Kampf gegen die Pandemie -
Immer mehr Corona-Patienten, die Krankenhäuser sind wieder einmal überlastet und das Personal wird knapp. Hinzu kommt: Experten befürchten, dass bald eine neue Coronavirus-Variante grassieren könnte, die ansteckender und womöglich gefährlicher ist. Nun hat die Bundesregierung ein neues Infektionsschutzgesetz vorgelegt, das das Land auf den Corona-Herbst und Winter vorbereiten soll. Es ist ein Kompromiss zwischen „Team Vorsicht“ und „Team Freiheit“. Reichen diese Maßnahmen aus? Oder schlittern wir wieder einmal ungebremst ins Ungewisse?
Anmoderation: Und in diesen heißen Sommertagen scheint ein Thema weit weg: Ja, es geht um Corona. Und: Ja, es geht um den Herbst. Denn auch wenn gerade die Sonne scheint und die Zahlen sinken: Genau jetzt gilt es. Jetzt müssen wir uns wappnen für die nächste Welle. Vor allem, weil - auch das wird gern vergessen - auf den Krankenstationen Corona gerade einfach weiterläuft, ohne Pause. Susett Kleine, Kaveeh Kooroshy und David Zauner zeigen drei Möglichkeiten wie dieser sorglose Sommer enden könnte und viele, viele Versäumnisse.
Klinikum Darmstadt. Zweieinhalb Jahre ist Dietmar Schneider vom Virus verschont geblieben. Nun hat ihn Omikron doch erwischt. Nur knapp hat der chronisch Lungenkranke die Infektion überlebt.
Dietmar Schneider (69)
"Ich bin froh, dass ich hier bin und das noch geschafft hab und dass es da nicht anders ausgegangen ist."
Arzt
"Sie werden wahrscheinlich auch noch abhusten. Das kann auch noch ein bräunlich verfärbt sein. Nur, dass sie sich nicht erschrecken."
Patient
"Ja, aber da ist kein Blut mehr dabei."
Arzt
"Ja."
Dietmar Schneider ist für Dr. Cihan Çelik einer von dutzenden Patient:innen auf der Coronastation. Es gibt kaum noch Platz für weitere.
Dr. Cihan Çelik, Leiter Pneumologie, Klinikum Darmstadt
"Wir sind bei 32. Einen haben wir gerade ins Alice freundlicherweise verlegt. Aber die sind auch voll, die konnten nur einen nehmen, morgen können die auch einen nehmen."
Zwei große Probleme treffen hier aufeinander: Die steigende Zahl an Coronapatient:innen und ein hoher Krankenstand des Personals.
Dr. Cihan Çelik, Leiter Pneumologie, Klinikum Darmstadt
"Mit drei freien Betten geht’s nicht am Wochenende. Wir werden volllaufen."
Der Arzt ist seit elf Tagen am Stück im Einsatz – und so wie es aussieht, wird er auch morgen nicht frei haben.
Dr. Cihan Çelik, Leiter Pneumologie, Klinikum Darmstadt (stöhnt)
"Oh man!"
Allein im Juli sind 2.783 Menschen in Deutschland an und mit Corona gestorben – so das RKI. Das sind fast 90 am Tag.
Professor Carsten Watzl, Immunologe an der TU Dortmund erklärt:
"Trotz vieler glimpflich verlaufender Corona-Infektionen darf das Virus nicht unterschätzt werden."
Professor Carsten Watzl, Immunologe TU Dortmund
"Was man nicht aus dem Auge verlieren dürfte, ist, dass es auch Menschen gibt, die immer noch ein hohes Risiko haben, schwer zu erkranken. Also gerade die älteren Leute mit geschwächten Immunsystem, die sind vielleicht geimpft. Da hat die Impfung aber nicht so gut funktioniert durch die Immunschwäche. Und dann haben sie keinen guten Schutz. Und wenn sie sich dann infizieren, können sie immer noch einen schweren Verlauf haben. Und wir sehen ja aktuell, dass immer noch Menschen an Corona auch versterben."
Eine enorme zusätzliche Belastung, die kaum noch zu stemmen ist.
Dr. Cihan Çelik, Klinikum Darmstadt
"Das Krankenhaus ist ja sowieso zu 100 Prozent in der Arbeit ausgelastet. Die Frage ist nur, wie diese 100 Prozent verteilt werden. Und es ist einfach nicht anders möglich, als den restlichen Betrieb runterzufahren und den Covid-Betrieb damit zu bestücken."
