Kinder auf dem Hof der Grundschule Rixdorf (Quelle: dpa)
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- Beherztes Engagement - Wie Integration klappen kann

An Kreuzbergs Schulen hat man vom ritualisierten Streit der Sarrazin-Gegner und Sarrazin-Befürworter die Nase voll. Denn alle wissen: Dieser Kampf hilft nicht wirklich weiter. Was weiter hilft: Die Wertschätzung der Kinder mit moslemischem Hintergrund und interkulturelle Kompetenz. Was dies in der Praxis heißt, lebt eine Lehrerin der Hunsrück-Schule am Schnittpunkt zwischen Neukölln und Kreuzberg vor. Und: So mancher Pädagoge in Deutschland könnte noch viel von ihr lernen. Doch die Kosten für die notwendige Aus- und Fortbildung von Lehrern scheut man in Politik und Verwaltung - und wundert sich dann über die steigende Zahl nicht integrierter Jugendlicher.

Die Integrationsdebatte: In einem Punkt sind sich alle einig - der Schlüssel für Integration ist Bildung und das heißt Deutsch lernen. Und zwar schon im Kindesalter. Doch wie man Migrantenkindern die deutsche Sprache in der Praxis beibringt, darüber macht man sich viel zu wenig Gedanken. Andrea Everwien zeigt eine Schule in Kreuzberg, die ein erfolgreiches Konzept zur Integration gefunden hat.

Amr ist 13 und besucht die 8. Klasse am Hermann-Hesse-Gymnasium in Kreuzberg. Vor vier Jahren hätte er das selbst nicht geglaubt. Damals hatte er große Probleme in der Schule.

2006 in einem Kreuzberger Cafe. Vor der KLARTEXT-Kamera erzählten damals Mitschüler von Amr, wie sie Angst vor ihm und einigen anderen arabischen und türkischen Kindern hatten.

Schüler (KLARTEXT 2006)
„Erst hat Amr, nee Abdul, mal aus gar keinem Grund gesagt: ‚Deutsche Kartoffel' zu Marlon. Dann hat Marlon gesagt: ‚Arabischer Reis'. Dann ist Abdul hingegangen und hat ihn ganz doll geschlagen ins Genick und in die Wirbelsäule und auf den Kopf."
Schüler (KLARTEXT 2006)
„Ich war auf dem Remisenhof und habe Fangen gespielt. Dann kam Abdul, Can und Amr und haben mir in den Bauch getreten."

Amr
„Ganz am Anfang habe ich gedacht: Mach sie alle fertig und sonst nichts."

Amr besuchte die Hunsrück-Grundschule, eine Innenstadtschule im sozialen Brennpunkt. 60 bis 70 Prozent der Schüler sprechen deutsch nicht als erste Sprache.

Auch Amr nicht. Er wurde aggressiv, weil er kein Deutsch sprach und sich nicht verständigen konnte. Denn auch mit den überwiegend türkischen Mitschülern hatte der Sohn einer ägyptischen Familie keine gemeinsame Sprache.

KLARTEXT
„Wo hast Du denn Deutsch gelernt?“
Amr
„An der Schule, hauptsächlich."
KLARTEXT
„Also, bevor Du in die Schule gegangen bist, wie war das da?"
Amr
„Nichts, gar nichts."
KLARTEXT
„Du hast kein Deutsch gesprochen?"
Amr
„Kein einziges Wort. Ganz am Anfang in der ersten Klasse habe ich Türkisch gelernt. Ich habe dann gedacht, das war die Sprache, die ich eigentlich lernen sollte."
KLARTEXT
„Nein. Du hast da Türkisch gelernt?"
Amr
„Ja genau. Und dann habe ich verstanden, dass ich Deutsch lernen sollte."
KLARTEXT
„Weil so viele türkische Kinder in der Klasse waren?"
Amr
„Genau. Da waren nur Türken."

Dass Amrs Geschichte dennoch eine Erfolgsgeschichte wurde - das hat er ihr zu verdanken: Friederike Terhechte. In der vierten Klasse wurde sie Amrs Lehrerin. Auch heute unterrichtet sie noch an der Hunsrück-Schule. In ihren Klassen sprechen die Kinder immer viele verschiedene Sprachen

Altan
„Ich spreche türkisch und deutsch."
Lukas
„Ich spreche deutsch, serbisch und englisch aus der Schule."
Gresa
„Ich spreche albanisch, weil das meine Muttersprache ist."
Özgür
„Ich spreche deutsch und auch türkisch, weil wir zuhause türkisch sprechen."
Leyla
„Ich heiße Leyla und spreche deutsch."

Das Credo der Lehrerin: Vielsprachigkeit ist ein Schatz - und nicht ein Problem. Alle müssen deutsch lernen und deutsch sprechen, das ist klar. Aber: Auch die Erstsprache der Kinder gehört in die Schule und muss geschätzt werden.

