Hilflos im Krankenhaus -
Eine Krebsdiagnose in fünf Minuten abhandeln, einen Nachtdienst mit 150 Patienten alleine managen, Behandlungsfehler am laufenden Band – so erzählen es junge Ärztinnen und Ärzte gegenüber Kontraste. Sie fühlen sich ausgebrannt und verheizt, von einem Gesundheitssystem, das auf Gewinnmaximierung ausgerichtet ist und sich meist dem Kostendruck beugen muss. Viele beklagen, dass sie als Assistenzärzte nicht mehr vernünftig ausgebildet würden, weil schlicht die Zeit dafür fehle. Ein Viertel aller Klinikärzte überlegen laut einer aktuellen Umfrage des Marburger Bundes, den Job ganz hinzuschmeißen. Andere reduzieren ihre Arbeitszeit, um der hohen Belastung auf Dauer standhalten zu können. Die Folgen: Es gibt immer weniger Ärzte für immer mehr Fälle. Das habe teils schwerwiegende Konsequenzen für die Patienten, berichten die jungen Medizinerinnen und Mediziner. Das Problem: Die Lücke wird in Zukunft noch größer werden.
Anmoderation: Es sind die drei Worte, die niemand von seinem Arzt hören will. "Sie haben Krebs". Da schießen einem sofort tausend Fragen in den Kopf – gut möglich aber, dass man dann nur eine oder zwei überhaupt stellen kann. Denn der Arbeitstag der meisten deutschen Klinikärzte ist streng durchgetaktet – da bleiben manchmal nur fünf Minuten pro Krebsdiagnose. Dass ist auch für die Ärztinnen und Ärzte in den deutschen Kliniken die Härte. Ein Viertel überlegt längst, hinzuschmeißen. Und für uns Patienten bedeutet es: Wir haben es im Krankenhaus oft mit Medizinern zu tun, die ausgebrannt und übermüdet sind - genau dann, wenn wir hochkonzentrierte Hilfe brauchen. Sascha Adamek, Chris Humbs, Enya Ernst und das Team von rbb24 Recherche.
Vor allem Medizinstudenten und junge Ärzte und Ärztinnen protestieren. Die Arbeitsbelastung sei inzwischen unerträglich. Es mangle schlicht an Ärzten. Dauernd Überstunden, permanente Überforderung. Sie spielen nicht mehr mit.
Dr. Steffen Emil Künzel, Assistenzarzt, Augenheilkunde Charité
"Würden Sie sich gerne operieren lassen von einem Arzt, der die Nacht vorher nicht geschlafen hat?
Julia Gaal, Medizin-Studentin
"Das sind definitiv keine Berufsperspektiven, wo ich später arbeiten möchte. Nicht unter den Bedingungen."
Julian Gabrysch, Assistenzarzt, Nephrologie, Charité
"Es leidet auch die Qualität, wenn dann nicht genug Ärztinnen und Ärzte da sind, um die Patienten adäquat zu versorgen. Wir haben zu wenig Zeit pro einzelnen Patienten und Patientin."
Zu viele Patienten für zu wenig Ärzte. Die Gründe hierfür sind unterschiedlich. Auf dem Land finden sich oftmals keine qualifizierten Bewerber. In den attraktiven Großstädten ist es oft der Kostendruck.
Früher wurde am Pflegepersonal gespart. Das geht heute kaum noch. Denn jetzt gibt es eine gesetzliche Mindestbesetzung. Nun trifft der Spardruck die Ärzte. Eine Arzt-Patienten Quote gibt es nicht. Möglichst viele Patienten pro Arzt ist die Devise. Das bringt Geld.
Vor allem Assistenzärzte, also junge Mediziner, die frisch von der Uni kommen, leiden darunter. Obwohl sie erstmal in der Klinik lernen sollten, werden sie oftmals als günstige, vollwertige Arbeitskräfte eingesetzt.
Die Sprecherin des "Bündnisses Junge Ärzte" erlebte als Assistenzärztin selbst, wie es ist, zu oft gestresst, überfordert und frustriert zu sein. Ein eklatanter Missstand:
Dr. Clara Matthiessen, Bündnis Junge Ärzte
"Der drückt sich zum einen dadurch aus, dass es eine enorme Arbeitsverdichtung gibt und dass man kaum Zeit hat mit Patientinnen und Patienten zu sprechen, geschweige denn mit irgendwelchen Angehörigen, dass man keine Zeit hat für Weiterbildung."
