Untergangsstimmung in Putins Geheimdienst? -
Im Machtapparat des Kremls rumort es – so zumindest sagt es Maria Dmitriewa, eine Ärztin, die nach eigenen Angaben für zahlreiche russische Sicherheitsbehörden gearbeitet hat. Kontraste hat die junge Frau an der französischen Mittelmeerküste getroffen, wo sie Asyl beantragt hat. Kurz vor ihrer Ausreise war sie noch für den Inlandsgeheimdienst FSB tätig. Sie ist die erste Insiderin aus den russischen Sicherheitsbehörden, die nach Kriegsbeginn offen von der Stimmung dort spricht. Vielen Mitarbeitern sei bewusst, dass der Krieg gegen die Ukraine nicht mehr zu gewinnen sei. Sie sorgten sich um ihre Zukunft, die Unterstützung Putins bröckele, sagt sie. Auch die Quellen des Menschenrechtsaktivisten Wladimir Osetschkin bestätigen großen Unmut in den russischen Geheimdiensten. Dies sei auch der Grund, warum Putin den Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow zum Generaloberst befördert habe.
Anmoderation: Die Ukrainer scheinen gerade jeden Tag mehr Grund für vorsichtige Hoffnung zu haben - kaum jemand hätte gedacht, dass sie dem russischen Einmarsch so lange die Stirn bieten können – und jetzt gelingt es ihnen sogar immer öfter, Russlands Truppen zum Rückzug zu zwingen, wie gerade aus der lange besetzten Stadt Cherson. Es wird stiller und einsamer um Putin. Und wie nervös manche in seinem Geheimdienstapperat inzwischen sind, für wie ausssichtlos sie diesen Krieg halten, das konnte unser Reporter David Hoffmann von Insidern erfahren.
Die französische Atlantikküste – hier treffen wir gleich einen Mann, der in großer Gefahr lebt. Er wird schwer bewacht, erst kurz vorher erfahren wir den genauen Treffpunkt – denn unlängst soll es ein Attentatsversuch auf ihn gegeben haben: Wladimir Osetschkin – der russische Menschenrechtsaktivist ist Putin offenbar ein Dorn im Auge, denn er hat Kontakte in das Innere des russischen Geheimdienstapparats – und dort herrsche vielfach Untergangsstimmung.
Wladimir Osetschkin, Menschenrechtsaktivist
"Meinen Quellen nach zu urteilen, glauben sehr viele im System, dass das, was Putin am 24. Februar begonnen hat, in den Abgrund, in die Katastrophe führe, dass der Krieg sein größter Fehler gewesen ist. Viele im System empfinden das sogar als Verrat. Denn in den vergangenen 20 Jahren hat das gesamte System der Sicherheitsbehörden in Russland Wladimir Putin dabei geholfen an der Macht zu bleiben."
Seit Kriegsbeginn versorgt ein Putin-kritischer Geheimdienstler Osetschkin mit Insider-Berichten, sie wurden unter dem hashtag "wind of change" bei Twitter bekannt. Nach Kontraste-Informationen werden diese Berichte in westlichen Diensten als authentisch eingeschätzt. Inzwischen haben sich immer mehr Mitarbeiter russischer Sicherheitsbehörden an Osetschkin gewandt - sie leaken Dokumente, liefern Informationen und bitten ihn um Unterstützung bei der Flucht aus Russland, erzählt er.
Wladimir Osetschkin, Menschenrechtsaktivist
"Wir bekommen jeden Tag mehrere Briefe von Angehörigen der Armee, des FSB, von der Polizei, aus dem Strafvollzugsdienst, von den Wagner-Leuten. Es ist eine regelrechte Flut."
Eine, der die Flucht gelungen ist, ist sie: Maria Dmitriewa. Mit Hilfe von Osetschkin hat sie inzwischen in Frankreich politisches Asyl beantragt. Die Ärztin war noch im Sommer für den Geheimdienst FSB tätig, hat dessen Mitarbeiter behandelt und war selbst mit einem hochrangigen Nachrichtendienstoffizier liiert, zuvor arbeitete sie für das Innen- und das Verteidigungsministerium. Sie schäme sich für Russlands Krieg, erzählt sie uns.
