Spar-Appelle an Privathaushalte -
Putin dreht den Gashahn ab – und Deutschland droht ein harter Winter. Darauf schwört uns Wirtschaftsminister Habeck seit Wochen ein. Nach Berechnungen der Bundesnetzagentur könnten schon Anfang nächsten Jahres die Gasspeicher komplett leer laufen. Dann müsste Gas rationiert werden. Für ganze Branchen wie die chemische Industrie drohen Produktionsausfälle und der Zusammenbruch von Lieferketten – mit dramatischen Folgen für die deutsche Volkswirtschaft. Einsparungen im privaten Bereich könnten das zumindest dämpfen. Bislang aber scheut die Bundesregierung davor zurück, die Haushalte in die Pflicht zu nehmen und zu verordnen, wer wann wie heiß duschen oder heizen darf. Sie setzt stattdessen auf Appelle und eine Aufklärungskampagne, die bislang kaum wahrgenommen wird.
Anmoderation: Guten Abend zusammen. Heute geht's bei uns um den falschen Klitschko, überraschende Neuzugänge bei der Friedensbewegung - und ums Heizen. In wohl keinem Sommer wurde jemals so viel übers Heizen diskutiert. Denn: Das Gas wird knapp. Vonovia, Deutschlands größter Vermieter hat heute bekannt gegeben, dass in hunderttausenden Wohnungen die Heizungen runtergedreht werden sollen - nachts wirds da dann nicht mehr wärmer als 17 Grad. Alles was recht ist in diesem Verteilungskampf. Die Industrie braucht Gas, die privaten Haushalte brauchen es – für alle wird es nicht reichen. Aber: wenn der Industrie das Erdgas ausgeht, ist unser aller Wohlstand in Gefahr, Millionen Jobs außerdem. Was also müsste passieren, damit wir doch durch diese Zeit kommen? Chris Humbs, Markus Pohl, Daniel Schmidthäussler.
Gas-Alarm in Deutschland.
Chemie-Unternehmer:
"Es droht ein Zusammenbruch der Produktion."
Bauernverband:
"Dann bleibt das Lebensmittelregal zu einem großen Teil leer."
Bundeskanzler Scholz (SPD):
"Das ist sozialer Sprengstoff."
Die Angst geht um, seit Wladimir Putin am Gashahn dreht. Durch die Pipeline NordStream 1 fließen derzeit nur noch 40 Prozent der üblichen Menge Erdgas ins Land. Kommende Woche wird die Röhre ganz stillgelegt, bis Mitte/Ende Juli stehen Wartungsarbeiten an.
Der Ökonom und Regierungsberater Jens Südekum bezweifelt, dass Putin den Gasfluss danach wieder frei gibt.
Prof. Jens Südekum, Institut für Wettbewerbsökonomie HHU:
"Ich glaube nicht, dass er uns ganz bequem, so wie wir das gerne hätten und planen würden, noch beliefert bis Sommer 24, bis wir dann so weit sind, dass wir ganz bequem aus dem russischen Gas aussteigen können. Warum sollte er das mit sich machen lassen? Also ich denke, wir sind im Endspiel und er wird dann auch tatsächlich den Hahn weitestgehend zudrehen."
Was dann droht, hat die Bundesnetzagentur berechnet: Die deutschen Gasspeicher laufen im schlimmsten Fall, bei ungebremster Nachfrage, im kommenden Januar leer. Gas müsste dann rationiert werden.
Es drohe ein enormer volkswirtschaftlicher Schaden, befürchtet Jens Südekum.
Jens Südekum, Institut für Wettbewerbsökonomie HHU:
"Wenn die Rationierung in der Industrie kommt und wir eine schlimme Rezession bekommen, dann reden wir über 200, 300, 400 Milliarden Euro."
Das Prognos-Institut rechnet für diesen schlimmsten Fall mit bis zu 5,6 Millionen Arbeitslosen – das wäre tatsächlich sozialer Sprengstoff.
Besonders gefährdet: die Chemieindustrie, wie hier im Industriepark Frankfurt-Hoechst. Es ist die Branche mit dem höchsten Gasverbrauch. 22.000 Menschen arbeiten in Höchst. Die Betreiberfirma lässt gerade ein neues Gaskraftwerk errichten, um die mehr als 90 angeschlossenen Unternehmen mit Dampf und Wärme zu versorgen. Eine Unterbrechung der Gasversorgung wäre hier ein wirtschaftliches Desaster.
