Medikamente Schrank (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Selbstbedienung in der JVA Moabit? - I

Wer im Gefängnis sitzt, der hat auch Anspruch auf medizinische Versorgung. Auch in der Justizvollzugsanstalt Moabit. Benötigt ein Gefangener Medikamente, so werden diese von Bediensteten der Anstalt bestellt. Aber wie werden diese Bestellungen kontrolliert? Schließlich zahlt ja der Steuerzahler dafür. Nach KLARTEXT-Recherchen sind die Kontrollen wohl mangelhaft. Bedienstete der Anstalt haben über Jahre hinweg Medikamente bestellt, nicht für Gefangene, sondern für sich selbst. Die Staatsanwaltschaft ermittelt.

Bei Schnupfen und Husten lohnt sich ein Rezept vom Arzt ja schon fast gar nicht mehr. Man muss in der Apotheke soviel dazu zahlen, dass man die Erkältungstabletten besser gleich rezeptfrei kauft. Doch in Berlin soll es einen Ort geben, wo man alle Medikamente bekommt – absolut kostenlos und ganz ohne Rezept. Dieser Ort ist ausgerechnet ein Gefängnis: Die Justizvollzugsanstalt Moabit. Dort sollen seit Jahren Arzneimittel unterschlagen worden sei – im großen Stil. Nicht von den Häftlingen, sondern von den Gefängnis-Mitarbeitern… Mehr von Gaby Probst.

Dies ist kein erfundenes Drehbuch. Personen und Handlungen sind nicht zufällig ausgewählt.

Krankenschwester
„Wir sind ein Strafvollzug und sollen Verbrecher eigentlich bestrafen und bei uns laufen ganz offiziell Verbrechen ab.“

Die Beschuldigten sind nicht die hinter Gittern, sondern die, die sie auf den rechten Weg bringen sollen.

Krankenschwester
„Da werden Medikamente in nicht vorstellbarer Menge verschoben, veräußert, verhökert.“

Justizbeamte unter Verdacht. Der Staatsanwalt ermittelt.

Rückblende: Mitte August 2006: Justizvollzugsanstalt Moabit, Krankentrakt. Eine Krankenschwester und ein Pfleger berichten der Anstaltsleitung, dass Medikamente in großen Mengen illegal aus der Arztgeschäftsstelle II verschwinden. KLARTEXT hat Zeugen gesprochen, die zu ihrem Schutz anonym bleiben.

KLARTEXT
„Wie muss man sich das vorstellen? Tütenweise?“
Krankenschwester
„Tütenweise oder auch sich selber am Schrank bedient haben, selber an den Arzneimittelschrank gegangen sind und sich bedient haben. Oder eben auch Bestellungen aufgegeben haben.“

Ihr Vorwurf: Mitarbeiter vom medizinischen Dienst können sich ungefragt selbst bedienen und auch weitere Medikamente bei der Apotheke bestellen.

Darüber hinaus sollen auch Bedienstete aus dem so genannten „grauen Dienst“ – zum Beispiel Schließer - Medikamentenwünsche bei einigen von ihnen abgegeben haben. Und das soll über Jahre so gegangen sein. Ein Schließer erklärt es.

Justizvollzugsbeamter
„Es war bekannt, dass, wenn wir oder Angehörige sehr teure Medikamente brauchten, dass diese über die Leitung des Sprechzentrums bestellt werden konnten oder direkt beim Pflegedienstleiter. Diese wurden dann zur Ausgabe gebracht über die Schlüsselfächer. Dort wurden im Schlüsselraum dann braune Tüten abgegeben, worin sich diese Medikamente eben befanden.“

Angeblich konnte man alles bekommen – rezeptfreie und sogar rezeptpflichtige Präparate, vom Schnupfmittel bis zu Psychopharmaka.

Krankenschwester
„Auch das Aspirin, auch das Pflaster, auch ne Salbe, ne Waschlotion. Dass Bedienstete, die schon pensioniert sind, selbst in die Anstalt gekommen sind unter dem Deckmantel, sie würden Kollegen besuchen und mit vollen Tüten wieder nach hause gegangen sind, die mit Medikamenten usw. gefüllt waren.“

Angeblich auch Medikamente, die außerhalb des Vollzugs kaum noch verschrieben werden.

Krankenschwester
„Beim Vollzug ist es immer noch so, Geld spielt keine Rolle und wir werden auch nicht in den Regress genommen. Wir können auch teuere Medikamente bestellen.“

Sogar ein Fettabbau-Präparat für 123 Euro soll zum Beispiel für den Pflegedienstleiter mehrfach geordert worden sein. Er gilt als Mitorganisator.

Eine ins Visier geratene Führungskraft ist auch der Arztgeschäftsstellenleiter, der mit drei weiteren Kollegen der Untreue beschuldigt wird.

