Feindbild "Wokeness"? -
Die Wokeness bedroht die Freiheit in Deutschland – so war es gerade auf einer Tagung eines CDU-nahen Think Tanks zu hören. Das Modewort "Wokeness" hat die political correctness als Feindbild konservativer Kulturkämpfer abgelöst: Es geht um einen linken Tugendterror, der überall Rassismus und Sexismus wittere, um den angeblichen Zwang zum Gendern und eine um sich greifende "Cancel Culture". Hatte die Union zu Beginn der Legislatur konstruktive Oppositionspolitik versprochen, versucht sie zurzeit ihr konservatives Profil neu zu schärfen. Auch auf die Gefahr hin, populistisch zu werden. Ob Winnetou oder Layla, kein Anlass ist so manchem Unionspolitiker zu nichtig, um die Wokeness-Keule zu schwingen. "Wir wollen Polizisten auf der Straße, aber keine Sprachpolizei im Bierzelt", sagt CSU-Chef Markus Söder. Und der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz warnt gar vor der woken Cancel Culture als "größter Bedrohung der Meinungsfreiheit in Deutschland".
Ron DeSantis
"We reject woke ideology. We fight the woke in the legislature. We fight the woke in the schools. We fight the woke in the corporations. We will never, ever surrender to the woke mob."
Übersetzung
"Wir lehnen die woke Ideologie ab - wir bekämpfen die Woken in unseren Parlamenten, wir bekämpfen sie in den Schulen, wir bekämpfen sie in den Konzernen. Wir werden uns niemals dem woken Mob ergeben."
Anmoderation: Anti-Woke - das zieht offenbar. Woke - das wörtliche "wach sein" für Ungerechtigkeiten - das steht für viele längst für eine politische Überkorrektheit, eine hysterische neue Debattenkultur, in der jeder gecancelt wird, der nicht zu gendern bereit ist. Dagegen wirkt Anti-Woke sein einfach vernünftig - dass sich damit auch hierzulande Wahlen gewinnen lassen, darauf hofft die Union. Auch weil einige Vertreter und Vertreterinnen des Woke-seins weit, weit übers Ziel hinausschießen.
Um die Toiletten des Stuttgarter Rathauses tobt ein wahrer Kulturkampf. Seit Neuestem gibt es hier Spender mit kostenlosen Tampons - überraschenderweise auch auf dem Herren-Klo. Für die grüne Stadträtin Jitka Sklenářová ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Mann, Frau, trans- und nicht-binären Personen.
Jitka Sklenářová, Bündnis90/ Die Grünen, Gemeinderat Stuttgart
"Da wir eben keine Unisex Toiletten haben, war es dann eben konsequent in beide Toiletten, also sowohl in die Damen- als Herren-Toiletten das aufzuhängen, weil es eben nicht nur Frauen sind, die menstruieren. Und deswegen aus unserer Sicht perfekt umgesetzt."
Doch die Aufregung ist groß. Viele in Stuttgart haben kein Verständnis, auch nicht die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der CDU, Beate Bulle-Schmid:
Beate Bulle-Schmid, CDU, stellv. Fraktionsvorsitzende Gemeinderat Stuttgart
"Als ich das zum ersten Mal gehört habe, habe ich gedacht, das ist irgendwie ein Versehen der Verwaltung oder da hat sich einer einen Witz erlaubt. Aber so ist es offensichtlich nicht, sondern das war gewollt so. Ich finde es lächerlich, muss ich sagen, weil man muss sich mal überlegen wie viele menstruierende Männer gibt es überhaupt in Deutschland? Auf Stuttgart runtergebrochen? Und wenn es einige gibt, mag sein, wie oft kommen die ins Rathaus? Und haben sie dann auch gleich ihre Periode?"
Für die CDU ist der Tampon-Spender längst zum Symbol geworden - für eine übertriebene Political Correctness, für überbordendes "Gutmenschentum" von Links.
Beate Bulle-Schmid, CDU, stellv. Fraktionsvorsitzende Gemeinderat Stuttgart
"Es gibt eine gewisse Gruppe, die forciert, dass solche Dinge durchgesetzt werden können. Aber ich habe den Eindruck, dass das Gros der Bürgerinnen und Bürger so was auch nicht gut findet."