Professor Michael Scherer arbeitet heute in einer Arztpraxis für Chirurgie. Vor kurzem war er noch Chefarzt der Unfallchirurgie am Helios Klinikum in Dachau. Ein Lehrkrankenhaus. Prof. Scherer kündigte. Die Personalsituation spitzte sich immer weiter zu:
Prof. Michael A. Scherer, Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie
"Also ich habe vier Oberärzte und 10 Assistenten, Das ist langsam runtergegangen, langsam abgetröpfelt. Und da, in der Früh, waren drei.
Empfohlen werden 6 Ärzte. An eine vernünftige Ausbildung war nicht mehr zu denken:
Prof. Michael A. Scherer, Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie
"Das war die Begründung meiner Kündigung: Ich kann die nicht mehr ordentlich ausbilden. Ich habe nicht genügend Mitarbeiter."
Bei der Deutschen Krankenhausgesellschaft, dem Verband der Kliniken, erkennt man dagegen keinen Ärztemangel.
Gerald Gaß, Vorstandsvorsitzender Deutsche Krankenhausgesellschaft
"Den gibt es eigentlich nicht, obwohl man landläufig immer vom Ärztemangel hört. Tatsächlich haben wir in den letzten 15 Jahren einen deutlichen Zuwachs an Ärztinnen und Ärzten in den Krankenhäusern gehabt. In den letzten 15 Jahren von etwa 120.000 auf jetzt 170.000 Ärzte in den Krankenhäusern."
Tatsächlich stieg die Zahl der Ärzte an. Jedoch arbeiten sie vermehrt in Teilzeit. Sie wollen Familie und Job vereinen. Das bedeutet aber auch, dass die Vollzeitärzte oftmals viele Überstunden machen müssen, damit der Betrieb aufrechterhalten werden kann.
Hinzu kommt: In den letzten 15 Jahren vor Corona sind die Patienten-Fallzahlen in den Krankenhäusern deutlich angestiegen.
Arzt
"Guten Morgen."
Das hat mit der Alterung der Gesellschaft zu tun. Viele Patienten sind mehrfach krank, die Behandlung pro Fall ist oft aufwändig, bedarf viel Zeit. Zudem haben sich die Aufgaben der Ärzte geändert.
Prof. Michael A. Scherer, Facharzt für Unfallchirurgie und Orthopädie
Die Zahl der nichtmedizinischen Tätigkeiten ist enorm gestiegen. Man muss ständig dokumentieren. Nur was dokumentiert wird, ist kontrollierbar durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen. Pro Bett wird mehr Patient behandelt, mehr Erkrankungen, in einer spezialisierten Art und Weise. Und das führt zu einer Mangelsituation bei den Ärzten."
Ärztemangel in der Klinik. Für die rbb-Mitarbeiterin Jeannette R. und Ihren 15jährigen Sohn Levin war es ein Albtraum, der den Jungen das Leben hätte kosten können. Er litt an einer Hirnvenen-Thrombose. Elf Tage ließ die Klinik ohne Spezialuntersuchung verstreichen – die Thrombose verstärkte sich. Mit Langzeitfolgen: Jahrelang erhöhter Hirndruck. Noch heute verbietet ihm sein Arzt das Kicken – jeder Kopfball wäre gefährlich.
Kontraste
"Wie ist das jetzt hier zuzugucken?"
Levin R.
"Ja, ist schon ein spezielles Gefühl, weil vor ein paar Jahren war ich ja noch auf dem Platz. Und jetzt zuzugucken, wie andere da spielen, ist schon ein spezielles Gefühl."
Als er eines Tages vom Fußball nach Hause kam, begannen die Kopfschmerzen und hörten tagelang nicht auf. Schon beim ersten Kontakt mit der Klinik war klar – hier herrscht Ärztemangel.
Jeannette R., Mutter
"Der erste richtige Arzt war der auf der Notaufnahme, der auch für andere Stationen zuständig war. Der war nicht nur für die Notaufnahme, sondern der wurde dann auch zwischendurch abgerufen auf Station, wenn es da zu Notfällen kam. Und ja, man hatte halt nie richtig wirklichen Ansprechpartner. Man hatte auch nie das Gefühl, dass da überhaupt Zeit dafür ist. Das war immer nur Stress, Hektik."
Nach acht Tagen schickte man ihn trotz anhaltender Kopfschmerzen nach Hause und erklärte ihm:
Levin R.
"Wir behandeln hier nur Kinder, die wirklich schwer krank sind und so und da wurde ich immer nach Hause geschickt."
