, auch wenn er Kritik übt. Wenn er aber meint, daß die Lebensverhältnisse unhaltbar sind bei uns, hindert ihn nichts, auch zu gehen. Ich habe ausdrücklich hinzugefügt: Ich empfehle es ihm gar nicht, zu gehen. Ich setze mich gerne mit Persönlichkeiten auch der Gruppe 47 auseinander, warum denn nicht? Und in einem tun Sie mir geradezu unrecht, Herr Gaus, ich bin doch selber ein Intellektueller. Oder kennen Sie eine Prädikatisierungsstelle, die den Stempel „Intellektueller“ verleiht, der dann erst die Berechtigung gibt, sich als solcher bezeichnen zu dürfen?

Gaus: Ich kenne keine. Aber einige Ihrer Parteifreunde glauben immer, daß die Gruppe 47 eine solche Stelle sei, was ich ...

Strauß: Das wäre eine gewaltige Übertreibung der Gruppe 47, die man doch nicht als eine homogene Einheit auffassen darf.

Gaus: Ich bin ganz Ihrer Meinung. Ich würde gern von Ihnen wissen, was denn nun Ihre Vorbehalte sind gegenüber den intellektuellen Kritikern, die nicht zu Ihrem Lager gehören, zu Ihrem intellektuellen Lager.

Strauß: Damit stellen Sie mir eine Frage, die nicht leicht, vielleicht sogar gefährlich, aus der Tasche heraus – ex pectore – zu beantworten ist. Ich möchte erstens sagen: Einmal bin ich nicht einverstanden mit dem Anspruch, den diese Kreise oder den Angehörige dieses nicht näher definierbaren Kreises erheben, mit ihrer Meinung mehr zu gelten als der einfache Staatsbürger. Also ein gewisses selbst zugesprochenes Intellektuellen-Monopol. Und zum zweiten: Die daraus abzuleitende Weigerung, die häufig bei diesen Kreisen festzustellen ist, sich der legitimen Mittel der Politik – das sind nun einmal auch die Parteien, die nach dem Grundgesetz zur politischen Willensbildung mitberufen sind – zu bedienen, um ihren Sachverstand, ihr Wissen, auch ihre kritisch-skeptische, analytische Fähigkeit der Politik zur Verfügung zu stellen. Ich glaube, daß in diesen Kreisen auch eine erhebliche Quantität an intellektueller Potenz vorhanden ist neben einigen Schwätzern; aber ich möchte das nicht zum Regelfall machen, ganz im Gegenteil: Da ist eine erhebliche intellektuelle, auch intelligenzmäßige Quantität vorhanden, die sich aber auf eine ziemlich sterile und unproduktive Weise auswirkt.

Gaus: Glauben Sie, daß dieses, was Sie steril nennen, auch zurückgeführt werden muß darauf, daß die größte Partei, die CDU/CSU, eine gewisse – instinktive, möchte ich fast sagen – Abneigung gegenüber diesen analytischen Kritikern hat?

Strauß: Wir sind eine Volkspartei, deren breite Anhänger, Wähler und Freunde aus dem einfachen Volke stammen. Wir haben zwar sicherlich alle Schichten in unserer Partei vertreten, und es ist kein Zweifel, daß in diesen Kreisen des Volkes ein gewisses, nicht näher definierbares Element der Abneigung oder zumindest der Verständnislosigkeit vorhanden ist. Das sollte aber die Führung dieser Partei nicht davon abhalten, sich mit allen Kreisen, die sich intellektuell nennen – das sind nicht nur die einen, sondern da gibt es auch andere –, zu unterhalten, vielleicht sogar ihnen das Gefühl zu geben, daß sie gefragt werden, daß sie um Vorschläge gebeten werden, an der politischen Willensbildung und an der Fassung politischer Beschlüsse beteiligt werden. Das halte ich für ein erstrebenswertes Ziel.

