Valerie Schönian © Johanna Wittig
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Ein Beitrag zur Debatte von Valerie Schönian - Vereinbarkeit von Beruf und Familie - eine westdeutsche Debatte?

In der DDR arbeiteten Frauen selbstverständlich in Vollzeit, auch mit Kind. Diese Selbstverständlichkeit wirkt bis heute nach und kann vor allem für uns junge ostdeutsche Frauen ein Privileg sein. Wir sind mit dem Besten aus zwei Welten aufgewachsen.

Am Tag nach dem Mauerfall war meine Mutter auf Arbeit. Genau wie meine Oma. Die eine, meine Mutter, schloss morgens den Kindergarten auf, die andere stand in der Kaufhalle, die an diesem Freitag, den 10. November 1989, so viel leerer war als sonst.

Neulich habe ich ein paar andere Frauen aus meiner Familie gefragt, was sie an diesem Tag taten, als die ganze Welt nach Deutschland blickte: meine Großtante war in der Schule, meine beiden Tanten im Krankenhaus, meine andere Oma in der Küche der LPG, der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft. Sie alle waren auf Arbeit.

Frauen in meiner Familie haben immer gearbeitet

Weil Frauen in meiner Familie eben immer gearbeitet haben, bis heute. Und das trotz Kindern. Meine Familie kommt aus Sachsen-Anhalt, ich bin in Magdeburg aufgewachsen. Eigentlich wollte ich für diesen Text nur ein paar Zahlen über arbeitende Frauen in Ostdeutschland heraussuchen, ohne damit zu rechnen noch großartig Neues zu erfahren. Aber dann habe ich mich stundenlang an Ost-West-Statistiken festgelesen. Weil ich erst richtig realisiert habe, wie sehr es mich offenbar prägt, als Frau in Ostdeutschland groß geworden zu sein - obwohl ich nur einige Tage vor der Wiedervereinigung geboren bin.

Wir waren alle in der Kita

Als die Mauer fiel, waren in der DDR mehr als 90 Prozent der Frauen erwerbstätig - der höchste Wert weltweit. Von den westdeutschen Frauen arbeitete nur jede zweite. Das hatte natürlich Auswirkungen auf das Denken. Fast drei von vier Frauen in Westdeutschland waren damals der Meinung, dass Kinder im Vorschulalter darunter leiden, wenn die Mutter arbeiten geht.

In Ostdeutschland sah das nicht einmal jede dritte so. Heute sind es auf beiden Seiten viel weniger, und doch gibt es in einigen Gesprächen, die ich heute führe, gefühlt manchmal so eine unausgesprochene Frage: Wie bringt sie das nur übers Herz, so kurz nach der Geburt wieder arbeiten zu gehen? So etwas habe ich, ganz ernsthaft, in meinem ganzen Leben noch nicht gedacht.
 
Alle meine Schulfreunde und ich sind in die Kita gegangen, viele vermutlich auch in die Krippe. Es mag ein paar Ausnahmen gegeben haben, von denen ich nichts weiß oder an die ich mich nicht erinnere. Geschadet hat es uns anderen jedenfalls nicht.

Die Zahl der Arbeitsstunden sagt nichts darüber, wie sehr eine Frau ihr Kind liebt

Als ich geboren wurde, blieb meine Mutter ein Jahr zu Hause, bei meinem Bruder ein paar Jahre später zwei Jahre. Ansonsten hat sie Vollzeit gearbeitet. Die Idee, mich deswegen vernachlässigt zu fühlen, hatte ich nicht.

Was ich in meiner Jugend auch nicht kannte: Angst davor, unverheiratet zu sein, wenn das erste Kind kommt. Oder Angst vor dem gesellschaftlichen Stigma, falls ich mal alleinerziehend sein sollte (vor den wirtschaftlichen Folgen natürlich schon). Eigentlich kenne ich solche Ängste bis heute nicht. Es ist eher eine rationale Befürchtung durch gelesene Erfahrungsberichte aber keine tatsächlich empfundene. So ist das auch mit dem Konzept der "Rabenmutter".