Friederike Terhechte, Lehrerin
„Die Strahlen in den Gesichtern, zu sehen, da ist was, was ich kann. Und dieses erstaunt Sich-Zurücklehnen der deutschen Kinder, zu sehen: Was ist denn das? Und das eine Emma einen Özgür fragen muss: Was heißt das denn?, ist ein Erlebnis, das sie sonst nicht kennt. Sie haben etwas, das die anderen nicht können. Und sind stolz darauf. Und die anderen haben erfahren, oh, das ist etwas, was ich nicht verstehen kann, und sind neugierig. Und versuchen sich austauschen. Eine bessere Form von sich Wertschätzen und sich Nähern - Was kann ich, was kann der andere? - kann es gar nicht geben. Und das erreiche ich mit zwei türkischen Wörtern."

Doch es geht nicht nur darum, dass die Kinder sich wohlfühlen. Die Lehrerin nutzt die verschiedenen Sprachkenntnisse ihrer Schüler zur vergleichenden Sprachbetrachtung.

Beispiel: Wie wird die Mehrzahl gebildet?

Die türkischen Kinder wissen: In ihrer Sprache hängt man ganz einfach „- lar" oder
„- ler" an das Stammwort. Im Englischen, das haben die Kinder schon in der Schule gelernt, gibt es ein Plural-s. Und im Deutschen? Da entdecken sie jetzt neun verschiedene Möglichkeiten, indem sie verschiedene deutsche Pluralwörter miteinander vergleichen.

Von solchem Deutschunterricht haben alle etwas: Die Zweitsprachler lernen richtiges Deutsch - und die Erstsprachler lernen, über ihre eigene Sprache nachzudenken. Das wird ihnen spätestens auf dem Gymnasium nutzen, wenn sie Latein lernen wollen.

Weil alle etwas lernen und niemand abgehängt wird, entsteht kein Frust, der wieder in Aggression umschlagen könnte. Für die erfahrene Lehrerin ist klar: Die Einbindung der Muttersprache führt zur Integration - und nicht ihr Verdrängen.

Friederike Terhechte, Lehrerin
„Wenn ich ein Kind immer in die Enge treibe, wenn ich alles, was es kann, nicht wertschätze, wenn ich alles, was es mitbringt, nicht wissen will - was lasse ich dem Kind denn dann, außer, dass es auf den Tisch haut oder sich zum Klassenclown entwickelt? Weil alles, was es sonst kann, interessiert ja nicht. Es kriegt ja keine Beachtung in dem, was es mitbringt. Also, diese Entwicklung von vermeintlich Kindern nicht deutscher Herkunftssprache, die so besonders problematisch sind, sind selbstgemachte Probleme zum großen Teil."

Gegenseitige Wertschätzung im Unterricht - das überträgt sich auch auf den Schulhof. Beim Yu-Gi-Oh-Spiel zählt deshalb, wer die besten Karten hat - und nicht, wer deutscher, türkischer oder albanischer Herkunft ist - oder wer am härtesten zuschlagen kann.

Altan
„Also, ich war früher auch so einer, der ist sofort ausgerastet und ist auf jemanden gesprungen. Naja, das musste ich mir abgewöhnen, weil das war schlimm für die anderen auch."

KLARTEXT
„Gibt es bei Euch Stress mit den türkischen oder arabischen Kindern?"
Gresa
„ Nein!"
KLARTEXT
„Überhaupt nicht?“
Gresa
„Nein!"

Mai-Lynn
„Ich spiel heute mit einer Türkin und einer Argentinierin, einem argentinischen Mädchen."
KLARTEXT
„Und die türkischen Jungs, nerven die manchmal rum?"
Mai-Lynn
„Naja, alle Jungs!!"

Diego
„Wegen den Ländern ist jetzt nix. Also, so wie ich das jetzt verstehe."
KLARTEXT
„Und du spielst auch mit den türkischen Jungs?“
Diego
„Ja, ja, das ist auch einer meiner besten Freunde, ein Türke.
KLARTEXT
„Wer ist das?“
Diego
„Özgür."

Jim
„Die türkischen Kinder finde ich auch ganz nett, viele von denen sind sogar meine Freunde. Ja."

Zurück zu Amr, dem Schläger von damals. Drei Jahre hatte er Unterricht bei Friederike Terhechte. Drei Jahre, die der Schlüssel zu seiner Integration wurden. Amrs großer Traum: Er will Staatsanwalt werden - in Deutschland.

So kann‘s also auch gehen! Und damit dies kein Einzelfall bleibt, ist es dringend nötig, dass die Politik mehr in die Aus-und Fortbildung von Lehrern investiert. Wer integrieren will, muss lernen, wie.



Autorin: Andrea Ewerwien