Gaus: Ich möchte noch einmal auf Ihre Fähigkeit, künstlich in Zorn geraten zu können, wenn es darauf ankommt, zu sprechen kommen. Warum gebrauchen Sie Formulierungen, wie zum Beispiel jene aus einer Rede im Oktober 1956 in Hollfeld, von der Möglichkeit des Westens, die Sowjetunion auszuradieren, wenn es darauf ankomme? Was ist der Grund, daß Sie zu Formulierungen greifen, die dann zwangsläufig zu einer Kontroverse um Ihre Person führen müssen?

Strauß: Ich habe heute schon einmal in einem anderen Zusammenhang, ohne es zu Ende zu führen, gesagt, daß man solche Dinge, Äußerungen – die im übrigen hier nicht genau zitiert sind, aber zum Teil so gebracht worden sind –, daß man nicht auf solche Äußerungen zurückgreifen kann, ohne den Zusammenhang der Dinge herzustellen. Ich habe nie gesagt: Jemandem soll die Hand abfallen, bevor er ein Gewehr wieder ergreift, sondern ich habe darüber gesprochen, daß der Staatsmann nicht zur Gewalt greifen darf nach dem Bibelwort: „Wer das Schwert zieht, wird durch das Schwert umkommen.“ Das steht nicht im Widerspruch zur legitimen Verteidigung. Ich habe in Hollfeld nach dem Blutsonntag in Ungarn als frisch ernannter Verteidigungsminister gesprochen, als von der Grenzbevölkerung her große Unruhe gemeldet wurde, als ich Telegramme bekommen hatte: „Geben Sie uns sofort Waffen, wir wollen Milizeinheiten aufstellen.“ Man hatte den Eindruck oder die Furcht, daß der Einmarsch der Roten Armee in Ungarn, politisch völlig zu Unrecht befürchtet, auch einen generellen weltweiten oder europaweiten Krieg auslösen könnte. Ich bin dann dorthin gefahren – da waren sogar noch zwei Omnibusse mit Zonenbewohnern da, die über die Grenze rübergekommen sind –, und ich habe dort gesagt, daß die Bevölkerung in Ruhe arbeiten, in Frieden schlafen und nicht die geringste Sorge haben könnte. Denn wir seien Mitglieder eines Bündnisses, dessen technische Mittel stark genug seien, um solche fürchterlichen Wirkungen hervorzurufen im Falle eines Angriffes.
Drei Tage später hat der General Gruenther, der damalige Oberbefehlshaber der NATO in Europa, bei seiner Abschiedsparade in Frankfurt, exakt dem Sinne nach das Gleiche gesagt. Die Reaktion war mir dann erst später verständlich, weil es einfach das Grauen vor dem Unheimlichen ist, das in den Menschen lebt – das muß man verstehen. Aber an dieser Stelle, an diesem Tag, in diesem politischen Zusammenhang und im übrigen in Übereinstimmung mit der objektiven technischen Wirklichkeit war das Wort sachlich richtig. Ob man das dann aussprechen soll, ist eine andere Frage.

Gaus: Dieses war meine Frage. Sollte nicht gerade ein Verteidigungsminister, selbst oder gerade in einer Situation wie im Oktober 1956, besonders zurückhaltend sein?

Strauß: Ich glaube, Sie müssen hier den Zusammenhang doch schärfer verbinden mit dieser Äußerung. Die Gefahr war ja nicht, daß der Westen irgendeine Angriffshandlung begeht, um das kommunistische System anzugreifen, die Frage war: Ist der Westen stark genug, um angesichts des bereits erfolgten Einmarsches der Roten Armee in Ungarn oder des Wiedereinmarsches der Roten Armee in Ungarn die Sowjets von allen militärischen Aktionen entlang der NATO-Front abzuhalten? Da hatten die Leute eine echte, schwere, tiefe Sorge, eine unheimliche Furcht.

