- Zug um Zug ins Chaos

Die hausgemachte Krise Teil II. Warum die S-Bahn auch den dritten Winter in Folge ein Desaster erlebt. Neue Details stellen die offiziellen Begründungen der Bahn für die zahlreichen Zugausfälle

Die schlechten Nachrichten zur Berliner S-Bahn reißen einfach nicht ab: Seit heute brauchen viele Züge noch länger als bisher. Der Grund: Die S-Bahn darf künftig bei Frost und Schnee nur noch mit höchstens 60 km/h pro Stunde fahren. Aus Sicherheitsgründen. Wird die S-Bahn jemals ihre Probleme wieder in den Griff kriegen? Norbert Siegmund und Ursel Sieber sind da skeptisch. Sie haben noch sehr gut die beruhigenden Worte des S-Bahn-Chefs aus dem vergangenen Herbst im Ohr.

Peter Buchner (7.10.2010), S-Bahn-Chef
„Wir können Ihnen zusagen, dass wir alles getan haben, was man in diesem Jahr tun konnte, und dass wir bestmöglich auf den Winter vorbereitet sind, und dass es deswegen besser laufen wird wie im letzten Jahr."

Ein vollmundiges Versprechen. Nur acht Wochen später: Erneut bricht bei der S-Bahn ein Winter-Chaos aus. Und zwar noch schlimmer als in den Vorjahren. Gedränge vor den wenigen Bahnen, die noch fahren. Denn es fallen so viele Züge aus, wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr.

Rechtfertigungsversuche vor dem Parlament - vom Chef des Mutterkonzerns persönlich:

Rüdiger Grube (10.1.2011), Bahnchef
„Der Winter bei der S-Bahn Berlin und übrigens bei der Deutschen Bahn insgesamt ist noch nie so umfangreich vorbereitet worden wie im Jahr 2010."

Angeblich gut vorbereitet wie nie zuvor - und trotzdem geschlossene Bahnhöfe und tote Strecken. Während ein Großteil der Flotte auf dem Abstellgleis steht, weil die S-Bahn mit der Instandhaltung nicht nachkommt. Deshalb massive Kritik vom Verkehrsverbund, der im Staatsauftrag den öffentlichen Nahverkehr überwacht.

Werner Franz, Verkehrsverbund Berlin Brandenburg
„Es sind viele vorbeugende Maßnahmen zu Beginn des Wintereinbruchs nicht erfolgt. Man hatte sie nicht durchgeführt und hat offensichtlich gehofft, dass der Winter dieses Jahr nicht kommt."

Hätte das Chaos also vermieden werden können? Wir sind in Grünau, in einem von vier Berliner Wartungs- und Instandhaltungswerken der S-Bahn. Über Jahre wurde in den Werken dramatisch Personal abgebaut, bis vor zwei Jahren der S-Bahn-Verkehr nahezu zusammenbrach. So müssen Anfang 2010 selbst interne Ermittler des Bahnkonzerns einräumen:

Zitat
„…strukturelle Defizite in nahezu allen Instandhaltungsbereichen…"

Das brisante Fazit der Ermittler:

Zitat
„Das Wartungs- und Instandhaltungssystem genügte damit nicht den Anforderungen an einen sicheren Eisenbahnbetrieb."

Wurden seither ausreichend Konsequenzen gezogen?

Beispiel 1: Personal

Erst jetzt erhalten wir die Erlaubnis, in einer der Werkstätten zu drehen. Auf den ersten Blick geht es hier gemächlich zu - trotz neuerlicher S-Bahn-Krise und Notfahrplan.

Obwohl die Bahn beteuert, wieder reichlich Personal eingestellt zu haben, sehen wir in den Hallen kaum 30 Monteure. Immerhin wird mittlerweile im Mehr-Schicht-Betrieb gearbeitet, auch von ehemaligen Leiharbeitern, die - wie diese Männer - seit Jahresanfang fest angestellt sind.

