Polizistinen (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Jüdische Kinder unter Polizeischutz

Sie lebt mitten in Berlin und sie hat Angst, Angst vor arabisch-stämmigen Jugendlichen, die sie bedrohen, weil sie Jüdin ist. Mit dem israelisch-libanesischen Krieg haben die verbalen Attacken gegen Juden zugenommen. Die Anfeindungen gingen so weit, dass sich das Mädchen eine Zeit lang nur noch unter Polizeischutz zur Schule traute.

Die Bilder sieht man fast jeden Tag in den Nachrichten: Bilder von den Kämpfen im Libanon. Da fallen Bomben, Häuser werden zerstört, Menschen sterben. Das heißt dann „Nahost-Konflikt“. Vielleicht denken Sie da manchmal auch, das ist alles schlimm, aber zum Glück weit weg. Aber so weit weg ist das gar nicht. Mitten in Berlin sind die Folgen zu spüren. Ein 14jähriges Mädchen erlebt sie sogar hautnah. Ohne Polizeischutz konnte sie nicht mehr zur Schule gehen. Weil sie Jüdin ist. Mehr von Gabi Probst.

Anne (Name geändert)
„In meinem Leben bin ich ziemlich viel vorsichtiger geworden, weil ich habe Angst, meine Religion zu sagen, dann könnte mir irgendwas passieren. Ich binde es jetzt nicht jedem auf die Nase irgendwie: Yo, ich bin Jüdin.“

Wir nennen sie Anne und zeigen ihr Gesicht nicht – zu ihrer Sicherheit. Anne, ein 14jähriges Mädchen aus Berlin-Kreuzberg fühlt sich nur zu Hause richtig sicher. Hier macht sie keiner verantwortlich für Konflikte, die fernab am anderen Ende der Welt täglich Tote und Verletzte fordern.

Hier in Kreuzberg sind es Mädchen und Jungen aus ihrer Schule und Jugendliche aus ihrem Kiez, arabische Migrantenkinder, die sie, die Jüdin, verantwortlich machen. Einige haben sie zum Feindbild erklärt.

Anne (Name geändert)
„Die sehen nur irgendwie, dass Leute umgebracht werden und deswegen kriegen sie ein Hassgefühl auf mich, weil ich Jüdin bin und weil ich die einzige Jüdin bin in der Schule und die sie wahrscheinlich auch überhaupt kennen, weil hier in Kreuzberg gibt’s ja ziemlich wenig Juden.“

Es ist eine Schulkameradin, die einen zunächst persönlichen Streit mit unlauteren Mitteln austrägt. Sie beschimpft Anne als „Scheiß-Jüdin“ und schlägt sie. Annes Pflegemutter erinnert sich:

Marita L., Pflegemutter
„Sie kam aus der Schule und war so bedrückt und so. Und da habe ich sie gefragt, was los ist. Und dann hat sie erst so rum gedruckst, na ja und sie weiß nicht. Manche Kinder sind halt so gemein und so. Und dann habe ich halt immer ein bisschen mehr nachgebohrt. Und dann kam eben das raus, dass sie sie als Jüdin beschimpft hat.“

Die Mutter informiert den Schulleiter, richtet ein Notfallhandy ein. Die Täterin wird für zwei Tage von der Schule suspendiert. Doch schon am nächsten Tag steht vor dem Schultor eine Gruppe arabischer Jungen und wartet auf Anne.

Anne (Name geändert)
„Und dann hat ein Junge rein gerufen: ‚Wer ist denn hier die Jüdin?’ und dann habe ich schon ein bisschen Angst bekommen und mich nicht getraut, irgendwie was zu sagen und dann hat er angefangen zu schreien und richtig aggressiv gefragt, wer die Jüdin ist und dann habe ich gesagt, ich. Und dann meinte er: ,Soll ich dir was sagen, ich scheiß auf die Juden!’.“

Ihre Freundin fordert Anne auf, loszurennen. Die arabischen Jungen verfolgen sie.

Anne (Name geändert)
„Irgendwann sind wir ganz schnell gerannt und haben gehört, wie eine Flasche hinter uns aufkommt und total zersplittert. Und wir hatten Angst, dass wir etwas abkriegen. Dann sind wir noch schneller geworden und haben uns überlegt, wo rein und aus Panik sind wir dann in einen Hausflur rein gegangen.“

Sie verstecken sich, bis die Jungen erfolglos abziehen - mit der Drohung wieder zu kommen.

Vor ein paar Wochen erreicht die Eskalation vor dem Schultor ihren Höhepunkt. Und diesmal sind es zwei arabische Mädchen. Sie sind Anne körperlich überlegen und gehören nicht zur Schule. Sie fangen an zu schlagen und zu spucken. Anne flüchtet vor Angst in ein Restaurant um die Ecke.

