- Straßenbahnen in Berlin - eine leise Gefahr?!

Tod auf Schienen: Jessica S. (39), Josephine P. (24), Torsten S. (46) - die Liste der Opfer ist lang, die bei Unfällen mit Straßenbahnen getötet wurden. Allein an einer Straße im Wedding starben seit 1997 bereits 15 Menschen. Die Bahn wiederholt nach jedem Vorfall gebetsmühlenartig, dass die Tram doch groß und gelb sei - man könne sie schlichtweg nicht übersehen. Gegen Unachtsamkeit sei man nicht gefeit. Dagegen gäbe es kein Mittel. Stimmt das? KLARTEXT fragt nach.

Gerade heute ist es wieder passiert: Ein zehnjähriger Junge ist unter eine Straßenbahn gekommen und hat schwere Kopfverletzungen erlitten. Berliner Straßenbahnen sind nicht nur schnell, sondern auch gefährlich leise, wie Iris Marx zeigt.

Josephine Preschel ist 24, als sie von einer Straßenbahn erfasst wird – und stirbt.

Christina Preschel, Angehörige eines Unfallopfers
„Meine Tochter kam vom Arzt in Hohenschönhausen und wollte eine Straßenbahn erreichen. Und da rannte sie offensichtlich über die Schienen und sah die herannahende um die Ecke fahrende Straßenbahn aus entgegengesetzter Richtung nicht und da ist es passiert.“

Christina Preschel hat ihre Tochter vor zwei Jahren an dieser Straßenbahnhaltestelle verloren. Sie sah die Bahn nicht und sie hat sie auch nicht gehört.

Immer wieder kommt es in Berlin zu Unfällen mit der Straßenbahn. Seit 2008 ist die Zahl gestiegen.

An diesem Schienenabschnitt zwischen Osloerstraße und Seestraße in Wedding ist es besonders auffällig: Seit 1997 starben hier 13 Menschen bei Unfällen mit der Tram. Die BVG sagt, dass sie schon viele Maßnahmen ergriffen habe, um solche Unfälle zu vermeiden. Gegen die Unachtsamkeit der Fußgänger könne man aber nichts tun.

Petra Reetz, Sprecherin BVG
„Ja, das Problem ist natürlich, dass es darum geht, und das haben wir natürlich auch getestet, dass es immer mit Unaufmerksamkeit zu tun hat. Ne Straßenbahn lauert ja nicht hinter einer Ecke und überfällt sie dann, sondern der Fußgänger, oder wir gehen auf die Schienen, wir begegnen der Straßenbahn.“

Tatsächlich: Wir beobachten, dass Fußgänger Ampeln ignorieren, gesicherte Übergänge nicht nutzen. Der Glaube an die eigene Wahrnehmung scheint sehr groß zu sein.

Passant
„Ich schaue mich ja immer um. Wenn eine Bahn kommt, ich glaube, ich würde das merken.“

Das würde er merken. Die Frage ist nur, ob noch rechtzeitig genug. Denn eines ist auffällig: Zur Hauptverkehrszeit ist die herannahende Bahn zwar zu sehen, aber erst sehr spät zu hören.

Passantin
„Man geht da rüber und dann, wenn die Autos vorbei sind, schaut man schon in die andere Richtung. Man hört sie so schlecht, die Bahn.“
Passant
„Die sind so leise, die Bahnen, die kommt so leise angerauscht. Und wie schnell träumt man? Wie oft läuft man selber bei Rot oder fährt bei Rot rüber und denkt: ‚Oh, was ist jetzt passiert?‘“

Prof. Markus Hecht leitet den Fachbereich Schienenfahrzeuge an der TU Berlin. Er bestätigt, dass die Bahn an verkehrsreichen Straßen leicht überhört werden kann.

