Kreuz (Quelle: rbb)
(Quelle: rbb)

- Verdrängt - Schülermord in Potzlow

Seit der bestialischen Ermordung von Marinus Schöberl haben sich die Konflikte in Potzlow verschärft. Viele Erwachsene hüllen sich mehr und mehr in Schweigen und wollen in Ruhe gelassen werden. Mühsam versuchen Sozialarbeiter, den Jugendlichen Halt und Orientierung zu geben. Doch die Freunde des Verstorbenen lehnen alle Hilfsangebote ab und flüchten - von den eigenen Eltern vernachlässigt - in Alkohol und Drogen. Bedrückende Schicksale hinter ländlicher Idylle.

Das ist der Jugendklub der Gemeinden Potzlow-Strehlow, ein großes Haus mit vielen Möglichkeiten. Das ist Petra Freiberg, Sozialarbeiterin im Klub. Sie ist in Sorge, weil Jugendliche wegbleiben. Die Probleme sind groß.

Petra Freiberg, Sozialarbeiterin
“Probleme, die sich aus dem Verhalten der Jugendlichen her
ergeben, Missbrauch von Drogen, Alkohol. Also es ist sehr zugespitzt momentan.“


Madleen ist eine, die seit Monaten nicht mehr in den Klub gehen will.

Madleen
„Weil es Scheiße da ist.“
„Na, was ist denn Scheiße?“

„Alles.“


Peter Feike, der Bürgermeister der Gemeinde, ärgert sich, dass auch viele Eltern im Dorf gleichgültig sind.

Peter Feike, Bürgermeister von Potzlow
„Die Kinder vollziehen ja letztendlich nur das wieder, was sie irgendwo sehen, und ich denke mal, das liegt in erster Linie im Elternhaus."

Der Pfarrer der Gemeinde, Johannes Reimer meint, dass der Tod von Marinus Schöberl bislang unverarbeitet blieb. Deshalb sei es in Potzlow noch schwieriger geworden.

Johannes Reimer, Pfarrer der Gemeinde Potzlow
„Potzlow hat ein Problem damit und das hängt mit den Tabus zusammen, mit der Kommunikation, mit dem geringfügig ausgeprägten Beobachten, zum Teil auch mit einem Stück Selbstgefälligkeit, wir sind doch nicht irgendwer.“

Potzlow heute – die Geschichte nach den grausamen Schlagzeilen, eine traurige Geschichte hinter schönen Fassaden.

Am 18. November 2002 wird der brutale Mord an Marinus Schöberl bekannt.
Die Jugendlichen, die wie Madleen die Leiche ihres Freundes fanden, werden hier im Jugendklub aufgefangen. Madleen ist jeden Tag hier.

Während hier getrauert wird, kommen die Erwachsenen derweil zusammen, um sich zu empören, vor der Öffentlichkeit zu rechtfertigen. Potzlow sei ein normales Dorf, die Tat ein Einzelfall, Probleme gäbe es hier nicht.

"Und Gewalt im Dorf kennen wir hier auch nicht. Das zeugen die ganzen Feste, Feiern, das geht hier immer friedlich ab, Jahrzehnte schon."

Doch die Sozialarbeiterin Petra Freiberg appelliert schon damals:

Petra Freiberg, Sozialarbeiterin
„Es ist nicht alles schön, es ist nicht alles richtig im Dorf. Dieser Tod von diesem Jungen, der darf nicht umsonst gewesen sein. Wir haben eine Riesenchance gekriegt jetzt, eine Riesenchance, endlich zu begreifen, um was geht es. Auch wir, nicht nur der
Staat, wir selber sind gefragt, was wird aus unseren Kindern.“


Sie bleibt ungehört. Schweigen auch, als wir konkret Eltern ansprechen.
Die Monate vergehen. Monate, in denen die Medien über Hintergründe des Mordes
berichten. Doch in Potzlow wieder Schweigen. Dabei scheint der Mord nur der traurige Höhepunkt der Verwahrlosung zu sein. Viele Eltern schauen augenscheinlich zu, wie ihre
Kinder den Halt verlieren. Der Pfarrer fühlt sich machtlos.