Kurz danach wies ihn der Hausarzt erneut in die Klinik ein. Erst am 11. Tag wurde auf Drängen seiner Mutter im Krankenhaus ein MRT vom Kopf vorgenommen. Diagnose: eine akut lebensgefährliche Thrombose. Trotzdem ließ das Krankenhaus Levin warten. Wohl wegen Überforderung. Erst drei Stunden später wurde er in eine Spezialklinik verlegt.
Jeannette R., Mutter
"Da kam der Chef der Rettungsstelle und sagte, wo wir denn so lange geblieben sind. Wir wurden ja schon vor längerer Zeit angekündigt. Wir haben am Krankentransport gewartet. Und der Arzt nahm mich zur Seite und sagte Sie wissen schon, das ist sehr ernst. Ihr Kind schwebt in Lebensgefahr.
Ihr Anwalt für Medizinrecht, Daniel Fischer geht wegen der Langzeitfolgen nun gegen die Klinik vor. Er sieht den Ärztemangel als häufige Ursache solcher Fehler.
Daniel Fischer, Fachanwalt für Medizinrecht
"Das ist schon durchaus ein sehr krasser Fall. Hier gibt es eine extreme Verkettung von Fehlern. Wir gehen davon aus, dass unsere Ärzte in Deutschland eigentlich gut ausgebildet sind und die Fehler dann aber eher dadurch passieren, dass die Ärzte schlicht nicht genug Zeit haben."
Wir haben mit 30 Klinik-Ärzten zur Situation in deutschen Krankenhäusern gesprochen. Von der Assistenzärztin bis zum Klinikdirektor, niemand wollte offen vor die Kamera gehen. Sie machen sich Sorgen, wegen Ihren Aussagen den Job zu verlieren.
Für diesen Bericht haben im Studio Kleindarsteller und Schauspieler die Schilderungen der Ärzte vorgelesen. Sie berichten von einem systematischen Mangel mit dramatischen Auswirkungen…
Stellv. Klinikleiter und Facharzt, Uniklinik
"… kann ich mir jetzt eigentlich noch eine Neubesetzung der freigewordenen Stelle leisten? Diese Managerdenken ist durchgesickert – von den Managern bis zu den leitenden Ärzten. Ich bin selbst halber Betriebswirtschaftler geworden."
Assistenzarzt, Krankenhaus für Maximalversorgung
"Ich habe etwa fünf Minuten Zeit für ein Gespräch über eine Krebsdiagnose. Da weiß doch jeder Mensch sofort, dass da etwas nicht stimmt. Ich bräuchte wenigstens 15 Minuten, um allein mit dem Patienten über die Konsequenzen, die sich aus der Diagnose ergeben, zu sprechen."
Laut einer aktuellen Umfrage erwägen 25 Prozent der Klinikärzte einen Berufswechsel. Eine andere Umfrage ergab: 90 Prozent aller Notaufnahmen beklagen einen Personalmangel.
Facharzt, Privatklinik
"Letztendlich ist es normal geworden, dass ein Arzt im Nachtdienst mehr als 150 Menschen versorgen muss. Darunter viele Schwerstkranke. Oft ist nur ein Assistenzarzt da. Der hat zum Teil nicht die Fachkenntnisse, die er bräuchte."
Assistenzärztin, Universitätsklinik
"Es sterben Menschen - unnötig. Wir kriegen das mit und müssen damit umgehen. Zum Beispiel: Es gab bei uns eine Corona-Intensivstation, die nur mit einem Arzt besetzt war. Einem Assistenzarzt. Er war allein für 16 Patienten zuständig. Da sind Leute gestorben wegen Unterversorgung."
Fachärztin, kommunales Krankenhaus
"Es sterben Menschen, weil man nicht schnell genug oder kompetent genug eingreifen kann, dann ist meine Erfahrung, dass das unter den Tisch gekehrt wird. So etwas landet in keiner Statistik."
Vorgestern demonstrierten Beschäftigte von Kinderkliniken vor dem Bundesgesundheitsministerium. Der Spardruck und damit der Personalmangel dort ist besonders groß. Sogar die Versorgung der Kinder ist gefährdet:
Dr. Agnes Genewein, Kinderkrankenhaus auf der Bult, Hannover
"Wir nehmen keine neuen Kinder mehr an, wir haben das Telefon geschlossen, ist ein Anrufbeantworter drin, der sagt leider, tut uns leid, wir können nicht noch mehr."
Beitrag von Sascha Adamek, Enya Ernst und Chris Humbs