"Hansa Stavanger" -
Vier Monate lang war Frederik Euskirchen als 2. Offizier des deutschen Schiffs Hansa Stavanger Geisel von somalischen Piraten. Ein Martyrium, das vorher hätte beendet werden können. Aber dazu kam es nicht - obwohl ein Team der GSG 9 zusammen mit der deutschen Marine und der US Navy wochenlang vor Ort die Befreiung trainiert hatte. Die Befreiung war politisch gewollt und nach polizeilicher Einschätzung möglich - dennoch wurde sie einen Tag vorher abgebrochen. Der rbb-Journalist Michael Götschenberg hat über Monate recherchiert, wie es dazu kommen konnte. Und ist dabei auf ein geheimes Dokument gestoßen, das ein schlechtes Licht auf das Bundesverteidigungsministerium wirft.
Die "Hansa Stavanger" – vielleicht erinnern sie sich noch an dieses Schiff, dass das Unglück hatte von somalischen Piraten besetzt zu werden. Vier Monate waren es am Ende. Vier Monate, in denen die Besatzung um ihr Leben bangte, mehr als einmal eine Kalaschnikow auf sich gerichtet hatte, vier Monate waren ihre Familien und Angehörigen in ständige Sorge und ein Krisenstab in Deutschland zerbrach sich die Köpfe über die Lage an Bord. Offenbar ohne Erfolg. Am Ende war es der Reeder, der das Lösegeld zahlte. Dabei hätte die Besatzung viel früher befreit werden können. Aber eine einzige schicksalshafte Nachricht aus dem Verteidigungsministerium hat all das wohl verhindert. Über Militärs, die politische Vorgaben auf eigene Faust ignorierten, berichten Chris Humbs und Lisa Wandt.
2010 – Ein Überwachungsflugzeug der Deutschen Marine filmt einen Piratenangriff vor der Küste Somalias. Das Ziel: Lösegelderpressung. Jahrelang ein Erfolgsmodell.
Ein Jahr zuvor, 2009, der deutsche Frachter Hansa Stavanger, beladen mit Elektrogeräten, Kleidung und Lebensmitteln. Die somalischen Piraten beschießen das Schiff. Die Geschosse setzen einige Decks in Brand, dann nehmen sie die Crew als Geiseln. Hier ein Foto kurz vor dem Überfall.
Frederik Euskirchen ist der 2. Offizier an Bord. Zuständig für die Sicherheit.
Frederik Euskirchen, ehemalige Geisel
"Es waren insgesamt drei Schüsse mit der Panzerfaust, zwei haben getroffen. Die andere sollte in die Brücke reingehen, um uns letztendlich tot zu machen also das Schiff zu stoppen und die ist dann zum Glück über der Brücke explodiert."
Sein Schiff sollte eigentlich durch die Spezialeinheit der Bundespolizei, die GSG 9, befreit werden. Hier noch nie gezeigte Bilder des Trainings kurz vor dem Zugriff. Doch der Einsatz vor der afrikanischen Küste wurde plötzlich gestoppt. Nun kommen die Hintergründe des Abbruchs ans Licht durch die Buchrecherchen des rbb-Journalisten Michael Götschenberg zur GSG9. Der Reihe nach: Die Piraten, hier im Bild einer der Erpresser, verlangen für die damalige Zeit ein extrem hohes Lösegeld von 15 Millionen US-Dollar von der Reederei in Hamburg.
Frederik Euskirchen, ehemalige Geisel
"Da haben wir schon gedacht, dass es zu einer militärischen Intervention kommt. Ich konnte auch regelmäßig mit den Unterhändlern in Hamburg telefonieren und dort Informationen auch weitergeben wie viele Piraten sind an Bord? Wie geht es uns? Oder Wie viel Waffen sind an Bord?"
Die Lösegeldverhandlungen laufen schleppend. Daraufhin erhöhen die Piraten täglich den Druck, auch mit Scheinhinrichtungen.
Fredrik Euskirchen, ehemalige Geisel
"Er wollte mir erst in den Hinterkopf schießen. Und dann habe ich mich rumgedreht und hab gesagt, er soll mir vor den Kopf rein schießen."
Der Krisenstab sitzt im Auswärtigen Amt in Berlin. Am Tisch: das Auswärtige Amt, das Innen-, das Verteidigungs- und das Entwicklungsministerium sowie das Kanzleramt und drei Sicherheitsbehörden. Gemeinsam entscheiden sie, was zu tun ist.
Im Bundesinnenministerium hält Staatssekretär August Hanning die Fäden in der Hand. Hanning spricht mit seinem Chef, Innenminister Schäuble.
August Hanning, ehemaliger Staatssekretär Innenministerium
"Dann ist die Idee geboren worden, dass wir versuchen sollten, noch in diesem Fall deutlich zu machen, dass es sich nicht lohnt, deutsche Schiffe zu kapern, sondern dass Deutschland bereit ist, in solchen Fällen auch gegen Piraterie aktiv vorzugehen. Natürlich mit dem Ziel, künftige Piraterieakte zu verhindern."
Schäuble beauftragt die GSG 9, die Geiseln zu befreien. Es ist der größte Auslandseinsatz in der Geschichte der Eliteeinheit der Bundespolizei: 200 Mann werden entsandt. Die USA erklären sich bereit, die Deutschen mit einem Hubschrauberträger zu unterstützen, der USS Boxer. Erstmals erzählt der damalige Kommandeur der Elitetruppe Details zum Einsatz vor der Kamera.
Olaf Lindner, ehemaliger Kommandeur GSG 9
"Wir haben uns dann über viele Trainings und viele Übungen, die wir gemeinsam gemacht haben, bei Tag und Nacht immer weiter auch dem Ziel angenähert. Und wir waren am Ende alle, die Führungskräfte der US Navy, die Führungskräfte der Marine vor Ort und auch wir mit anderen Bundes Sicherheitsbehörden einig, dass wir erfolgreich sein werden."