Die Tampons auf dem Herren-Klo des Stuttgarter Rathauses kann man mit gutem Grund für absurd halten. In der Union stilisieren sie solche Fälle von "Wokeness" aber mittlerweile zur umfassenden Bedrohung - allen voran der bayerische Ministerpräsident.
Markus Söder, CSU, Ministerpräsident Bayern
"Es gibt so in unserem Land so eine neue Bewegung: Wokeness."
Der Begriff stammt eigentlich aus den USA. Der Duden definiert "woke" als "in hohem Maß politisch wach und engagiert gegen insbesondere rassistische, sexistische, soziale Diskriminierung".
Längst aber ist "Wokeness" auch unter deutschen Konservativen zum negativen Kampfbegriff mutiert. Eine Chiffre für vermeintliche Sprechverbote und moralische Bevormundung.
Markus Söder, CSU, Ministerpräsident Bayern
"Aus Berlin heraus: Wokeness. Das ist und das sage ich euch in aller Deutlichkeit, keine neue Freiheit, sondern illiberales zwanghaftes Spießertum."
"Ich will mehr Polizei auf den Straßen, aber weniger Sprech- und Denkpolizisten in den ideologischen grünen Stuben. Das braucht es nicht! Wir sind ein Land der Freiheit und kein Land des Zwanges, liebe Freunde."
Es ist ein Kulturkampf, in den auch die CDU einstimmt:
Christoph Ploß, CDU, Bundestagsabgeordneter
"Wir haben gesagt, die Wokeness in Deutschland, die darf sich nicht weiter ausbreiten. Wir wollen gegenhalten."
CDU-Chef Friedrich Merz lässt mittlerweile kaum eine Gelegenheit aus, um etwa gegen das Gendern zu wettern. Auch er malt das Gespenst woker Meinungspolizisten an die Wand:
Tweet Friedrich Merz
"Die größte Bedrohung für die Meinungsfreiheit ist aus meiner Sicht inzwischen die Zensurkultur, auch Cancel-Culture genannt."
Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, Blätter für deutsche und internationale Politik
"Die Union sattelt ganz strategisch auf eine gesellschaftliche Debatte auf, die ja im Gange ist. Und das ist der Grund, warum sowohl Merz als auch Söder die Chance beim Schopf packen und sagen: Wir müssen ansetzen auf das, was in einem Teil der Gesellschaft nicht begriffen wird. Beispielsweise auch LGBTQ-Debatten, Gender-Debatten, auch im öffentlich-rechtlichen Rundfunk. Das ist gewissermaßen eine Steilvorlage. Und insofern lässt die Union die Chance natürlich nicht verstreichen, auf diesem Feld Terrain gutzumachen. Auch natürlich, indem man der AfD klassische rechtspopulistische Themen abgreift und versucht, dort zu punkten."
Tatsächlich reicht das Unbehagen über den woken Zeitgeist weit über das AfD-Milieu hinaus. So lehnen 65 Prozent der Bevölkerung etwa das Gendern laut einer Umfrage ab.
In ihrer Agitation gegen die "Wokeness" aber versinkt die Union zuweilen im Populismus.
Als etwa im Sommer ein Kinderbuchverlag zwei Winnetou-Bücher aus politischen Gründen zurückzieht kursiert die Falschmeldung, auch die ARD hätte Winnetou gecancelt. Tatsächlich waren nur die Filmrechte ausgelaufen, Winnetou läuft jetzt im ZDF.
Etliche Unionspolitiker aber laufen in den sozialen Medien Sturm, stilisieren sich als Freiheitskämpfer für ein bedrohtes kulturelles Erbe.
Ähnlich die Reaktion als die Stadt Würzburg auf ihrem Volksfest den Schlager Layla wegen Sexismus aus den Zelten verbannte. Plötzlich lief das Lied von der "geilen Puffmutter" auf diversen Unions-Veranstaltungen, so wie hier bei der Jungen Union in Hessen.
"Ich hab nen Puff, und meine Puffmama heißt Layla, sie ist schöner, jünger, geiler."
Das irritiert auch den der CDU eng verbundenen Politikwissenschaftler Andreas Püttmann.
Andreas Püttmann, Politikwissenschaftler
"Also mir erscheint das manchmal pubertär. Wie man also trotzig aufstampfend bestimmte Lieder abspielt, die jetzt andere wiederum für sexistisch halten. Also man erlebt wirklich einen erstaunlichen Positionswechsel in der Verteidigung christlich-konservativer Wertestandards. Eine geile Puffmutter ist jetzt nicht das, was ich mir als Konservativer vorstelle von mit Pathos zu verteidigender Diktion."
