Gedenkstelle für ein getötetes Kind (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Überforderte Eltern – vernachlässigte Kinder

Der Hannoveraner Kriminologe Prof. Christian Pfeiffer hat die polizeiliche Kriminalstatistik ausgewertet: Erschreckendes Ergebnis - in den neuen Bundesländern sterben Kleinkinder viel häufiger durch Gewalteinflüsse oder Vernachlässigung als in den alten. Jüngstes Beispiel: Frankfurt Oder. Warum lassen ostdeutsche Eltern ihre Kinder häufiger im Stich - eine Spurensuche.

Drei tote Babys in Brandenburg innerhalb von zwei Wochen. Erstickt, ertränkt und verhungert. Mutmaßlich von den eigenen Müttern. Jeder Fall macht sprachlos, und die Häufung der Fälle entsetzt. Trotzdem kein Zufall, heißt es. Ostdeutschland sei für kleine Kinder lebensgefährlich. Mehr als der Westen. Warum? Hat Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Böhmer Recht, wenn er sagt, es habe etwas mit der DDR-Mentalität zu tun? Er trat damit einen Sturm der Entrüstung los. Jetzt ist Böhmer der Böse. Losgelöst von aller Aufgeregtheit haben Ute Barthel und Andrea Böll versucht, konkrete Antworten zu finden.

Florian ist tot. Der kleine Junge wurde nur ein halbes Jahr alt. Seine Eltern ließen ihn verhungern. Als das Baby starb, wog es weniger als bei seiner Geburt. Erschüttert fragen die Menschen in Frankfurt oder „Wie viele noch?“. Florians Leiden in diesem Mietshaus blieb unbemerkt. Dass die Eltern ihr Kind nicht versorgten, hat hier niemand mitbekommen. Nur einmal bat der Vater des Jungen Nachbarn um Hilfe. Es war der Weihnachtsabend und die Eltern hatten für ihren Sohn nichts zu essen.

Enrico Koren, Nachbar
„Er kam da mal ganz kurz vorbei und hat gefragt, ob sie uns aushelfen könnten weil die sind gerade von Dresden gekommen und sie haben keine Nahrung gekauft, ob wir ihnen aushelfen könnten. Gut, habe ich gesagt, da geben wir einmal Babynahrung ab, Nachtnahrung haben wir gehabt, gut haben wir gesagt, dann nehmt ihr die. Da haben wir geholfen, mehr auch nicht.“

Die Eltern lebten von Arbeitslosengeld, arm waren sie nicht. Als die Kriminalpolizei Beweise sichert, finden die Beamten mehrere Computer. Die Haustiere, ein Hund und mehrere Katzen, hatten ausreichend Futter.

Wieder einmal sind Nachbarn und Anwohner schockiert. Einige fordern sogar die „Todesstrafe für Kindermörder“. Die Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Mordes.

KLARTEXT
„Warum Mord?“
Michael Neff, Staatsanwaltschaft Frankfurt/Oder
„Aufgrund der Tatsache, dass das Kind über längere Zeit nicht ausreichend versorgt ist, gehen wir davon aus, dass ein Mordmerkmal vorliegt, das Mordmerkmal der niedrigen Beweggründe.“

Denn die Eltern überließen ihr Kind einem grausamen Hungertod. Doch warum musste Florian sterben? Warum starb die fünfjährige Lea-Sophie in Schwerin, und warum ertränkte eine junge Frau ihr Baby in Lübben kurz nach der Entbindung?

Darüber streiten Experten und Politiker in ganz Deutschland. Insbesondere seit bekannt wurde, dass im Osten des Landes mehr Kinder von ihren Eltern getötet werden als im Westen. Die Ursache dafür ist bislang unklar. Also wird spekuliert.

Der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt, Wolfgang Böhmer erntete Protest für seine Erklärung: Im Osten hätten die Frauen eine „leichtfertigere Einstellung zu werdendem Leben“. Als Gynäkologe in der DDR habe er die Erfahrung gemacht, dass Frauen oft ohne Not ihre Schwangerschaft abbrachen.

Wolfang Böhmer (CDU), Ministerpräsident Sachsen-Anhalt
„Das war so, dass junge Frauen ins Krankenhaus gekommen sind und gesagt haben: ich habe dieses Jahr einen Urlaubsplatz am Schwarzen Meer in Bulgarien bekommen und da möchte ich nicht schwanger sein, sondern ich will jetzt diese Schwangerschaft abbrechen lassen.“

Ausgelöst hat derartige Spekulationen eine Studie des Kriminologischen Forschungsinstitutes in Niedersachsen. Festgestellt und veröffentlicht hat die erhöhten Kindstötungen im Osten Prof. Christian Pfeiffer. Er hat erste Vermutungen, wo die Ursachen liegen könnten.