Aus der Zahl der Arbeitsstunden abzuleiten, wie sehr eine Frau ihr Kind liebt - das ist nichts, mit dem ich groß geworden bin. Deswegen bin ich auch heute recht frei von der Angst, dass mich jemand mal so nennen könnte. Neulich meinte eine in Westdeutschland aufgewachsene Freundin zu mir, als sie das Konzept der Hausfrau verteidigen wollte: "Ich finde es auch okay, erstmal für das Kind da zu sein."

Ich weiß natürlich, was sie meint. Und ich finde es völlig in Ordnung, wenn Männer oder Frauen sich entscheiden, für Hausarbeit oder Kind nicht erwerbstätig zu sein. Aber ich dachte auch: Nie würde mir so ein Satz über die Lippen kommen. Weil ich eben nicht finde, dass man nicht für sein Kind da ist, wenn es tagsüber in der Kita mit anderen Kindern spielt.

Eine westdeutsche Debatte?

Vielleicht ist die ganze Debatte darum, ob Beruf und Familie überhaupt vereinbar sind, eigentlich eine eher westdeutsche Debatte. Ich habe sie immer sehr interessiert verfolgt. Und ich halte sie, um das zu betonen, auch für absolut notwendig, vor allem aus feministischer Perspektive.

Aber emotional berührt hat sie mich bislang eigentlich kaum. Und das scheint nicht an mir zu liegen, sondern an den ostdeutschen Strukturen, in denen ich aufgewachsen bin: In einer repräsentativen Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2015 gaben 65 Prozent der befragten ostdeutschen Frauen an, dass sie keinen Rechtfertigungsdruck empfinden, wenn sie mit Kind Vollzeit arbeiten wollen. Fast der gleiche Anteil der westdeutschen Frauen - 69 Prozent - sagten das genaue Gegenteil. Dass sie genau diesen Druck empfinden. Das sind fast andere Welten.

Kinder stehen in meinem Kopf keinem Karriereziel im Weg

Im Westen ist es, anders als im Osten, oft noch immer eine Entweder-Oder-Entscheidung. Arbeit oder Kind. Dafür spricht auch, dass es in Westdeutschland häufiger Kinderlose gibt als in Ostdeutschland. Aber auch häufiger Mütter mit zwei oder mehr Kindern. Wenn man eine Entscheidung treffen muss, so scheint es, dann entscheidet man sich eben richtig. Ein einziges Kind, wie es in Ostdeutschland häufiger vorkommt, verträgt sich noch besser mit einem Job.

Wenn ich westdeutsche Debatte sage, meine ich nicht die Frage, wie man politisch umsetzt, dass beides möglich ist. Das betrifft uns alle. Ich meine, sich überhaupt die Frage zu stellen, ob das geht, Beruf und Familie. Ich habe nicht das Gefühl mich entscheiden zu müssen. Ich weiß, dass es schwer werden könnte Vollzeit zu arbeiten mit einem Kind und ich verlange, dass Politik und Arbeitgeber die Umsetzung dessen so leicht wie möglich machen. Aber aufgrund von dem einen auf das andere zu verzichten, ist eben keine Frage, die sich mir tatsächlich stellt. Kinder stehen in meinem Kopf keinem Karriereziel im Weg. 

Junge ostdeutsche Frauen haben das Beste aus beiden Welten

In Ostdeutschland wirkten die Normen und Strukturen DDR natürlich auch nach 1990 weiter. Und in der DDR wurden Kind und Beruf - bei allen Schwierigkeiten - selbstverständlich gemeinsam gelebt, auch von der Politik befördert. Zum Beispiel hatten schon 1950 Frauen das Recht, ihren Arbeitsplatz ohne Einwilligung des Mannes frei zu wählen -  was in der alten Bundesrepublik erst 1977 passierte.

