Prügel und Willkür -
Ralf Weber leidet bis heute unter den körperlichen und psychischen Folgen der DDR-Willkür: Er durchlief neun Kinder- und Spezialkinderheime, wo er gequält und vernachlässigt wurde. Als Jugendlicher musste er in einem der berüchtigten Jugendwerkhöfe schuften, wo Heranwachsende zu sogenannten „sozialistischen Persönlichkeiten“ umerzogen werden sollten. Trotz allem verweigern ihm die Behörden bis heute eine angemessene Entschädigung. Auch über 30 Jahre nach dem Ende der DDR kämpft er um die Anerkennung seiner gesundheitlichen Schäden und einen Rentenausgleich für die Zwangsarbeit. Wie er müssen sich tausende Opfer mit den Behörden regelrechte Abwehrschlachten liefern. Seit Jahren verspricht die Politik Besserung, doch auch die neue Bundesregierung sieht nach Kontraste-Recherchen keinen Handlungsbedarf.
Anmoderation: Die "Sozialistische Persönlichkeit" sie war in der DDR ein allgegenwärtiges Ideal: durchtrainiert, aufrecht, arbeitswillig - so marschierten diese "Persönlichkeiten" über Häuserwände und durch die Schulbücher. Wer nicht so war - oder auch nur im Verdacht stand, faul, verzogen, frech zu sein, dem erging es schlecht. Und die, denen es am übelsten erging, kamen in die Jugendwerkhöfe der DDR. "Kinderknäste" wurden sie auch genannt. Aber eigentlich war es dort schlimmer als im Knast. Über wenig dort wurde Buch geführt, kaum eine Grausamkeit dokumentiert. Und so bleibt bis heute nur das Wort, die Erinnerungen der Kinder von damals. Von denen bis heute viele nicht entschädigt wurden. Tom Fugmann berichtet.
In den Arrestzellen im Keller des Geschlossenen Jugendwerkhofs Torgau ging jede Hoffnung verloren. Tagelang war Ralf Weber hier eingesperrt. Mit Einzelhaft in fensterlosen Räumen sollte er gebrochen werden.
Ralf Weber
"Hier ist ein halber Meter Ziegel vorgebaut, hier geht kein Schrei nach draußen. Nichts. Das heißt also, wer hier runterkommt, wird erbarmungslos verprügelt. Das wusste jeder Torgauer, der den Befehl kriegt, vor der Tür zum Fuchsbau sich aufzustellen, um in Isolationshaft gebracht zu werden, was hier passiert. Irgendwann überfallmäßig kommen sie dann runter, dann geht das ganz einfach: Ich muss hier in der Zelle stehen und dann fallen sie über mich her. Sie schlagen einfach zu mit der Faust, mit einem Knüppel."
Vor 50 Jahren war Ralf Weber im berüchtigten Jugendwerkhof Torgau eingesperrt. In Jugendwerkhöfen der DDR sollten Heranwachsende mit brutaler Erziehung, Schlägen und harter Arbeit zu sogenannten "sozialistischen Persönlichkeiten" umerzogen werden.
Film "Notwendige Lehrjahre", DDR 1968
"Durch die Folgen des Krieges oder mangelnde Liebe der Eltern verroht oder durch zu viel oder falsche Liebe verwöhnt, müssen sie jetzt im Jugendwerkhof lernen, diszipliniert und ordentlich zu sein."
Bereits im Alter von sechs Jahren kam Ralf Weber ins Heim. Die DDR-Jugendhilfe unterstellte, seine alleinerziehende Mutter wäre mit seiner Erziehung überfordert.
Der traumatisierte Junge durchläuft neun Kinder- und Spezialkinderheime und erlebt überall Prügel und Willkür. 16 Jahre alt ist er, als er in Torgau ankommt.
Ralf Weber
"Ich stehe hier und die Bilder sind da, wie ich vorne in das Tor reinkomme. Dieser Gesichtsausdruck ist schlagartig einfach gewichen, als ich hier unten die ersten Gitter sehe und ich mir bewusst werde, dass ich in einer Einrichtung bin, in der zum Schluss nicht menschliche Werte, kein Barmen und kein Betteln hilft, sondern dass ich hier in einer Einrichtung bin, wo jeden Tag es ums brutale Überleben geht."
Schon 2010 hatte Kontraste Ralf Weber mit der Kamera begleitet. Damals in einem anderen ehemaligen Spezialkinderheim, in das er mit zwölf Jahren eingesperrt worden war.
Ralf Weber, 8.4.2010
"Es ist gut, dass wir hierhergekommen sind, weil es ein Stück meines Lebens ist, was bis heute nicht geklärt ist, warum und weswegen, man Kindern so was angetan hat."
Ralf Weber ist heute 66 Jahre alt und kämpft noch immer um Wiedergutmachung für das, was ihm angetan wurde. Er ist Erwerbsunfähigkeitsrentner und leidet bis heute unter den psychischen und körperlichen Folgen seiner Heimaufenthalte. Als zehnjähriger Junge musste er täglich vier Stunden in der LPG schuften. Mit 14 arbeitete er Akkord in der Stahlproduktion. Er wird verheizt, in der Umerziehung durch schwerste körperliche Arbeit. Davon und von den jahrelangen Misshandlungen sind seine Wirbelsäule deformiert und seine Bandscheiben beschädigt.