Gaus: Herr Strauß, zu Anfang Ihrer Ministerzeit galten Sie in der deutschen Presse als ein förderungswürdiges, höchst bemerkenswertes, erfreuliches Nachwuchstalent der deutschen Politik, fast schon über den Nachwuchs hinaus. Das hat sich ja nun doch teilweise sehr geändert. Warum?

Strauß: Ich habe vorhin schon einmal einen Satz gesagt, der dahin führt, wo Sie jetzt Ihre Frage stellen. Ich bin fest überzeugt, daß, wenn ich nicht Verteidigungsminister geworden wäre, das damalige wohlwollend freundliche Bild noch in großen Zügen und im Wesentlichen erhalten wäre, jedenfalls nicht so viele Rückschläge oder Einschränkungen erlitten hätte. Darf ich Ihnen mit einem humorvollen Vergleich sagen: Broom beschreibt in seinem Buch „Afrikanische Odyssee“ – höchst interessant zu lesen – eine Autofahrt allein durch Afrika; er sei einmal bei einem Stamm gewesen, von dem er freundlich aufgenommen worden sei, und er habe dort Corned beef gegessen. Auf der Büchse des Corned beef war ein schwarzer Negerkopf als Markenzeichen abgebildet. Von da an glaubten der Häuptling und die anderen, daß in diesem Corned beef schwarzes Menschenfleisch verarbeitet sei. Und von da an wurde er mit erheblichem Mißtrauen gesehen und gebeten, das Stammesgebiet zu verlassen. So ist es mir manchmal vorgekommen, wenn ich alles mögliche Zeug über mich gelesen oder gehört habe.

Gaus: Haben Sie selbst, wenn Sie es rückblickend anschauen, Fehler gemacht, die dazu beigetragen haben können?

Strauß: Aber sicher.

Gaus: Welche?

Strauß: Es fällt mir jetzt schwer, mit genauer Angabe von Ort, Zeit und Faktum oder Diktum das zu sagen. Aber zum Beispiel die Äußerung in Hollfeld hätte in demselben Sinn auch anders formuliert werden können. Aber ich hatte keine konzipierte Rede und habe auf einen Zuruf geantwortet. Sicherlich habe ich mich auch in der Auseinandersetzung um die Durchsetzung des Wehrbeitrages in der Öffentlichkeit so engagiert, wie es ein opportunistisch denkender Politiker nicht tun sollte.

Gaus: Herr Strauß, es ist in der letzten Zeit viel über wirkliche oder angebliche Stammeseigenheiten der Bayern geschrieben worden, über das Spezitum zum Beispiel. Neigen Sie dazu, schnell Duzfreundschaften zu schließen, und ist es nicht vielleicht wahr, daß Minister diese Neigung besser unterdrückten?

Strauß: Ich habe aus meiner Militärdienstzeit und aus der Gründungszeit der Partei eine Reihe von solchen – lassen Sie mich sagen Nominalduzfreundschaften. Ich glaube nicht, daß ich nach einer bestimmten Zeit noch sehr leicht dazu geneigt habe. Aber ich war andererseits der Meinung, was vielleicht taktisch falsch war, daß ich nicht, nachdem ich eine bestimmte Position erreicht hatte, meinen Kameraden, Freunden und den Personen meiner Umgebung von damals nunmehr das Du kündigen und ihnen mein Entschwinden in höhere Regionen damit demonstrieren sollte.

Gaus: Viele Leute haben sich gefragt, warum Sie den Passauer Zeitungsverleger Kapfinger nicht verklagt haben, von dem behauptet wurde, er habe im Zusammenhang mit der Fibag-Affäre bedenkliche Äußerungen über eine geschäftliche Zusammenarbeit zwischen Ihnen und ihm gemacht. Warum haben Sie Kapfinger nicht verklagt?

