Kita-Pflicht
rbb
Bild: rbb

- Massive Sprachdefizite: Kitapflicht kein Tabu mehr?

Die Sprachkenntnisse Berliner Vorschulkinder fallen nach wie vor ziemlich karg aus - so karg, dass viele Kinder offensichtlich noch lange nicht reif sind für die Schule. Gleichzeitig schicken viele Eltern ihre Kinder nur unregelmäßig in die Kita.

Deshalb fordert nun die Bildungsstadträtin von Neukölln: "Kitapflicht darf kein Tabu sein, denn wir verlieren diese Kinder".

Soll der Kitabesuch für Kleinkinder in Berlin zur Pflicht werden? Eine neue Untersuchung zeigt, dass Berlins Vorschulkinder erhebliche Sprachdefizite haben. In manchen Bezirken Berlins sprechen demnach bis zu 80 Prozent der Kitakinder nur mangelhaft Deutsch.

Aber wie, fragte sich unsere Autorin Bettina Lehnert, sollen diese Kinder in der Schule zurecht kommen, wenn sie noch nicht mal in der Kita gelernt haben, mitzukommen? Die Schulstadträtin von Neukölln fordert jetzt Konsequenzen: Sie will die Kita-Pflicht für Kinder ab einem Jahr! Um deren Potentiale nicht zu verschenken.

Franziska Giffey, SPD
Schulstadträtin Neukölln
„Das ist katastrophal für eine Gesellschaft die Kinder und Jugendliche eigentlich unbedingt braucht, die qualifizierte Fachkräfte braucht, die vom demographischen Wandel betroffen ist und die es sich überhaupt nicht leisten kann, einen so großen Anteil von Kindern zu verlieren.“

Frühkindliche Förderung ist entscheidend, darüber sind sich alle einig. Trotzdem: jedes sechste Kitakind in Berlin hat Sprachdefizite. Davon alarmiert fordert Neuköllns Schulstadträtin Franziska Giffey eine Kitapflicht. Sie möchte, dass die Kinder möglichst früh in die Kita gehen, möglichst früh gefördert werden, möglichst schon ab einem Jahr.

Franziska Giffey, SPD
Schulstadträtin Neukölln
„Es geht um die Frage, wie gestaltet man ein verbindliches Angebot für frühkindliche Förderung, für Sprachförderung auch, das kann ja auch mit den Eltern gemeinsam sein, das kann ja auch eine Spielgruppe sein, wo die Mutter mit dabei ist, das kann ein, zwei Stunden am Tag sein, aber in einer Regelmäßigkeit in einer Kontinuität, die daherkommt eben mit der verbindlichen Frage, wie wird dieses Kind ab einem bestimmten Alter kontinuierlich gefördert.“

Gefördert wird bereits, aber offensichtlich zu spät. Zudem scheint auch ein jahrelanger Kitabesuch nicht zu garantieren, dass ein Kind die Sprache gut genug spricht, um in der Schule mitzukommen. Die Hälfte der Vier- bis Fünfjährigen mit großen sprachlichen Problemen war sogar zwei bis vier Jahre in einer Kita.

Diese Zahlen empören Özcan Mutlu, den bildungspolitischen Sprecher der Grünen. Die Kitapflicht ist für ihn daher keine Lösung:

Özcan Mutlu, Bündnis 90/Die Grünen
bildungspolitischer Sprecher
„Ich verstehe auch dieses Misstrauen gegenüber den Eltern nicht, ich denke, dass jedes Elternteil das beste für sein Kind will, dass sie wollen, dass das Kind deutsch spricht und dass das Kind eine bestmögliche Ausbildung bekommt. Und dabei muss man sie unterstützen, dafür muss man sie gewinnen die Eltern. Ich habe das Gefühl, dass mancherorts immer mit dem Finger auf die Eltern gezeigt wird oder mit dem Finger auf die Einrichtung gezeigt wird und vergessen wird, was man eigentlich als Politik für Rahmenbedingungen nicht geschaffen hat.“

So viel experimentiert wie am Berliner Kind wurde sonst kaum. Sprachlerntagebücher, Sprachtests, die Aufstockung finanzieller Mittel. Ein wirklicher Erfolg hingegen blieb bislang aus: Berlinweit sprechen 17 Prozent der Kinder und in einigen Bezirken sogar an die 80 Prozent so schlecht deutsch, dass sie gefördert werden müssen. Kitapflicht sieht man von Seiten des Senats trotzdem nicht als Lösung.

Sigrid Klebba
Staatssekretärin für Jugend und Familie

„Ich halte das für eine nicht reale Debatte, das heißt für eine verfassungsrechtlich nicht mögliche. Auch jetzt ab 1.8.2013 beginnt der Rechtsanspruch für Kinder von null bis drei Jahren. Berlin steht sowohl bei den Null- bis Dreijährigen in der Inanspruchnahme-Quote gut da.“

63 Prozent der Kleinsten besuchen eine Kita. Bei den Drei- bis Sechsjährigen sind es sogar 93 Prozent. Alles gut also? Den Zahlen nach ja, aber was ist mit der Qualität? In der Neuköllner Kita Mosaik sieht man vor allem, dass zu viel Verantwortung auf die Institution Kita abgewälzt wird – die Kita-Pflicht ziele genau in diese Richtung:

Martina Valjevcic
Leiterin Kita „Mosaik“
„Es wird das Rad nicht neu erfunden, wenn man sagt, die Kinder müssen in eine Kita. Wir haben die Plätze nicht und teilweise gibt es Kitas, die das Personal nicht haben, weil es ja dieses Erzieher-Manko gibt, und dann ist ja die Frage, ob eine Kita all das auffangen kann – und das ist ja der Hintergrund der Kitapflicht – was da an Defiziten vorhanden ist.“

Die Erziehungswissenschaftlerin Yvonne Anders sieht keine einfache Lösung. Auch sie ist hin- und hergerissen. Vor dem Hintergrund der aktuellen Forschung ist für sie eine mögliche Kitapflicht zwar eine Chance, auf der anderen Seite weist sie auf die tatsächlichen Gegebenheiten in Berlin hin:

Prof. Yvonne Anders
Erziehungswissenschaftlerin, FU Berlin
„Es gibt Studien, die gezeigt haben, dass gerade bildungsbenachteiligte Kinder oder Kinder mit Migrationshintergrund im besonderen Maße von einem frühen Eintritt profitieren. Auf der anderen Seite finde ich das zum jetzigen Zeitpunkt sehr schwierig zu diskutieren, gerade dann, wenn man weiß, dass in vielen Einrichtungen die Qualität nicht optimal ist.“

Franziska Giffey, SPD
Schulstadträtin Neukölln
„Es ist natürlich richtig, dass ganz eng verbunden ist mit der Forderung nach einer frühkindlichen Ausbildung und Sprachförderung auch das qualifizierte Personal ist und was wir eben auch in Neukölln erleben, dass Kitas zwar Plätze vielleicht sogar hätten, aber nicht genügend Personal haben. Und da ist eben die Frage, wie kann man in Zukunft den Beruf des Erziehers attraktiver machen, wie kann man ihn besser bezahlen, wie kann man die Ausbildung auch verbessern, das sind ganz wichtige Fragen.“

Wichtige Fragen, klar. Es bleiben eigentlich nur Fragen und es kommen zu wenige Antworten. Das Potenzial von Kindern, die viel mehr könnten, wird einfach weiter verschwendet. Und das ist bitter – und nicht nur, weil sich das ein so kinderarmes Land wie Deutschland nicht leisten kann – sondern vor allem für jedes einzelne Kind. 
 

Beitrag von Bettina Lehnert