Jahrelang habe ich Leuten entrüstet erzählt, weil ich es so in der Uni gelernt hatte: "In Deutschland mussten Frauen bis 1977 den Mann um Erlaubnis zum Arbeiten bitten!" Dabei stimmt das nicht. Es war nur in Westdeutschland so. Ich habe diesen feinen Unterschied selbst oft nicht präsent, ich ahne, dass es meinen Altersgenossen ähnlich geht. Die Situation im Osten ist im gesamtgesellschaftlichen Diskurs nur selten Thema, außer es geht um Probleme, weil der Diskurs - auch über den Osten - immer noch westdeutsch geprägt ist. Das ist es, was Ostdeutsche meinen, wenn sie sagen, sie werden nicht wahrgenommen.

Gleichberechtigt waren Frauen auch in der DDR nicht

Natürlich, gleichberechtigt waren Frauen auch in der DDR nicht. Denn sie hatten genauso wenig eine Wahl - sie durften nicht nur arbeiten, sie sollten. Meine Oma ist vier Wochen nach der Geburt ihrer Kinder wieder in die Kaufhalle gegangen, auf die Babys aufpassen musste ihre Mutter. Hinzu kommt, dass Frauen so viel arbeiteten wie Männer, sich aber trotzdem mehr um Kind und Haushalt kümmerten. So hatten sie zwei Jobs. Sie haben die Vereinbarkeit von Beruf und Familie gelebt, aber eine krasse Doppelbelastung war das trotzdem.

Im Vergleich zu Westdeutschland, hatten sie auf dem Arbeitsmarkt mehr Möglichkeiten, mehr Rechte. Aber sie hatten keine Räume sich zu fragen, ob das genug ist. In der Enge des DDR-Systems, in den Verpflichtungen und in der Mangelgesellschaft, konnte sich kaum emanzipatorisches Denken entfalten. Es wurde nicht großartig gefragt, ob die Frau am Sonntag die Ente braten muss, das war einfach so.

Vielleicht habe ich, als 1990 geborene ostdeutsche Frau, ein ziemliches Privileg

Meine Mutter sagte, als ich sie danach fragte, sie wäre nach meiner Geburt eigentlich gern noch Zuhause geblieben. Mindestens zwei Jahre, wie bei meinem Bruder später. Aber das war finanziell nicht möglich - und vor allem nicht gern gesehen. Der Mann ging ja auch arbeiten.

Diese verordnete Gleichstellung, die da noch aus der DDR nachwirkte, ist auch nichts, was ich mir zurückwünsche. Vielleicht habe ich, als 1990 geborene ostdeutsche Frau, ein ziemliches Privileg. Weil ich zumindest die Chance habe, das Beste aus beiden Systemen mitzunehmen; weil ich mit der Selbstverständlichkeit von arbeitenden Frauen aufgewachsen bin. Wo andere noch daran arbeiten, das, was sie gesellschaftlich wollen, in ihr antrainiertes Denken zu bekommen - da stellt sich für mich die Frage nicht, ob Arbeit und Kinder zusammen funktionieren.

Und gleichzeitig bin ich mit all den Freiheiten aufgewachsen, die uns die Wiedervereinigung brachte. Mit der Freiheit, mich auch gegen das Lebensmodell meiner Mutter und ihrer Mutter entscheiden zu können. Ich habe noch mehr Rechte als meine Mutter und meine Oma. Und gleichzeitig den Raum, mich zu fragen, ob mir das schon genug ist.

Die Autorin

Valerie Schönian ist 1990 in Gardelegen geboren und in Magdeburg aufgewachsen. In Berlin studierte sie Politikwissenschaft und Germanistik, in München absolvierte sie die Deutsche Journalistenschule. Von 2016 bis 2017 betrieb sie das Blog "Valerie und der Priester", wofür sie ein Jahr lang den Kaplan Franziskus von Boeselager begleitete.

Aus den Beobachtungen entstand das Buch "Halleluja: Wie ich versuchte, die katholische Kirche zu verstehen". Heute lebt die Journalistin in Berlin und schreibt als Autorin für das Leipziger Büro der Wochenzeitung "DIE ZEIT".
 
Hier schreibt sie als Autorin für das Ostfrauen-Projekt von rbb und MDR.