Doch trotz dieser konkreten Vorwürfe alarmiert die JVA-Leitung nicht sofort die Polizei. Stattdessen werden die Beschuldigten zunächst intern befragt. Zwei Beschuldigte werden in Urlaub geschickt, die übrigen bleiben im Dienst. Zeugen sind verunsichert.

Krankenschwester
„Der Nachtteil daran ist, dass natürlich eine Zeugenbeeinflussung stattfinden kann und Mobbing läuft. Ich finde es ganz schlimm, dass die Beschuldigten sofort in Kenntnis gesetzt wurden, dass gegen sie ausgesagt wurde und dass ihnen dadurch die Chance gegeben wurde, Beweismittel zur Seite zu schaffen.“

Erst vier Wochen später, Ende September 2006 wird endlich das Landeskriminalamt Berlin von der Anstaltsleitung informiert und kann ermitteln.

Krankenschwester
„Das LKA war ziemlich sauer darüber, weil damit die Arbeit zu ermitteln, sehr erschwert wurde. Bei meinem eigenen Verhör beim Landeskriminalamt wurde mir gesagt, dass dadurch Hausdurchsuchungen bei betroffenen Leuten verhindert wurden.“

Gern hätten wir den Anstaltsleiter dazu befragt. Doch er hat ein Interview wegen der laufenden Ermittlungen abgelehnt.

Vergangenen Freitag im Hause der Justizsenatorin. Sie hat Wind von unseren Recherchen bekommen, lädt zum Hintergrundgespräch ein und bestätigt, dass die Staatsanwaltschaft inzwischen ermittelt.

Doch ein Interview vor der Kamera gibt sie nicht. Ihr Staatssekretär Christoph Flügge soll antworten. Flügge weiß, wovon er spricht. Jahre zuvor war er auch Abteilungsleiter Vollzug beim Senat und hatte auch die Fachaufsicht über die JVA Moabit.

Für die Vergabe und Kontrolle der Medikamente sind nach seiner Aussage die Ärzte verantwortlich.

Christoph Flügge, Staatssekretär für Justiz
„Die verschreiben und aufgrund der Menge, die verschrieben worden ist und ausgegeben worden ist, kann man feststellen, was wieder beschafft werden muss. Dann werden Bestelllisten an die Apotheke geschickt, die der Arzt gegenzeichnet.“
KLARTEXT
„Jede Bestellliste muss vom Arzt gegengezeichnet werden?“
Christoph Flügge, Staatssekretär für Justiz
„Das ist die Regelung und die Praxis und so geschieht das auch.“

Unsere Zeugen haben jedoch über Jahre andere Erfahrungen gemacht.

Krankenschwester
"Und wenn jetzt aber noch etwas Besonderes ist – irgendwas Besonderes muss ich bestellen - kann ich jeder Zeit mit einem formlosen Blatt, Stempel von der Arztgeschäftsstelle rauf: An die Apotheke, benötigen dringend, wird rauf geschrieben, kann jedes x-beliebige Medikament in jeder Menge da rauf schreiben und faxe das. Und das kann jeder. Und da brauche ich auch nicht unbedingt eine Unterschrift vom Arzt. Das kann jeder aus dem weißen Dienst.“

Medikamentenbestellungen ohne Unterschrift der Ärzte? Wo waren da die Kontrollen? Übrigens: Die leitende Anstaltsärztin in Moabit ist die Ehefrau des Staatssekretärs.

Zwischen 300.000 und 400.000 Euro wurden durchschnittlich in den vergangenen vier Jahren in Moabit jährlich für Medikamente ausgegeben - Steuergelder, wie gesagt. Im Vergleich zu anderen JVAs, die wir befragt haben – hier das Beispiel Köln - ist der Verbrauch um ein Drittel bis doppelt so viel höher.

Krankenschwester
„Wenn ich von den bestellten Medikamenten und den tatsächlich verbrauchten Medikamenten für die Gefangenen ausgehe, schätze ich, dass etwa ein Drittel tatsächlich für die Gefangenen benötigt wurde und zwei Drittel für private Zwecke.“
KLARTEXT
„Und woher wissen Sie, dass die kein Gefangener bekommt dort?“
Krankenschwester
„Weil ich mit der Medikamentenverteilung beauftragt bin und ich den Überblick habe, welche Medikamente die Patienten erhalten.“

Im Abgeordnetenhaus fordern die Grünen jetzt Aufklärung über das System der Abrechnung im Strafvollzug.

Dirk Behrendt (Bündnis 90/Grüne), stellvertretender Fraktionsvorsitzender
„Wenn sich hier der Justizvollzug oder die Krankenstation als Selbstbedienungsladen darstellt, wo jeder mitnehmen kann, was er will, ist das natürlich ein Skandal, insbesondere vor dem Hintergrund, dass die Medikamentenbudget draußen, also für uns und unsereins immer weiter eingespart werden und hier vielfältig die wirklich Kranken kämpfen müssen, dass ihre Medikamente noch bezahlt werden.“