Christian Pfeiffer, Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen
„Wir hatten im Osten besonders viele Wegzüge, Zerfall sozialer Netzwerke. Es kann sein, dass dadurch die Isolation noch ausgeprägter ist von Frauen, die in solchen Notlagen leben, das wird die Untersuchung bringen. Und dann müssen wir auch noch prüfen, ob im Osten die Strukturen, was die Stützfaktoren angehen, die helfenden, präventiven Faktoren, das die schwächer da sind, dass die Behörden vielleicht nicht so gut zusammen arbeiten, dass es in den Jugendämtern häufiger Defizite gibt aber das sind vorläufig nur Fragezeichen, noch keine Antworten.“

In Frankfurt/Oder wurde die Mutter des kleinen Florian sogar vom Jugendamt betreut. Sie kam aus einer zerrütteten Familie, war in Heimen untergebracht. Doch ihre Betreuung endete mit ihrer Volljährigkeit im April 2006. Ein grober Fehler, meint Georg Ehrmann von der Deutschen Kinderhilfe.

Georg Ehrmann, Deutsche Kinderhilfe
„Das Kinder- und Jugendhilfegesetz schreibt eine Regelförderung bis 21 vor – warum hier ab 18 nicht weiter gefördert wurde, ist zu hinterfragen – das ist das eine aber wenn Frauen und junge Mädchen betreut werden müssen, weil sie traumatisiert sind, weil sie Gewalterfahrungen haben – hier waren mehrfach Heimunterbringungen angeordnet, hier gab es Kindeswohlgefährdung – wenn eine solche junge Frau Mutter wird, muss es zwingend sein, dass das Jugendamt dann nämlich die Stelle, die sich um Kindeswohl kümmert, um das des Neugeborenen, dass diese Stelle von Anfang an involviert ist. Das ist hier fahrlässig unterblieben und hier wird zu untersuchen sein, ob hier nicht persönliche Verantwortung zu ziehen sind.“

In Frankfurt/Oder war niemand der Verantwortlichen zu einem Interview mit Klartext bereit, weder das Jugendamt noch der Bürgermeister. Mündlich hieß es lapidar, die Betreuung sei im gegenseitigen Einverständnis beendet worden.

Georg Ehrmann, Deutsche Kinderhilfe
„Natürlich ist eine 18-Jährige froh, wenn das Jugendamt ihr nicht mehr auf der Pelle hängt, auf gut Deutsch gesagt, sie verselbstständigen sie, weil sie dann keine Kosten mehr auslösen, mit den dramatischen Folgen wie in diesem Fall, dass eine überforderte Mutter ihr Kind tötet.“

Dass es auch anders geht, zeigt die Geschichte von Stephanie Dummer aus Brandenburg an der Havel. Sie bekam mit 17 ihren Sohn Chris, heute ist er 5 Jahre alt. Der lebhafte Junge bringt die allein erziehende Mutter manchmal an ihre Grenzen. Und eines Tages verliert Stephanie die Nerven – und sie schlägt zu. Das macht ihr Angst und am nächsten Tag sucht sie sich Hilfe.

Stephanie Dummer, allein erziehende Mutter
„Du bist eben nicht mehr Herr deiner Sinne in dem Moment und der ist viel kleiner. Wer weiß, was ick das nächste Mal gemacht hätte … Es kann ja immer schlimmer werden, man weiß doch nie, wie man in so einem emotionalen Moment reagiert und wer weiß, vielleicht würde ich ihm das nächste Mal was anderes übern Kopf gezogen, nicht nur meine Hand. Und genau dem möchte man natürlich aus dem Wege gehen und dann sollte man nicht feige sein sonder sich eben irgendwo Hilfe holen.“

Seit einem halben Jahr kommen deshalb zwei Familienhelferinnen zu Stephanie und Chris. Sie beobachten die beiden in Alltagssituationen und geben der Mutter Ratschläge, wie sie Konfliktsituationen entschärfen kann, damit es nicht zum schlimmsten kommt.

Aber Stephanie ist eher eine Ausnahme wissen die Experten im Familienzentrum Potsdam.

Prof. Christiane Ludwig-Körner, Familienzentrum Potsdam
„Es gibt Untersuchungen, dass diejenigen, die am meisten Hilfe brauchen, genau das nicht können, das erleben die wie ein Schuldeingestehen: ich bin noch nicht mal in der Lage, das zu tun. Das heißt da müssten wir mehr einen Blick haben, wen könnte das betreffen, wer könnte vielleicht Hilfe brauchen, ohne dass er selbst hingeht.“

Und genau da haben die Ämter bei Florians Mutter versagt, sie konnte sich nicht selbst helfen. Dabei wäre Hilfe ganz nah gewesen, nur ein paar Schritte sind es von der Wohnung bis zum Gesundheitsamt.

Morgen wird sich der Landtag in Potsdam mit den Kindstötungen beschäftigen und wieder einmal nach Lösungsmöglichkeiten suchen.