Joachim Kreysing, Geschäftsführer Infraserv Höchst:
"Wenn die Gasmengen signifikant gekürzt werden, droht dann tatsächlich ein Zusammenbruch der Produktion, hier für den gesamten Standort, dann natürlich auch Lieferketten mit anderen Standorten. Das wird eine wirklich sehr große Herausforderung und Risiko für die Industrie."
Chemie-Produkte werden in so gut wie allen Branchen benötigt. Ein Ausfall beträfe die komplette Volkswirtschaft, die Auto-Industrie ebenso wie die Landwirtschaft. Denn auch für die Herstellung von Düngemitteln werden große Mengen Erdgas benötigt.
Der Verteilungskampf um das knappe Gas hat längst begonnen.
Bernhard Krüsken, Generalsekretär Deutscher Bauernverband:
"Wir wollen der Bundesnetzagentur auch nicht vorschreiben, wen sie jetzt nun abschaltet und rausnimmt. Aber es ist doch wirklich offensichtlich: Priorität für Landwirtschaft und Lebensmittelerzeugung."
Noch aber gibt es auch das Szenario, dass wir gerade so durch den Winter kommen - auch ohne russisches Gas. Das aber hat Bedingungen. Ab Januar müssten zwei schwimmende Terminals für nicht-russisches Flüssigerdgas an der deutschen Küste betriebsbereit sein und ans Netz gehen. Außerdem müssten die Gas-Exporte in andere EU-Staaten entsprechend des geringeren Gas-Angebots absinken. Dritte und wohl schmerzhafteste Bedingung: Eine Verringerung unseres Gas-Verbrauchs um 20 Prozent!
Dieser Verbrauch teilt sich derzeit auf drei große Sektoren auf: Die privaten Haushalte machen 31% des Kuchens aus. Die Industrie und alle Unternehmen kommen auf 41%. Und der Bereich Stromerzeugung und Fernwärme liegt bei 26% des Gas-Verbrauchs.
Gerade bei der Verstromung kann man einsparen. Die Bundesregierung lässt dafür zurzeit alte Kohlemeiler reaktivieren, um Gaskraftwerke zu ersetzen. Das soll bereits die Hälfte des angestrebten Sparziels von 20 Prozent einbringen. Schwieriger wird es in den Unternehmen. In kleinen Teilen lässt sich Gas durch Öl oder Kohle ersetzen. Große Einsparmöglichkeiten beim Energie-Verbrauch aber sieht etwa die Chemieindustrie nicht.
Wolfgang Große Entrup, Hauptgeschäftsführer Verband der Chemieindustrie:
"Man muss bei uns leider sehen, dass wir über die letzten Jahre natürlich enorm an der Energieeffizienz gearbeitet haben. Das heißt, Gas war teuer, und um international wettbewerbsfähig zu bleiben, haben wir natürlich die Effizienz in den Vordergrund gestellt."
Möglich wäre allenfalls, besonders gas-intensive Produktionen von Grundstoffen ins Ausland zu verlegen, so der Energie-Experte Georg Zachmann. "Die USA hat vergleichsweise billiges Erdgas. Das Erdgas kostet da 1/4 dessen, was es bei uns kostet. Und wenn dort dann Produkte wie Ammoniak, Methanol hergestellt werden und die nach Europa gebracht werden, dann könnten wir deutlich Erdgas einsparen."
Das aber hätte einen hohen Preis: Zumindest befristet müssten hier Werke schließen. Ohne solche Verlagerungen ins Ausland schätzen Experten, dass die Firmen zur notwendigen 20%-Einsparung höchstens vier Prozentpunkte beisteuern können. Für die restliche Lücke bleibt nur der private Sektor mit kleinen, aber vielen Einsparmöglichkeiten: 41 Millionen Haushalte gibt es in Deutschland.
Jens Südekum, Institut für Wettbewerbsökonomie HHU:
"Es müssen alle Hebel in Bewegung gesetzt werden, dass die Privaten einen Anreiz haben, Gas einzusparen. Ein Teil wird sicherlich durch die hohen Preise geliefert. Aber wir brauchen noch mehr."
Denn bislang schlägt das teure Gas noch gar nicht voll durch. Wirtschaftsminister Robert Habeck lässt die großen Gasversorger derzeit mit viel Geld stützen, damit sie die aktuellen Einkaufspreise erstmal nicht komplett an die Haushalte durchreichen. Gespart werden müsste aber jetzt schon.