Mehr Personal würde hier kaum mehr schaffen, sagen Bahn-Verantwortliche. Doch alteingesessene Werkstattmitarbeiter sehen das anders. Aus Angst vor Repressalien wollen sie nicht erkannt werden.

Werkstattmitarbeiter (nachgesprochen)
„Die qualifizierten Fachleute, die aus dem Unternehmen geräumt wurden, kann man nicht so schnell ersetzen. Wir müssen die Neuen erst anlernen. Dadurch entsteht ein gewisser Stau in der Wartung. Ich glaube, dass man sich mit Neueinstellungen viel Zeit gelassen hat, weil man sich offenbar nicht im Klaren war, wie viel Personal erforderlich ist."

Das Krisenmanagement - halbherzig.

Beispiel 2: Investitionen

Die Werkstatt Friedrichsfelde, 2006 vom Bahnkonzern dicht gemacht. Nach dem Chaos im letzten Winter sollte das Werk eigentlich schnell wieder in Betrieb gehen.

Werner Franz, Verkehrsverbund Berlin Brandenburg
„Dann hat es viel zu lange gedauert, über ein halbes Jahr, bis tatsächlich dann die notwendigen Investitionen in Auftrag gegeben wurden. Und das führte dazu, dass dann viel zu spät begonnen wurde, begonnen werden konnte, mit den Wartungsarbeiten. Und deshalb hat man sehenden Auges die Risiken in Kauf genommen und das bedauere ich außerordentlich.“

Stattdessen flotte Sprüche vom S-Bahn-Chef noch im letzten Herbst.

Peter Buchner (7.10.2010), S-Bahn-Chef
„Wir haben uns bestmöglich auf den Winter vorbereitet. Wir haben uns vor allem intensiv um die Motoren gekümmert. Und deswegen sind wir uns sicher, dass es in diesem Winter besser laufen wird wie im letzten, egal wie kalt er wird."

Beispiel 3: Die Motoren

Es wurde kalt. Und es lief gar nicht besser. Es fielen so viele S-Bahn-Motoren aus, wie noch nie. Die Bahn schiebt´s auf die Konstruktion der Züge. Doch Werkstattmitarbeiter zweifeln.

Werkstattmitarbeiter (nachgesprochen)
„Merkwürdig ist schon, dass nur alte Fahrmotoren ausgefallen sind und keine der Neueren. Ich gehe davon aus, dass in den vergangenen Jahren die Aufarbeitung der Motoren und die Isolierung zum Schutz vor Feuchtigkeit nicht so erfolgt sind, wie es hätte sein müssen. Ansonsten hätten ja die neuen Motoren ebenfalls schlapp machen müssen.“

Laut Bahn-Management waren derart viele Motorpannen nicht vorhersehbar - so die Antwort auf ein Abmahnschreiben vom Land Berlin. In der Anlage allerdings: bahneigene Zahlen, die wohl das Gegenteil belegen.

So wurden im Dezember 236 defekte Motoren ausgetauscht. Nur: Schon im Winter zuvor war das Problem offensichtlich. Da waren auch schon ungewöhnlich viele Motoren ausgetauscht worden.

Werner Franz, Verkehrsverbund Berlin Brandenburg
„Es ist absehbar gewesen aus den Zahlen der Vorjahre, dass bei der mangelnden Vorsorge, die bei der S-Bahn gemacht worden ist, dass dann, wenn ein Winter kommt, diese Verschleißteile früher ausfallen. Und wenn man das absehen kann, dann muss man entsprechende Vorsorge treffen.“

Die jüngste Winter-Krise - also auch hausgemacht. Ob der nächste Winter wieder ein Chaos-Winter wird? Bahn-Chef Grube will sich da nicht festlegen.

Und die ausführlichen Hintergründe zu dem S-Bahn Desaster zeigt Ihnen ein Film unserer RBB-Reporter: „S-Bahn-Chaos ohne Ende", heute in einer Woche um 22:15 Uhr.



Autoren: Ursel Sieber und Norbert Siegmund