Strauß: Ach, ich habe ja vorhin das Wort »Spezi« noch zu erwähnen vergessen. Diese Interpretation des Wortes Spezi ist nämlich glatter Unsinn und ist eine der folkloristischen Darstellungen Bayerns, die das moderne Bayern und auch wir bestimmt nicht verdienen. Man hat ja auch von einer „Kumpanei“ gesprochen im Zusammenhang mit gewissen unterirdischen Verbindungen im Norden. Kumpel ist noch der harmlose Ausdruck dafür, Kumpanei ist der stärkere Ausdruck. Den habe nicht ich gebraucht, sondern, wie Sie wissen, der Kollege Rasner. Oder sind Sie der Meinung, daß das, was ja jüngst im selben Nachrichtenmagazin stand, nämlich die etwas dubiosen Zusammenhänge zwischen einem Bundesminister, einem Landesminister, der von ihnen innegehabten Firma und gewissen geschäftlichen Transaktionen, daß man das nicht auch als Spezitum in einem viel unangenehmeren Sinne bezeichnen könnte?

Gaus: Dies wäre alles nur ein Beweis, daß es nicht auf Bayern beschränkt ist.

Strauß: Erstens ist das ein Beweis, daß es nicht auf Bayern beschränkt ist, und zweitens ist es in dieser Form sowohl für das, was ich jetzt eben als Beispiel erwähnt habe, wie auch für andere aus Bayern zitierte Vorgänge einfach falsch. Das gehört zu den interessanten, sensationellen, klischeehaften Vorstellungen, die durch regelmäßige Wiederholungen nicht gescheiter werden, sondern eher noch dümmer.

Gaus: Warum haben Sie Kapfinger nicht verklagt?

Strauß: Mir ist von allen einschlägigen Seiten gesagt worden – von einem Staatsanwalt, einem Landgerichtsdirektor und den hohen Juristen meiner Fraktion –, daß ich den Nachweis, er habe eine solche Behauptung über mich erhoben, nicht führen kann. Er hat im übrigen in zwei Gerichtsverhandlungen und vor dem Untersuchungsausschuß, also unter Strafandrohung, klipp und klar festgestellt, er habe das nie über mich behauptet.

Gaus: Sie haben jedenfalls die Klage nicht eingereicht, da man Ihnen geraten hat – wenn ich Sie recht verstanden haben –, davon Abstand zu nehmen, weil der Nachweis schwierig sein wurde.

Strauß: Ich hätte meiner eigenen juristischen Auffassung folgen sollen, die natürlich nicht durch akademisches Studium fundiert ist, und Anzeige gegen Unbekannt erstatten sollen. Aber wenn Sie das irgendwie beunruhigt: Wer heute noch behauptet, daß ein solcher Zusammenhang zwischen Herrn Kapfinger und mir bestanden hätte, daß mir das angeboten worden sei, daß ich mich dafür interessiert hätte, den bin ich bereit, sofort hier, wenn Sie mir sagen, wer, wo, wann er das gesagt hat, zu verklagen; ich gehe gern vors Gericht. Dann wollen wir mal nach dem Wahrheitsbeweis sehen.
Gaus: Herr Strauß, haben Sie in der „Spiegel“ - Affäre irgendeinen Fehler gemacht?

Strauß: Auch das ist ein sehr komplexes Thema, über das man nicht in ein paar Worten sprechen kann. Aber das war eine Konstellation so verschiedenartiger Umstände und Faktoren, daß der Eindruck, den Sie eben geschildert haben, leicht entstehen konnte. Ich darf noch einmal sagen, auch wenn es tausendmal einfach durch multiplizierte Verbreitung der Unwahrheit gesagt worden ist: Ich habe mit der Einleitung des Verfahrens überhaupt nichts zu tun. Ich habe auch nie bestritten, daß ich Amtshilfe geleistet habe, aber damit meinen Staatssekretär beauftragt, und daß ich nur in dem einzigen Fall, als der Staatssekretär mich verständigte, persönlich eingegriffen habe. Aber das ganze Gerede von einem Racheakt gegen den „Spiegel“ oder von einer illegalen Handlungsweise ist absolut unwahr.