Was wird uns jetzt im Herbst und Winter erwarten? Wie wird sich das Virus entwickeln? Einen Blick in die Zukunft liefern Modellierer der Technischen Universität Berlin. Anhand von Berechnungen gehen sie von drei möglichen Szenarien aus.
Bei dem für uns eher günstigen Szenario bleibt alles, wie es derzeit ist. Zwar steigen die Inzidenzen, weil das Leben häufiger in Innenräumen stattfindet. Ins Krankenhaus müssen aber nur wenige.
Beim mittleren Szenario gibt es eine neue Virusvariante. Gegen diese sind die Menschen weniger immun und sie verbreitet sich dadurch schneller. Weil insgesamt mehr Menschen sich infizieren, müssen auch insgesamt mehr Menschen ins Krankenhaus. Obwohl die Variante im Schnitt nicht häufiger schwere Verläufe auslöst.
Beim ungünstigen Szenario entwickelt sich ebenfalls eine neue Variante. Diese löst häufiger schwere Verläufe aus. Die Hospitalisierungsrate steigt deutlich an. Die Krankenhäuser kommen schnell an ihre Belastungsgrenze.
Modellierer Kai Nagel hat diese Szenarien unter anderem für die Bundesregierung erstellt. Dass wir glimpflich durch den Herbst und Winter kommen, hält er für unrealistisch.
Professor Kai Nagel, Modellierer TU Berlin
"Ich glaube schon, dass dieses schlechte Szenario im Raum steht, also dass wir die, das hohe Infektionsgeschehen kriegen, zusammen mit der hohen Krankheitslast. Und das heißt also, wir sollten dann dazu in der Lage sein, sehr schnell zu sagen, okay, Maßnahmen A, B, C, D, E werden dagegen in Anschlag gebracht, da werden wir auch nicht viel Zeit haben."
Kontraste
"Also die Politik sollte sich auf das schlechte Szenario vorbereiten."
Professor Kai Nagel, Modellierer TU Berlin
"Ich halte das für plausibel, ja."
Gestern stellte die Bundesregierung nun den Entwurf für ein neues Infektionsschutzgesetz vor: Ihr Werkzeugkasten für den Pandemiewinter.
Karl Lauterbach (SPD), Bundesgesundheitsminister
"Aus der Sicht der Wissenschaft ist das ein guter Kompromiss. Wir wissen, dass wir wahrscheinlich im Herbst in einer sehr ansteckenden Variante zu tun haben werden. Wir wissen, dass wir gute Impfstoffe haben werden, gegen diese Variante. Wir wissen, dass wir gute Medikamente haben. Wir wissen aber auch, dass wir ohne Masken es nicht schaffen es nicht schaffen werden."
Ab dem 1. Oktober soll in allen Bundesländern eine Maskenpflicht in Flugzeugen, öffentlichem Fernverkehr, Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen gelten. Die Länder haben darüber hinaus die Möglichkeit Maskenpflicht auch bei Freizeit-, Kultur und Sportveranstaltungen durchzusetzen. Menschen mit negativem Testnachweis, aktuellem Impf- oder Genesenennachweis sind davon aber ausgenommen. Auch Mindestabstand, Hygiene und Lüftungskonzepte können unter anderem angeordnet werden. Vor allem, wenn die Lage dramatischer wird, sollen die Länder schnell reagieren können, sagt FDP-Bundesjustizminister Marco Buschmann. Zum Beispiel, wenn das Gesundheitssystem zu überlasten droht.
Marco Buschmann (FDP), Bundesjustizminister
"Wenn dort also die Funktionsfähigkeit konkret gefährdet ist und der Landtag das feststellt, dann können die Länder zu zusätzlichen Maßnahmen greifen."
Allerdings: das entscheidende steht nicht im Infektionsschutzgesetz: Grenzwerte, die festlegen, wann strengere Maßnahmen von den Ländern angeordnet werden dürfen. Damit lasse die Bundesregierung die Länder wieder einmal im Regen stehen, sagt Christina Berndt, Wissenschaftsjournalistin. Sie beobachtet die Pandemiepolitik für die Süddeutsche Zeitung.