Marija Dmitriewa, Ärztin
"Mein Leben teilt sich auf in ein davor und ein danach. Was soll ich denken, wenn mein Land ein fremdes Land überfällt und es in unseren Nachrichten aber heißt, die NATO und Amerika wollten uns angreifen und wir hätten alles richtig gemacht?"
Dmitriewas Angaben sind für uns nicht vollständig überprüfbar, aber die Belege, die sie uns vorlegt, wirken authentisch, etwa diese Arbeitspapiere aus der Poliklinik des FSB. Die Ärztin erzählt uns, dass sie für ihre Patienten eine Vertrauensperson war. Sie berichtet von jungen, ausgebrannten Mitarbeitern, die wegen des Kriegs an ihrem Dienst zweifelten:
Maria Dmitriewa, Ärztin
"Man verlässt den FSB nicht einfach so, es ist eine sehr angesehene Arbeit, die nur schwer zu bekommen ist. Wenn dann aber drei junge Mitarbeiter innerhalb eines Monats den Dienst quittieren, dann heißt es, dass sie nicht einverstanden sind.
Viele Mitarbeiter im Sicherheitsapparat hielten die Lage schon jetzt für ausweglos und hätten Angst, sagt sie.
Marija Dmitriewa, Ärztin
"Alle aus meinem Umfeld, also auch Leute die jetzt noch Mitarbeiter der Sicherheitsstrukturen sind, verstehen, dass der Krieg verloren ist. Viele machen sich insgeheim Gedanken darüber, was mit ihnen persönlich passieren wird, wenn Russland seine Niederlage eingestanden hat, weil das auch Leute sind, die direkt am Krieg beteiligt waren, die Zugänge zu Staatsgeheimnissen und Führungspositionen innehatten."
Der Politikwissenschaftler und Russland-Experte Gerhard Mangott hält das für plausibel.
Prof. Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler Universität Innsbruck
Aus meinen Quellen erfahre ich schon, dass es in den Führungsstäben des FSB Fragen danach gibt, wie viel man denn bereit sei, für einen Sieg in der Ukraine zu bezahlen. Und dass auch die Zahl derer zunehme, die Sorge haben, dass Russland diesen Krieg auch verlieren könnte."
Tatsächlich häufen sich zunehmend die Anzeichen für eine Niederlage Russlands. Zwar hat das russische Militär nach dem Einmarsch im Februar schnell große Teile des ukrainischen Staatsgebiets besetzt. Doch inzwischen hat die ukrainische Armee die Russen im Norden und im Osten des Landes deutlich zurückgedrängt.
Gestern erst musste der russische Verteidigungsminister den Rückzug aus Kherson anordnen, der einzigen Gebietshauptstadt, die Russland im Krieg bislang einnehmen konnte.
Mehr als 100.000 Tote und Verletzte hat die russische Armee nach Angaben der US-Armee bereits zu verzeichnen. Um die Verluste auszugleichen, wurden zuletzt mindestens 300.000 Soldaten mobilisiert. Viele von ihnen beklagen sich über schlechte Ausrüstung – hier zeigen sie ihre verrosteten Sturmgewehre. Und in diesem Video fordert eine Vorgesetzte die Soldaten auf, sich selbst um die medizinische Versorgung zu kümmern.
Vorgesetzte
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Auch solche Bilder sind immer wieder zu sehen: alte russische Militärtechnik, darunter T 62 Panzer – rund fünfzig Jahre alt. Viele Russen fürchten in der schlecht ausgestatteten Armee ums Leben zu kommen und fliehen vor der Mobilmachung. Seit September haben mehr als 400.000 Menschen das Land verlassen.
