Verschleierte Muslima, Bild: rbb

- Neue Sittenstrenge: Was junge Menschen an der Scharia reizt

Für den Verfassungsschutz ist Berlin eine Hochburg der sogenannten Salafisten, die Zahl der Anhänger steigt. Viele von ihnen sind Jugendliche, die sich zunehmend radikalisieren, darunter auch immer mehr Konvertiten. Warum unterwerfen sie sich all den strengen Regeln, was fasziniert sie an dieser Religion? Und warum fühlen sich viele Muslime von der Öffentlichkeit und den Medien gründlich missverstanden? Eine Spurensuche.

Anmoderation
Die Schreckensherrschaft der Terror-Miliz Islamischer Staat im Syrischen Grenzgebiet löst große Sorge aus. Bitter auch die Erkenntnis, dass es auch in Deutschland junge Muslime gibt, die sich radikalisieren und der Terrorgruppe anschließen, auch in Berlin. Doch obwohl dies nur Einzelfälle sind, wächst bei vielen Berlinern die Tendenz, Muslime generell in Sippenhaft zu nehmen. Die Stimmung ist aufgeladen, bisweilen muslimfeindlich. Das aber hat gefährliche Konsequenzen und treibt den Radikalen nur noch mehr Anhänger zu. Iris Marx und Gülten Akkoc haben sich auf Spurensuche begeben.

Wo sie auftauchen, sorgen sie für Schlagzeilen, wenn es um das Thema Religion, Islam und Terror geht – bärtige Männer und vollverschleierte Frauen, ebenso wie der ehemalige Rapper Deso Dogg. Einst gab er sich als cooler Außenseiter:

"Willkommen in meiner Welt voll Hass und Blut."

Heute propagiert er den blutigen und brutalen Kampf für den so genannten Gottesstaat.

"Ich rufe Euch zum Dschihad!"

Der Leiter des Berliner Verfassungsschutzes befürchtet, dass solche Figuren gerade auf Jugendliche anziehend wirken – Seelenfänger, die Gewaltbereitschaft wecken.

Bernd Palender
Verfassungsschutz Berlin

"Für uns wird es erst in dem Augenblick relevant, indem aus der religiösen Betätigung heraus eine politische Entwicklung genommen wird. Wir sehen im Wesentlichen das Risiko von Radikalisierungstendenzen hin bis zum Dschihad."

Berlin ist eine der Hochburgen radikaler Islamisten. Zunehmend fühlen sich einige auf der Straße unwohl, wenn sie nur jemanden mit Bart und Schleier sehen.

Umfrage
"Womit ich ein riesiges Problem habe, ist diese Verschleierung der Frauen. Das macht mir kolossale Angst. Wenn ich die Frauen sehe, wie die mit ihren Schlitzen hier rumlaufen. Glaube hin, glaube her."
"Ich halte das für eine Bedrohung. Da müsste unser Staat etwas unternehmen."
"Im Hintergrund hat man schon ein bisschen Angst, aber man muss realistisch sein und sagen: es gibt so viele Leute, die irgendeiner Religion nachgehen."

Vor allem junge Menschen fühlen sich immer mehr von der Religion des Islam angezogen, gerade in seiner strengsten Form. Warum ist das so? Wir machen uns auf Spurensuche auf der Straße, in Moscheen, in Internetforen. Wir finden keinen Zugang. Man reagiert misstrauisch. Viele sind wütend: auf den Westen, die Medien. Wir dürfen sie nur zitieren. Warum etwa tragen Frauen – selbst hier Geborene - freiwillig den Gesichtsschleier, den so genannten. Niqab?

Zitat
"Welchen Sinn bzw. Zweck erfüllt der Niqab für mich? (...). Das absolute Gefühl von Freiheit."

Der Schleier ist für sie kein Zeichen der Unterdrückung.

Zitat
"Ich nehme mir die Freiheit und nehme Fremden das Recht zu beurteilen, ob ich schön bin oder nicht."

Trotz und Protest schwingen mit:

Zitat
"Ich werde oft beschimpft, ich solle dahingehen, wo ich her komme. Wo ist das? Ich dachte oft: Jetzt erst recht!"