Etwa 20 Tage dauert die Vorbereitung. Jedes Detail wird an Bord der USS Boxer durchgespielt. Doch dann klingelt kurz vor der Stürmung des Frachters das Telefon des damaligen Bundesverteidigungsministers Franz Josef Jung. Ein Berater von Obama will ihn sprechen.
Franz Josef Jung (CDU), ehem. Minister der Verteidigung
"Und dann hat mich, ja, einen Tag, meine ich, vor der beginnenden Operation, hat mich der damalige Sicherheitsberater vom Präsidenten angerufen. Und er hat mir gesagt, er rät uns dringend ab, diese Operation durchzuführen."
Die Amerikaner ziehen ihre Unterstützung zurück. Der Einsatz sei zu riskant. Doch wie kommt es zu dieser Kehrtwende? Und warum landet der Anruf aus dem Weißen Haus im Verteidigungsministerium, während doch das Innenministerium die Operationsleitung innehatte?
Das US-Kommando auf der Boxer erklärt den Deutschen, warum die Befreiungsaktion gestoppt wurde. Das Verteidigungsministerium schickte auf eigene Faust eine Risikobewertung an das Pentagon - ohne Kenntnis des Krisenstabs. Dieser wird hintergangen.
Kontraste liegt nun das als "geheim" deklarierte Dokument vor. Darin heißt es:
"Das Risiko, das mit einer Durchführung der Operation verbunden ist, wird mit hoch bewertet."
Und: "Die möglichen Auswirkungen einer Geiselbefreiung auf die Lage vor Ort … ist derzeit unwägbar."
August Hanning, ehemaliger Staatssekretär im Innenministerium
"Wir haben nur von amerikanischer Seite gehört, dass es diese Risikobewertung gegeben hat, die abwich von unserer gemeinsamen vereinbarten Risikobewertung. Wenn es Meinungsverschiedenheiten auf deutscher Seite gibt, warum sollen sich die Amerikaner dann in eine solche Operation reinbegeben, das habe ich versanden und das hat der Schäuble auch verstanden."
Olaf Lindner, ehemaliger Kommandeur GSG 9
"Dass dann von der Seite ein Einsatz aus einem anderen Bereich sozusagen torpediert wird, das hat mich damals sehr betroffen gemacht und ich hätte es auch so nicht für möglich gehalten."
Die Einsatzvorbereitungen werden beendet, alles eingepackt, die GSG 9 an Land gebracht. Fassungslosigkeit machte sich breit.
Olaf Lindner, ehemaliger Kommandeur GSG 9
"Ich habe bei den Kräften der deutschen Marine und auch bei unseren US-amerikanischen Partnern Menschen gesehen, die nach der Verkündung der Entscheidung geweint haben und es nicht fassen konnten, dass auf diese Art und Weise, der Einsatz abgeblasen worden ist. Denn alle die, mit denen ich gesprochen habe, waren gemeinsam fest davon überzeugt, dass dieser Einsatz hätte erfolgreich zu Ende geführt werden können."
Eine demokratisch-legitimierte Entscheidung wurde sabotiert. Offenbar am Verteidigungsminister vorbei – durch Mitarbeiter.
Franz Josef Jung (CDU), ehem. Minister der Verteidigung
"Also gut, wissen Sie, ich habe insgesamt 360.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehabt, dass das Haus dort unabhängig Risikobewertung vielleicht durchgeführt hat. Das schließe ich hier nicht aus."
Klar ist: Die Bewertung des Risikos war Sache der GSG 9. Ein mögliches Motiv für den Vorstoß aus dem Verteidigungsministerium: Man gönnte der GSG 9 keinen Erfolg. Die sehr ähnliche Elitetruppe der Bundeswehr, das Kommando Spezialkräfte, kurz KSK, käme für solche Einsätze auch in Frage. Konkurrenzdenken? Also eine Intrige?
August Hanning, ehemaliger Staatssekretär im Innenministerium
"Es gab eben auch immer gewisse Eifersüchteleien im Hintergrund und darüber kann man dann nur spekulieren, welche Motive letztlich entscheidend waren … Ich glaube, da haben sich möglicherweise Apparate verselbständigt. Die haben dann ihre eigenen Interessenlagen da gesehen."
Aufgedeckt hat all das rbb-Journalist Michael Götschenberg im Rahmen seiner Buchrecherche. Er fand heraus, welche Mitarbeiter im Verteidigungsministerium mit der Risikobewertung zu tun hatten. Dort wurde dementiert.
Michael Götschenberg, Buchautor
"Die Beamten im Verteidigungsministerium, mit denen ich gesprochen habe, leugnen, dass eine eigene Risikobewertung erstellt wurde. Aber sie liegt vor, die Amerikaner haben sie bekommen. Insofern ist für mich klar, dass da etwas vertuscht wird. Für mich deutet alles darauf hin, dass der Einsatz der GSG 9 verhindert werden sollte. Bemerkenswert ist, dass das für die Beteiligten keine Konsequenzen hatte."
Für Kontraste waren die Beteiligten nicht zu sprechen.
Für die Geiseln ging die Tortur weiter. Einigen drohte der Verkauf an religiöse Fanatiker. Sie sollten geköpft werden. Erst nach vier Monaten harter Verhandlungen lässt der Hamburger Reeder 2,75 Millionen US-Dollar Lösegeld über dem Schiff abwerfen. Die Geiseln kommen frei. Die verantwortlichen Piraten machten danach unbehelligt mit ihren Geiselnahmen weiter.
Beitrag von Chris Humbs und Lisa Wandt