KLARTEXT
„Wie ist es zu erklären, dass es so häufig zu Unfällen mit der Straßenbahn kommt?“
Prof. Markus Hecht, TU Berlin
„Die Straßenbahn ist leider nicht überall gleich laut. Auf der Seite, wo man es am wenigsten braucht, ist sie am lautesten. Und vorne ist sie nochmal 15 Dezibel leiser wie auf der Seite. Also, vorne, wo eigentlich aus Sicherheitsgründen wünschenswert wäre, dass sie lauter wäre, ist sie am leisesten.“

Eine Straßenbahn kann an der Seite tatsächlich bis zu 40 Mal lauter sein als vorn, so der Schienenexperte.

Wir haben uns mit einem Messgerät an die Kreuzung Osloerstraße/Wriezener Straße gestellt. Es sind keine wissenschaftlichen Messungen, die wir hier vornehmen. Dennoch: Man sieht dass der Lautstärkewert auf dem Gerät erst steigt, als die Bahn an uns vorbeifährt.

Prof. Hecht ist der daher der Meinung, dass man einige Unfälle, die aus Unachtsamkeit geschehen, vermeiden könnte, wenn etwa die Bahn zu Hauptverkehrszeiten ein akustisches Warnsignal einsetzen würde, dass für Anwohner wenig belastend ist.

Prof. Markus Hecht, TU Berlin
„Im Bereich der Akustik sind Töne bekannt, wir kennen das von Müllfahrzeugen, die rückwärts fahren, oder Gabelstapler. So einfach kann man es nicht übernehmen. Aber man sollte mit Tönen arbeiten, weil die Frequenzen eben auch noch Informationen bringen. Und dann kann man mit geringer Lautstärke ‘ne Information rüberbringen. Also, man kann zum Beispiel mitteilen, ob die Bahn beschleunigt oder abbremst, man kann die Geschwindigkeit mitteilen. Man muss natürlich den Ton richten, also, dass es vorne lauter wird, nicht auf der Seite. Das ist alles machbar.“

Wenn es so einfach ist, warum lässt die zuständige Behörde für Bahnsicherheit in dem Bereich nicht forschen?

Mathias Gille, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
„Es ist aus unserer Sicht keine Notwendigkeit, die Straßenbahn vorne lauter zu machen als sie jetzt schon ist. Die Straßenverkehrsordnung sieht auch vor, dass wir, was den Lärm betrifft, dort keine zusätzlichen Maßnahmen ergreifen, den zu erhöhen. Es besteht auch keine unbedingte Notwendigkeit. Denn Straßenbahnen sind in der Regel hörbar.“
KLARTEXT
„Welche Norm der Straßenverkehrsordnung zitieren Sie hier?“
Mathias Gille, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
„Auch die kann ich Ihnen selbstverständlich gerne nachliefern.“

Das kann er nicht. Denn eine solche Vorschrift existiert in der Straßenverkehrsordnung gar nicht. Der eigentliche Grund ist:

Matthias Gille, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung
„Weder die Unfallzahlen noch die Verkehrstoten, noch andere Zahlen, auch aus anderen Städten, deuten darauf hin, dass eine Notwendigkeit besteht, hier Schritte zu unternehmen.“

Auch die 13 Unfalltoten in Wedding bieten keinen Anlass für solche Forschungen. Das seien alles Einzelfälle, selbstverschuldet. Die Unfallopfer hätten schließlich rote Ampeln missachtet oder unaufmerksam die Gleise überquert.

KLARTEXT
„Wie gehen Sie mit diesem Vorurteil um?“
Christina Preschel, Angehörige eines Unfallopfers
„Ich bin eigentlich der Meinung, dass der einzelne ja von vornherein keine Chance gegen die Straßenbahn hat. Die ist schnell, die ist schwer, die kann kaum bremsen – insofern finde ich eigentlich, was an Sicherungsmaßnahmen gemacht wird im Verhältnis zur Gefahrenquelle, was diese Straßenbahn darstellt, unangemessen. Weil der Einzelne von vornherein eigentlich nur ein Opfer sein kann, wenn er einmal nicht aufmerksam gewesen ist.“

Die Flüster-Straßenbahnen sind ja nur ein Vorgeschmack auf das, was droht, wenn in Zukunft immer mehr Elektroautos durch die Straßen fahren, der Umwelt zuliebe. Auch sie sind eine lautlose Gefahr.



Autorin: Iris Marx