Seit inzwischen 28 Jahren führt er einen aufwendigen und vergeblichen Abnutzungskampf mit Versorgungsämtern und Sozialgerichten. Es geht um die Anerkennung seiner gesundheitlichen Folgeschäden und einen Rentenausgleich für die fünfjährige Zwangsarbeit. Darauf habe er als anerkanntes SED-Opfer einen gesetzlichen Anspruch, meint Weber. Trotzdem muss er Jahrzehnte später immer noch detailliert mit medizinischen Gutachten nachweisen, dass seine gesundheitlichen Probleme tatsächlich auf die Verfolgung in der DDR zurückzuführen sind.
Das Landessozialgericht Dresden aber entschied, die Schädigungen der Wirbelsäule seien nicht "auf Haft- bzw. Heimaufenthalte zurückzuführen". Auch einen "schädigungsbedingten Minderverdienst" vermag das Gericht nicht zu erkennen. Für Ralf Weber ein Unding.
Ralf Weber
"Ich habe bestimmt 20 gerichtsfeste Gutachten, die belegen, dass meine Wirbelsäule in allen drei Ebenen bandscheibenmäßig kaputt ist. Das heißt also Funktionsstörung, massive Funktionsstörungen habe. Das geht so weit, dass ich teilweise, also wenn es entzündungsmäßig kommt, liege ich im Bett und komme nicht mehr hoch. Die Hände sind kaputt. Ich nehme zurzeit gerade Schmerz-Medikamente hochgradig, heute früh die letzte Tablette, wieder so einen Schub, kriege ich die Hände nicht mehr zusammen zum Beispiel. Alles durch die Arbeitsarthrose in beiden Schulter-Gelenken, in beiden Becken-Gelenken durch eben genau diese Beanspruchung, Überbeanspruchung."
Dieter Dombrowski kennt solche Fälle zu Tausenden. Er ist Vorsitzender der Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft. Die gesundheitlichen Schäden, welche aus Misshandlungen, Haft und Zwangsarbeit resultieren, werden von Versorgungsämtern fast nie anerkannt. Dort würde man den beschönigenden Akten von DDR-Behörden mehr Glauben schenken als den Schilderungen der Opfer.
Dieter Dombrowski, Union der Opferverbände Kommunistischer Gewaltherrschaft
"Die Versorgungsämter führen regelrechte Abwehrschlachten gegen Geschädigte das SED-Systems. Und es wird hier entschieden nach Aktenlage, nach Aktenlage bedeutet: das, was von Akten da ist aus der Repressionszeit, das ist wenig bis nichts. Von daher wird eben angenommen, es hat nicht stattgefunden, und die Antragsteller sind dann in die Pflicht geraten, nachzuweisen, dass meinetwegen vor 40 Jahren sie in einem der Zuchthäuser bei Zwangsarbeit eine gesundheitliche oder psychische Schädigung erfahren haben. Und dies ist regelmäßig nicht möglich."
Evelyn Zupke, SED-Opferbeauftragte
"Natürlich steht in den Haftakten nichts von Wasserzelle, von Einzelhaft, von Dunkelhaft, von Tigerkäfig, sondern die Begutachtenden lesen eben Akten so, ob das jetzt Haft-Akten sind oder Jugendwerkhofs- Akten, wie man heute Akten liest, ohne dieses Unrechtsverständnis, das wird eben nicht quellenkritisch gelesen."
Evelyn Zupke ist die Bundesbeauftrage für Opfer des SED-Unrechts. Auch sie kritisiert, dass die Betroffenen bei Ämtern und Behörden kaum Gehör finden, wenn es um die gesundheitlichen Folgeschäden von Haft und Zwangsarbeit geht.
Evelyn Zupke, SED-Opferbeauftragte
"Ich finde das erschütternd. Und deswegen ist es mir auch eines der wichtigsten Anliegen, dafür etwas zu tun, zusammen mit der Politik, diese Dinge zu ändern. Und der Bundestag hat ja einen Beschluss gefasst, der Bundesregierung vorgelegt, zur Beweislastumkehr bei der Anerkennung gesundheitlicher Folgeschäden."
Man könnte dazu eine Regelung in das SED-Opferentschädigungsgesetz aufnehmen. Das hatte allerdings auch schon die letzte Bundesregierung versprochen - aber nie umgesetzt.
Diesmal solle das Problem gelöst werden, so erklären es auf Kontraste-Anfrage die Koalitionsparteien.
Doch beim zuständigen Bundessozialministerium will man keinen Handlungsbedarf erkennen. Schriftlich heißt es: Das Entschädigungsrecht sehe bereits jetzt
(Zitat BMAS)
"eine Reihe von weitreichenden Beweiserleichterungen zugunsten der Betroffenen vor."
Für Ralf Weber klingt das wie Hohn. Er hatte es auch mit Beschwerden beim Bundesverfassungsgericht und beim Europäischen Gerichtshof versucht, doch diese wurden ohne Begründung abgewiesen. Mehr als 30 Jahre nach dem Ende der DDR müssen tausende Betroffene erleben, dass sie auch in der Bundesrepublik noch immer nicht als Opfer anerkannt werden. Dabei stünde ihnen eine echte Entschädigung zu.
Beitrag von Tom Fugmann