Johannes Reimer, Pfarrer
“Und traurig, weil ich, weil die Kinder mir im Grunde Leid tun, die rumsitzen, rumhängen, rumlümmeln, wirklich nichts als rumspucken und
rumsumpfen.“


Die Sozialarbeiter tun dagegen, was sie können. Sie sorgen für psychologische Hilfe, bieten Beschäftigung, Gespräche und Projekte an. Gemeinsam planen sie die alte Kirche im Ortteil Strehlow wieder aufzubauen. Sie fertigen ein Modell dazu an. Im Mai fahren sie sogar zum Kirchentag nach Berlin und präsentieren ihre Arbeit.

Auch Madleen und ihre Freunde sind dabei. Doch es wird das letzte Mal sein. Es fällt auf, dass sie öfter Alkohol trinken, sich auch nicht mehr an Regeln halten. Als die Sozialarbeiter ihnen die Grenzen zeigen, kommt es zum Bruch. Das Projekt blieb bis heute nur ein Modell. Und weil Eltern nicht eingreifen, richten sie sich aus Trotz nur wenige Meter vom Jugendhaus ihren "Anti-Klub" in einer
alten Bruchbude ein. Dort treffen wir sie im Sommer und fragen nach ihren Argumenten:

Madleen
“Wenn jetzt jemand im Klub raucht, der noch keine 16 ist, der kriegt immer gleich Hausverbot.
“Und was ist eure Alternative jetzt?“


Matthias
„Hier sitzen.“

Sie trotzen und brauchen doch Hilfe. In den Gesprächen mit ihnen merken auch wir, dass sie den Tod ihres Freundes längst nicht verarbeitet haben.

Marie
"Ich meine, richtig drüber hinweg bin ich nicht, ich kann es auch nicht richtig vergessen, dann gibt es Momente, da vergesse ich das, da bin ich wieder, da...“
“Und dann gibt es andere Momente und wie sind die dann?“
„Ja. Na, wo Madleen und ich zum Schweinestall hoch gegangen sind und Blumen hochgebracht haben, da war es auch wieder total Scheiße.“


Madleen
“Meistens wird ja nicht mehr drüber gesprochen oder so.“
„Und das würdest du dir aber wünschen?“
„Inwiefern?
„Das drüber gesprochen wird.“


Zum Kinderfest im Jugendklub sehen wir Madleen wieder, sie scheint neugierig. Doch sie bleibt nicht. Die Mitarbeiter des Klubs schreiben an die Eltern einen Brief, bitten im Interesse ihrer Kinder, etwas gemeinsam gegen den Alkoholmissbrauch zu tun. Reagiert hat niemand darauf. Beängstigend, meint die Sozialarbeiterin, die in der Bude neben Bierflaschen auch mehrere solcher selbstgebauten Wasserpfeifen findet.

Petra Freiberg, Sozialarbeiterin
“Wenn so offensichtlich der Drogenmissbrauch schon ersichtlich ist für uns, so dass wir da rumgezogen sind und innerhalb von 14 Tagen fünf dieser Wasserpfeifen eingesammelt haben, dann sollte man doch irgendetwas tun.“

Etwas tun - dazu scheinen sich die meisten Potzlower inzwischen nicht mehr
durchzuringen. Zum einjährigen Todestag von Marinus luden Jugendklub und Kirche zu einer Gedenkfeier ein. Von 600 Einwohnern waren rund 30 da.

Peter Feike, Bürgermeister
“Man widmet sich den neuen Aufgaben, der Zukunft, den nächsten Dingen des Tages. Ich denke mal, es wird dann verdrängt einfach.“

Im November soll hier - auf Initiative des Pfarrers - ein Gedenkstein für Marinus errichtet werden. Die Gemeindevertretung hat dazu vor ein paar Tagen zu einer Einwohnerversammlung eingeladen. Von 600 Einwohnern kamen 16.

Der „Antiklub“ wurde aus Sicherheitsgründen vor vier Tagen abgerissen. Doch das Problem ist damit nicht aus der Welt. Es ist nachmittags um 15 Uhr, als wir Madleen mit einer Bierflasche vor den Trümmern antreffen.