Putin steht unter Druck. Wladimir Osetschkin sagt, dass der russische Machthaber daher zunehmend auf Akteure außerhalb der etablierten Strukturen setzt. Etwa auf den berüchtigten Tschetschenen-Führer Ramsan Kadyrow, den er jüngst zum Generaloberst beförderte – Kadyrow gilt als besonders brutal und loyal. Laut Osetschkin sehen viele im Sicherheitsapparat Kadyrows zunehmenden Einfluss aber als Gefahr:
Wladimir Osetschkin, Menschenrechtsaktivist
"Ich habe eine ganze Reihe von Briefen, in denen sie panische Angst ausdrücken, weil sie sehr gut verstehen, dass Kadyrow ein waschechter Verbrecher ist. Ramsan Kadyrow hat einst gegen die russische Armee gekämpft und war an der Ermordung russischer Militärs beteiligt. Für sie ist es Verrat, dass ein Tschetschene, gegen den sie einst gekämpft hatten, zum Leiter ernannt wird."
Schon jetzt hätten Kadyrows Leute bessere Gehälter und modernere Ausrüstung als die regulären Truppen. Immer wieder inszenieren sich seine Einheiten medial in solchen Videos. Der Tschetschene könnte für Putin auch im Inland noch wichtig werden, etwa bei der Niederschlagung von Protesten. Ende September drohte ein Kadyrow-Vertrauter regierungskritischen Studenten in ganz Russland:
Adam Delimchanow, Abgeordneter Duma, Einiges Russland
"Wir werden jeden einzelnen von Euch zur Rechenschaft ziehen, dafür dass ihr unser Land, unsere Verfassung, unsere Hymne und unseren Präsidenten Wladimir Wladimirowitsch Putin beschmutzt und beleidigt. Ihr werdet Euch alle dafür verantworten müssen. Das verspreche Ich Euch."
Auch Jewgeni Prigoschin, Chef der berüchtigten Söldner-Armee "Wagner" wird für Putin immer wichtiger. In den vergangenen Wochen hat Prigoschin persönlich in russischen Gefängnissen unter Schwerstkriminellen um Rekruten für den Ukraine-Krieg geworben.
Jewgeni Prigoschin, Unternehmer und Chef der Söldner Gruppe Wagner
"Wir brauchen nur die, die kämpfen wollen, denen es gefällt, die es brauchen. Wenn ihr euch entscheidet mit uns zu gehen, kommt Ihr nicht wieder zurück in den Knast."
Prigoschin und Kadyrow. Beide sind Hardliner – und Außenseiter. Sie stammen nicht aus der russischen Armee oder dem Geheimdienst. Russland-Experte Stefan Meister erkennt darin eine Strategie Putins.
Stefan Meister, Politikwissenschaftler DGAP
"Mal gucken, was der Kadyrow auf die Reihe kriegt, mal schauen, was der Prigoschin mit seinen Wagner-Leuten kann. Und damit übt er einerseits Druck auf das Militär aus, dass sie auch liefern, vielleicht auch härter werden. Und andererseits man schafft sich Optionen, man lässt auch vielleicht Akteure miteinander in einen Wettbewerb gehen und unterstützt dann die erfolgreichen Leute. Und die anderen werden dann eben dafür auch bestraft, dass sie versagt haben oder dass das ganze System versagt hat."
Maria Dmitriewa glaubt, dass der Krieg wegen des zunehmenden Einflusses von Prigoschin und Kadyrow, weiter eskalieren wird. Zwei Quellen aus dem FSB hätten ihr kurz vor ihrer Flucht von der Sitzung des russischen Sicherheitsrats am 10. Oktober berichtet.
O-Ton Marija Dmitriewa, Ärztin
"Sie haben besprochen, wie man die Situation in der Ukraine unter Kontrolle kriegen könnte. Dabei war es ihnen völlig egal, mit welchen Mitteln dieses Ziel erreicht wird und wie viele Zivilisten dabei sterben."
Am gleichen Tag begann Russland mit der systematischen Bombardierung der ukrainischen Infrastruktur.
Beitrag von David Hoffmann, Kaveh Kooroshy und Markus Pohl