Anne (Name geändert)
„Die haben gesagt, ich bin Jüdin und jetzt kriege ich eines auf die Fresse. Die haben mich einfach nur geschlagen. Die haben gesagt: ,Du dreckige Scheiße, geh dich aufhängen!’.“

Der Direktor der Schule steht dem zunächst hilflos gegenüber. Die Gewalt hatte sich aus dem Klassenraum vor das Schultor verlagert.

Schuldirektor
„Es waren natürlich auch in den Wochen vor den Herbstferien brisante Zeiten. Weltpolitisch gesehen, tobte der - ich weiß nicht der wievielte - Palästina-Krieg. Viele unserer Schüler und Schülerinnen haben betroffene Verwandte dort. Das erhöht die Spannung ganz enorm, aber…“
KLARTEXT
„Ist hier ein Nebenkriegsschauplatz entstanden?“
Schuldirektor
„Es drohte, es drohte.“

Anne und ihre Freundin werden eine Zeitlang von Zivilpolizisten begleitet zur Schule und nach Hause – zu ihrer Sicherheit. Auch alle anderen zuständigen Behörden schaltet die Schule ein, sucht überall Hilfe.

Polizisten, der zuständigen Wache intensivieren seitdem ihre Arbeit an der Schule genauso wie die Mitarbeiter des Jugendamtes. Vor ein paar Tagen gab es im Bezirksamt einen Runden Tisch.

Schuldirektor
„Bei der Installation desselben hat sich auch heraus gestellt, dass wir vielleicht die Spitze eines Eisberges sind, aber dass es Gewalt auch an Schulen in den letzten Wochen gegeben hat.“

Der Berliner Staatsschutz registrierte für dieses Jahr bislang 272 antisemitische Straftaten – wie viel davon von Deutschen mit Migrationshintergrund begangen worden sind, wird nicht extra erfasst. Die Polizei spricht von Einzelfällen, aber:

Christian Steiof, Staatsschutz Berlin
„Ich gehe ja mal davon aus, dass sich viele Fälle, die sich gerade vielleicht in diesem Bereich unter Kindern und Jugendlichen abspielen, nicht unbedingt auch zur Anzeige gelangen. Also wir können auch sehr schwer abschätzen, was für ein Dunkelfeld steckt denn hinter den Zahlen.“

Anne ist kein Einzelfall. Die Presse hat in den vergangenen zwei Jahren über ähnliche Vorfälle berichtet. Dass der Antisemitismus in den Schulen zunimmt, stellt auch die Jüdische Gemeinde zu Berlin fest.

Dr. Gideon Joffe, Jüdische Gemeinde zu Berlin
„Regelmäßig wird die Berliner Jüdische Gemeinde für die Vorkommnisse, die in der Tat sehr traurig sind, im Nahen Osten verantwortlich gemacht. Viele unserer Gemeindemitglieder sind sehr stark verunsichert. Man merkt das daran, dass immer weniger Juden bereit sind, sich auch öffentlich als Juden zu erkennen zu geben. Sie tragen beispielsweise keine Kippa mehr - die jüdische Kopfbedeckung - und wenn sie bereit sind eine zu tragen, dann versteckt unter einer Baseballmütze.“

Aycan Demirel ist türkischer Herkunft. Er sieht den zunehmenden Antisemitismus mit Sorge. Türkische Zeitschriften wie diese und arabische Fernsehsender streuen den Hass in die Migrantenfamilien. Immer mehr Häuserwände – so zeigt er uns auf Fotos - tragen eindeutige Botschaften.

Aycan Demirel, Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus
„Sie haben ein bestimmtes Bild von Juden, die mit verschiedenen Methoden, mit verschiedenen Mitteln in ihre Köpfe gelangt. Jude ist der Feind, Amerika ist der Feind, eine antiwestliche Grundhaltung. Und genau da drückt sich sozusagen ihre Feindschaft aus. Für Probleme, in denen sie stecken, werden sie verantwortlich gemacht.“

Deshalb hat er 2003 die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus mit gegründet. Die Initiative will diesem Hass etwas entgegensetzen. Gemeinsam besuchen Jugendliche aller Religionen in Kreuzberg Orte mit jüdischer Vergangenheit. Die Initiatoren gehen auch in Schulen und Jugendeinrichtungen und klären über antisemitische Verschwörungstheorien auf.

Auch Annes Schule zeigt Flagge, Lehrer sind jetzt oft am Schultor und haben ein wachsames Auge. Doch Anne ist längst noch nicht sicher. Alle Täter hat die Polizei noch nicht ermittelt. Und Anne versteht bis heute nicht ihre Motive.

Anne (Name geändert)
„Dass sie nicht verstehen irgendwie, dass ich Deutsche bin und keine Israelin bin. Und auch wenn ich in Israel leben würde und nichts mit dem Krieg zu tun haben würde – ich bin 14 Jahre alt. Und was soll ich denn bitte schön machen?“

Beitrag von Gabi Probst