Seit 16 Jahren ist Taner Avci Streetworker in Reinickendorf, er arbeitet zurzeit mit 400 Jugendlichen zusammen.

Taner Avci
Streetworker, Gangway e.V.
"Natürlich habe ich auch mit Jugendlichen Kontakt, die einen radikaleren Islam ausleben wollen. Das heißt aber  nicht, dass sie gleich auf die Straße gehen und Menschen abschlachten und töten, sondern: Sie leben nach bestimmten Gesetzen, die sozusagen nach ihrer Auslegung so ausgelegt werden müssen."
KLARTEXT
"Ist das eine Flucht in eine Religion als Protest?"
Taner Avci
Streetworker, Gangway e.V.
"Zum Teil ja. Aber vielmehr ist das eine Suche nach der Identität. Die kriegen manche hier selbst mit deutschem Pass… da fühlen sich einige nicht als Deutsche. Und wenn sie sich als Deutsche fühlen, werden sie nicht als Deutsche akzeptiert."
KLARTEXT
"Kannst du das verstehen?"
Taner Avci
Streetworker, Gangway e.V.
"Ja! Natürlich kann ich das verstehen."

Sie suchen nach Identität und nach Orientierung, die sie in den vermeintlich festen Regeln des Islam finden.

Zitat
"Die Scharia ist eigentlich nicht schlimm. Sie gibt Dir praktische Alltagstipps zum Beispiel für Essen und Hygiene."

Esra Kücük von der Jungen Islamkonferenz überrascht nicht, dass sich Jugendliche von dieser strengen Auslegung des Islam angezogen fühlen – durchaus auch Deutsche.

Esra Kücük
Junge Islamkonferenz

"Menschen, die nach einem Halt suchen, je nachdem aus welchen sozialen oder familiären Verhältnissen sie kommen und dann einen vermeintlichen Halt in einer Gruppe, die einen ganz starken Identifikationspunkt kreiert, finden, dass das eben ein großer Anziehungspunkt ist für Menschen egal welcher Herkunft."

Doch die Grenzen zwischen gelebter Religion und einer bedenklichen Radikalisierung sind manchmal schwer zu ziehen. Vor allem, weil einige Jugendliche den Terror der ISIS rechtfertigen.

Zitat
"ISIS macht islamisch nichts falsch."

Es weckt diffuse Ängste vor dem Islam insgesamt. Schon ein normaler Bart wirkt verdächtig.  

Taner Avci
Streetworker, Gangway e.V.

"Ich werde tagtäglich auf meinen Bart angesprochen…"
KLARTEXT
"Ob du Salafist bist?"
Taner Avci
Streetworker, Gangway e.V.

"Ob ich Salafist bin, ob ich ein Bombenleger bin. Egal, ob das jetzt bei einem privaten Fußballspiel ist, ich spiele auch in einer Mannschaft Fußball, oder ob ich jetzt… Auch Menschen, die mich schon länger kennen, nur weil der Bart schwarz ist, wäre er blond, hätten sie das nicht gesagt. Und er meint, ja das stimmt."

So fühlen sich viele aus der muslimischen Gemeinde mit den Radikalen gleichgesetzt und damit ungerecht behandelt.

Saga Albahraany
Abiturientin

"Wenn ich so was seh', das sich jemand vollbedeckt mit Schleier und so und dann ein falsches Bild rüber bringt, das stört mich dann als Muslime. Die Muslime selber leiden darunter."

Weil sie plötzlich alle unter Generalverdacht stehen.

Bernd Palender
Verfassungsschutz Berlin

"Insofern ist das Thema hochproblematisch, weil aus einer kleinen Gruppe möglicherweise ein falsches Bild auf die Gesamtgruppe der Muslime in der Stadt bzw. der Bundesrepublik heraus entsteht und das wären Tendenzen, die keineswegs wünschenswert sind."

Abmoderation
Und da hilft nur Aufklärung: in den Schulen, den Vereinen, den Medien. Denn Ängste entstehen immer dann, wenn man das Fremde nicht versteht.

Beitrag von Gülten Akkoc und Iris Marx