Christina Berndt, Süddeutsche Zeitung
"Es ist absolut feige, dass die Regierung sich hier gedrückt hat, davor, Grenzwerte in diesen Gesetzesentwurf zu schreiben. Denn natürlich sind manche Grenzwerte immanent wichtig und das ist zum Beispiel die Zahl der belegbaren Intensivbetten. Und darum wäre es wichtig zu sagen, wenn da ein Grenzwert unterschritten wird und es wirklich kritisch wird auf den Intensivstationen, dann müssen diese und jene Maßnahmen greifen, und zwar schnell."
Professor Kai Nagel, Modellierer TU Berlin
"Bei dem ungünstigen Szenario muss man sich glaube ich klar machen, dass das sehr schnell gehen würde. Und dann hat man tatsächlich nicht viel Zeit zu reagieren, also irgendwas in der Größenordnung von zwei Wochen."
Doch schnelles Handeln ist schwierig: Die Länder müssen Maßnahmen von ihren Parlamenten absegnen lassen. Das kritisiert der bayrische Gesundheitsminister Klaus Holetschek.
Klaus Holetschek, Bayrischer Staatsminister für Gesundheit und Pflege
"Ich glaube, dass wir wieder einen Flickenteppich haben werden, wo die Rechtsunsicherheit nach wie vor gegeben ist. Und von daher glaube ich, müssen wir da schon noch in Diskussion gehen. Über die Frage der Einheitlichkeit und der Kriterien insgesamt."
Letztlich, so Klaus Holetschek, habe die Bundesregierung es nicht geschafft, den Werkzeugkasten ausreichend zu bestücken.
Klaus Holetschek, Bayrischer Staatsminister für Gesundheit und Pflege
"Ich meine, das hat man doch im Vorfeld gesehen, wie das geknirscht hat. Da kann man noch so über die gute Atmosphäre schwärmen. Hinter den Türen war doch klar zu vernehmen, dass zwischen der FDP und dem Bundesgesundheitsminister da keine Einigkeit war."
In der FDP gehen nämlich einige davon aus, dass die Pandemie inzwischen beherrschbar ist. Etwa ihr Gesundheitspolitische Sprecher, Andrew Ullmann. Die Modelle, die eine gefährliche Entwicklung prognostizieren, überzeugen ihn nicht.
Andrew Ullmann (FDP), Gesundheitspolitischer Sprecher
"Also ich denke, Modellierer sind ja dazu da, entsprechende Modelle zu berechnen, die möglich sein können. Aber auch Modellierer haben nicht die Kristallkugel, um eine Vorhersage seriös zu treffen, was passieren wird und was nicht passieren wird."
Kontraste
"Woher nehmen Sie Ihre Annahme, dass das glimpflich ablaufen wird?"
Andrew Ullmann (FDP), Gesundheitspolitischer Sprecher
"Das ist eigentlich die Erfahrung aus der Menschheitsgeschichte. Wenn Pandemien stattgefunden haben, haben wir ja gesehen. Sobald die gesamte Bevölkerung durch immunisiert sind durch Infektionen, die auch leider mit sehr vielen Todesfällen auch einhergeht. Dass eine Pandemie dann abflacht und dann endemisch wird oder gar vollständig verschwindet."
Christina Berndt, Süddeutsche Zeitung
"Die FDP ist aus meiner Sicht wirklich ein furchtbarer Bremsklotz und leider auch ein Verharmloser der Lage. Mit einer vernünftigen Pandemie Politik kann man tatsächlich Menschenleben retten. Und dieser Rolle wird die FDP nicht gerecht."
Aber wird die SPD ihrer Rolle gerecht? Schließlich hat sie mit Lauterbach einen Gesundheitsminister ins Rennen geschickt, der sich als Arzt, Epidemiologe und Verfechter strenger Maßnahmen hohe Beliebtheitswerte in der Bevölkerung erworben hatte:
Christina Berndt, Süddeutsche Zeitung
"Ich sehe es grundsätzlich so, dass sich die FDP gerade in der Corona Politik bislang extrem stark durchgesetzt hat. Und das ist natürlich eigentlich so, dass der Gesundheitsminister Gesundheitsminister wurde, weil das tatsächlich einen so großen Rückhalt in der Bevölkerung hatte. Und von daher finde ich es sehr schwierig, dass er sich da offenbar mit diesen Positionen so schlecht durchsetzen kann."
Die Politik setzt wieder einmal auf die Vernunft der Bevölkerung und das in einer Zeit, in der viele glauben, die Pandemie sei vorbei.
Beitrag von Susett Kleine, Kaveh Kooroshy und David Zauner