Welche Werte aber verteidigt der Konservatismus heute noch? Seit Monaten führt die CDU eine Diskussion um ein neues Grundsatzprogramm. Seit ihrer Niederlage bei der Bundestagswahl steckt die Partei in einer tiefen Identitätskrise, wie CDU-Vize Carsten Linnemann erstaunlich offen einräumt:
Carsten Linnemann, CDU, stellv. Parteivorsitzender
"Wir sind ja schon so ein bisschen hier und da dünn besiedelt, was die Inhalte anbelangt. Wir müssen uns neu aufstellen. Wir müssen die Partei mitnehmen."
"Wir brauchen wieder eine tolle Erzählung für die CDU. Und wir brauchen wieder Punkte, die uns wirklich von anderen unterscheiden."
In diese Lücke stößt nun offenbar der Kampf gegen Wokeness. Dafür spricht auch diese Personalie: Der Historiker Andreas Rödder leitet die Kommission für "Wertefundament und Grundlagen" der CDU, er soll die neue DNA der Partei ausarbeiten.
Wir treffen Rödder am Montag auf einer Konferenz des von ihm gegründeten, CDU-nahen Thinktanks R21. Auch hier Thema: "Wokes Deutschland – Identitätspolitik als Bedrohung unserer Freiheit?"
Prof. Andreas Rödder, CDU
"Es ist wichtig, dass die Union diese Herausforderungen dieses Kulturkampfs, den wir erleben, annimmt, dass sie sie aufnimmt, dass sie die Auseinandersetzung führt."
Die Sprecherinnen auf der Konferenz eint vor allem eines: Die Überhöhung von "Wokeness" zur umfassenden Bedrohung unserer Demokratie:
Judith Sevinc Basad, Journalistin
"Ich glaube, dass die woke Bewegung gerade die größte Gefahr für unsere Gesellschaft darstellt."
Kristina Schröder, CDU, ehem. Familienministerin
"Die, die so ticken, das ist eine Minderheit. Aber die sind im Besitz der kulturellen Produktionsmittel, in den Medien, in den Unis, in den NGOs."
Dieter Nuhr, Kabarettist
"Und man hat das Gefühl, dass hier eben eine machtvolle kleine Elite versucht zu steuern gegen einen Großteil der Bevölkerung."
Verschwörungsideologisch angehauchte Thesen - man wüsste gern, ob das der neue Sound der CDU sein soll. Partei-Vize Linnemann und JU-Chef Tilman Kuban sind zwar anwesend, wollen Kontraste aber kein Interview geben.
Albrecht von Lucke, Politikwissenschaftler, Blätter für deutsche und internationale Politik
"Natürlich muss die Union, das war auch der Anspruch von Friedrich Merz, Wählerinnen und Wähler von der AfD zurückholen. Die Frage ist bloß: Wie macht sie das? Und die große Gefahr besteht darin, dass, wenn sie eine linke Gefahr riesig macht, überproportional, dass sie damit gewissermaßen die eigentlich große Gefahr im Land, nämlich die rechte Gefahr, auch die rechte Gefahr für die Demokratie, dass sie die gleichsam nivelliert, ja sogar klein macht."
Mit Blick auf die USA könnte man Rödder das bereits vorwerfen. Den Sturm aufs Capitol durch radikale Trump-Anhänger und Rechtsextremisten ordnet er etwa so ein.
"Der umstürzlerische Rechtspopulismus ist eben die Antwort auf Wokeness. (…) ich halte die Cancel-Culture der Linken im Grunde für ebenso problematisch."
Andreas Püttmann, Politikwissenschaftler
"Jetzt sind sogar die Linken schuld daran, dass die Rechten ausflippen und das Kapitol stürmen. […] Also zu sagen, man hielte linke Cancel-Culture für genauso problematisch wie einen faschistoiden Sturm eines demokratischen Parlaments. Also das ist so absurd."
Konservative und ihr Kulturkampf gegen die Wokeness - man darf gespannt sein, wohin er die Union noch führt.
Beitrag von Pune Djalilevand, Anne Grandjean und Kaveh Kooroshy