Gaus: Würden Sie sich im Wiederholungsfall noch einmal genauso verhalten?

Strauß: Ich würde in jedem Falle das tun, was ich für meine Pflicht halte.

Gaus: Herr Strauß, ein Punkt scheint mir doch unklar zu sein. Zwischen Ihren Bekundungen vor dem Parlament und dem amtlichen „Spiegel“ - Bericht der Bundesregierung bestehen Widersprüche. Wie erklären Sie sie?

Strauß: Widersprüche sind in der nachträglichen Darstellung eines so komplizierten Vorganges, bei dessen Wiedergabe auch bestimmte Tendenzen zugrunde liegen mögen, selbstverständlich. Ich darf Sie an ein ganz einfaches Beispiel erinnern. Lassen Sie von vier Zeugen einen verhältnismäßig einfachen Verkehrsunfall vor Gericht rekonstruieren, und Sie werden erleben, daß alle subjektiv die Wahrheit sagen und trotzdem gewisse Widersprüche aufweisen. Und das führt mich zu der Feststellung, daß man zwischen Unrichtigkeit und Lüge endlich einmal den richtigen Unterschied ziehen muß. Lüge heißt, in Kenntnis der Wahrheit – also bewußt – die Unwahrheit sagen. Etwas Unrichtiges kann jeder sagen, der nach dem jeweiligen Stand seiner Erkenntnis das wiedergibt, was er weiß, aber später in Einzelheiten etwas korrigieren muß.
Ich habe auch im Parlament das gesagt, was mir in diesem Augenblick – bei der nur kurzen Frist, die wir hatten – an Angaben zuverlässig erschien, und habe das nicht gesagt, was noch in Prüfung war. Im übrigen mache ich kein Hehl aus meiner Meinung. Ich habe damals dem Herrn Bundeskanzler gesagt, und auch andere haben es getan, man solle so lange keine Fragen beantworten, bis das Verfahren so oder so abgeschlossen ist. Denn jede dieser Fragen – und auch die ganze damit verbundene Propaganda, das ganze daraus kommende Echo – ist doch, auch wenn man es leugnet, ein Eingriff in ein schwebendes Verfahren gewesen, um eine bestimmte Optik zu erzeugen, bestimmte Wahrheiten zu verwischen und damit bestimmte Wirkungen zu erzielen.

Gaus: Warten wir es ab. Ich wiederhole noch einmal, ich will nicht mit Ihnen diskutieren. Könnte es sein, Herr Strauß, daß die Meinungsverschiedenheit in der Außenpolitik zwischen Ihnen und Außenminister Schröder bis zu einem gewissen Grad auch persönlich gefärbt ist wegen der Erfahrungen, die Sie meinen, mit Ihrem Kollegen Schröder während der „Spiegel“ - Affäre gemacht zu haben?

Strauß: In der Frage drücken Sie ja schon ein bestimmtes Motiv oder eine bestimmte Vermutung aus ...

Gaus: Ich unterstelle dieses Motiv ...

Strauß: Das gibt mir Anlaß, einmal die Hauptvermutung hier aus Anlaß unseres Interviews zu eliminieren. Noch nie haben Herr Schröder und ich irgendwo in Rivalität gelegen um ein bestimmtes Amt. Als er Innenminister wurde, war ich bestimmt nicht dafür vorgesehen, dieses Amt zu übernehmen. Als mir im Herbst 1961 das Außenministerium angeboten wurde, neben anderen, habe ich es von vornherein und auch ohne den leisesten Zweifel und ohne das leiseste Schwanken abgelehnt. Über das andere möchte ich aus verständlichen Gründen jetzt noch nicht sprechen.