Wirtschaftsexperte Südekum schlägt deshalb einen Bonus als Anreiz vor:
"Diejenigen, die da belohnt werden durch einen Energiesparbonus, die werden belohnt dafür, dass sie sich besonders anstrengen und damit auch allen helfen."
Ein Vorschlag, der heute auch rund um die große Energie-Debatte im Bundestag diskutiert wird. Gegenüber Kontraste setzt sich heute Nachmittag auch der Unions-Obmann im Energie-Ausschuss für den Spar-Bonus ein.
Thomas Gebhart, CDU:
"Wer bestimmte Mengen Energie einspart, der wird belohnt, der kriegt positive Anreize. Da wär', glaube ich, erhebliches Potential noch vorhanden."
Doch Habeck winkt bislang ab. Er will keine Geldanreize.
Robert Habeck, Grüne:
"Und wenn da jemand sagt, 'ich helfe nur, wenn ich 50 Euro krieg', würde ich sagen: Die kriegst du nicht, Alter!"
So aber fehlt bislang vielen der Anstoß, aktiv zu werden, sagen uns Heizungsfachleute. Mit dem Kundenservice sind wir unterwegs in Brandenburg.
Marcus Wirth, Gebäudetechniker:
"Das ist schon wirklich verwunderlich, muss ich sagen. Weil, man hört es ja wirklich rauf und runter: Gasknappheit. Wir wissen nicht, ob wir über den Winter kommen, ob die gelieferten Mengen reichen. Also da hätte man schon eigentlich gehofft, dass halt mehr Anfragen kommen zur Optimierung der Heizungsanlagen."
Heute hat er einen Termin. Bei einer neuen Brennwertherme soll er schauen, ob noch was geht. Der Gas-Anbieter von Britta Menzel-König hat den Preis schon um 60% erhöht. Noch kann sie sich das leisten. Aber sie will trotzdem sparen, ihren Beitrag leisten, damit im Winter genug für alle da ist – auch für die Unternehmen.
Britta Menzel-König:
"Wenn die Wirtschaft zusammenbricht, was ist uns denn dann geholfen? Also perspektivisch geht es uns ja dann wahrscheinlich noch schlechter."
Das meiste holt der Techniker bei dieser modernen Anlage über die Absenkung der Raumtemperatur heraus – statt 24 stellt er die Therme auf 22 Grad ein. Vier Prozent Einsparung bringt das bei diesem Haus.
Reporter:
"Was schätzen Sie? Wie viele Anlagen laufen nicht effizient?"
Marcus Wirth, Gebäudetechniker:
"Also ich würde sagen, im Berliner und Brandenburger Bereich würde ich sie aus Erfahrung tippen, so bei 30 %, 40 % sind schon dabei."
Reporter:
"Was ist da an Einsparungspotenzial letztlich drin?"
Marcus Wirth, Gebäudetechniker:
"Also je nach Alter der Anlage und je nach wie sie eingestellt war, würde ich schon gut tippen bei 20, 30 %."
Zusätzlich gibt es Einsparpotenzial beim Verhalten: Wie oft dusche ich, wann drehe ich die Heizung ganz zu. Strengen sich alle im Privaten an, würde das für die restlichen sechs Prozentpunkte reichen. Das Einsparziel wäre geschafft, die Gas-Rationierung vermieden.
Wie aber will man das sicherstellen? Die Bundesregierung setzt auf Einsicht – und bunte Werbemotive zum Energiesparen. Die Kampagne rollt gerade langsam an, ab August soll großflächig plakatiert werden.
Das sei zu wenig – und der Dramatik der Lage nicht angemessen, sagt Energieexperte Zachmann.
Georg Zachmann, Brussels European and Global Economic Laboratory:
"Ich glaube, wir brauchen da auch eine Art 'Blut, Schweiß und Tränen Rede', in der gesagt wird, Ja, wir müssen da jetzt irgendwie als Deutschland zusammenstehen. Die Wahl, vor der wir im Endeffekt stehen, ist, ob wir, ob wir im Winter gezwungen sein werden, vor dem Kreml zu Kreuze zu kriechen, die europäische Friedensordnung zu opfern, weil wir uns schlecht vorbereitet haben."
Beitrag von Chris Humbs, Markus Pohl und Daniel Schmidthäussler