Gaus: Nach der Affäre ist Ihnen in einem offenen Brief des Prälaten Freiberger geraten worden, vorübergehend Abschied von der Politik zu nehmen. Sie haben eine Frau, zwei Buben, eine Tochter – es hätte ganz verlockend sein können, ein bißchen mehr Zeit für die Familie zu haben. Warum haben Sie diesen Abschied, diesen vorübergehenden Abschied von der Politik nicht genommen?

Strauß: Ich empfinde diesen Mangel an Zeit für die Familie und für andere private Dinge im Laufe der Jahre immer drückender. Aber ich glaube, daß der Rat nur dann richtig angekommen wäre, wenn er mir von einem echten Freund in Gestalt eines privaten Briefes oder einer persönlichen Unterredung nahegelegt worden wäre. Ich halte einen offenen Brief, von dem man nicht einmal eine private Kopie bekommt, nicht für das geeignete Mittel – und obendrein von geistlicher Seite –, um einem Mitbruder, dem man Hilfe und Rat zuteil werden lassen will, den richtigen Weg zu weisen.

Gaus: Dies ist eine Art ...

Strauß: Außerdem muß ich noch einen Satz dazu sagen. Wäre ich diesem Rat im Zusammenhang mit diesem Brief gefolgt, dann wäre sicherlich auch der Eindruck entstanden, daß die Politiker das zu tun haben, was die Prälaten wünschen.

Gaus: Dies ist eine Antwort über die Form, in der die Anregung gegeben wurde, nicht, was die Anregung selbst angeht. Warum haben Sie nicht für sich ganz allein, ohne den freundlichen Rat im privaten Kreis, warum haben Sie nicht für sich ganz allein den Rückzug aus der Politik erwogen?

Strauß: Der freundschaftliche Rat ist so früh erfolgt, daß ich vorher gar nicht in der Lage gewesen wäre, eigene Gedanken darüber anzustellen. Aber ich darf schon in aller Deutlichkeit sagen, daß die Vorgänge von damals, so explosiv sie waren, diesen zwingenden Rückschluß nicht rechtfertigen. Da werden wir uns vielleicht einmal bei anderer Gelegenheit noch darüber unterhalten können.

Gaus: Erlauben Sie mir noch eine letzte Frage, Herr Strauß. Es wird viel von Ihrem politischen Comeback gesprochen, und die Antwort auf die Frage nach einer Ruhepause in der Politik, die Sie gegeben haben, spricht davon, daß die Politik Sie ja doch sehr gepackt hat und Sie nicht davon lassen können. Halten Sie es für denkbar, daß Sie nach der Bundestagswahl 1965 wieder in die Bundesregierung eintreten?

Strauß: Ob Sie es mir glauben oder nicht: Die Frage interessiert mich zur Zeit am allerwenigsten. Ich bin neun Jahre Bundesminister gewesen. Ich habe sechs Jahre das undankbarste Amt gehabt – dessen einzelne Phasen zu schildern, wird leider hier keine Möglichkeit mehr sein –, ich kenne Höhen und Tiefen, Glanz und Elend einer solchen Würde besser als die, die es leichter hatten, und besser als die, die es noch nicht erlebt haben und deshalb sehr danach streben.

Gaus: Welches wäre dann die wichtigste Frage, wenn dieses die Frage war, die Sie am allerwenigsten interessiert?

Strauß: Mich interessiert in erster Linie der Gang der deutschen Politik, soweit wir von Politik sprechen; darunter auch die Entscheidung des Jahres 1965, die ja wohl unter ganz anderen Parolen erfolgen wird als frühere Entscheidungen von ‘49, ‘53, ‘57, ‘61. Und ich für mich bin der Meinung, daß ich meinem privaten Bereich nunmehr, nachdem ich die – wie man sagt – schönsten Jahre des Lebens einer sehr undankbaren Aufgabe gewidmet habe, etwas pfleglicher gegenüberstehen muß und damit auch meiner Familie, als es in der Vergangenheit der Fall war.