Krankenhaus in Bielefeld. Bild: rbb
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Betäubt und vergewaltigt - Viele Opfer noch nicht informiert?

Es ist eine der größten Vergewaltigungsserien Deutschlands: Ein Assistenzarzt setzte in einem Bielefelder Krankenhaus 29 Patientinnen unter Narkose, um sie zu vergewaltigen - und dabei zu filmen. Kontraste recherchiert seit fast zwei Jahren zu diesem Verbrechen. Hätte der Täter früher gestoppt werden können? Nun wird klar: Nicht nur die Klinik hätte Hinweisen von Patientinnen früher nachgehen können. Auch an der Arbeit der Ermittlungsbehörden gibt es berechtigte Kritik, das Justizministerium entzog der zuständigen Staatsanwaltschaft sogar den Fall und übergab ihn an die Staatsanwaltschaft Duisburg. Im Exklusiv-Interview erklärt der damalige Justizminister die Hintergründe für seine Entscheidung. Und: Exklusive Informationen, die Kontraste und dem Kölner Stadt-Anzeiger vorliegen, zeigen, dass offenbar noch immer viele Frauen nicht wissen, dass sie vergewaltigt wurden. Denn auch außerhalb der Klinik missbrauchte Philipp G. offenbar zahlreiche Frauen. Die Ermittlungen dazu laufen.

Anmoderation: Es ist einer der größten Vergewaltigungsfälle Deutschlands: Und gleichzeitig der, der wohl am besten dokumentiert wurde: Dafür hat der Täter, Assistenzarzt am Bethel Klinikum Bielefeld selbst gesorgt – er filmte, wie er Frauen erst betäubte und dann vergewaltigte. Viele von ihnen nachts auf der Krankenstation. Aber nicht alle - und genau die wissen bis heute wohl nicht, dass sie Opfer wurden. Denn der Täter lebt nicht mehr. Damit war für die Ermittler auch der Fall geschlossen. Für uns aber ist er das noch lange nicht.

Wir treffen zwei Frauen, die in Bethel Zimmernachbarinnen waren. Sonja M. und Jasmin G., so nennen wir sie – wollen ihre Kinder schützen und nicht erkannt werden. Erst in diesem Jahr haben sie von der Polizei erfahren, dass sie 2019 mehrfach von einem Assistenzarzt vergewaltigt wurden. Was Jasmin G. lange nicht wusste - Mutmaßlich übertrug ihr dieser dabei eine Geschlechtskrankheit.

Jasmin G.

"Ich hatte immer starke Schmerzen, wenn ich zur Toilette musste. Ich habe es keine 30 Minuten ausgehalten den Urin anzuhalten. Dann wurde mir von den Ärzten auch bestätigt, dass es höchstwahrscheinlich davon kommen kann, dass ich mehrere Zysten am Gebärmutterhals habe und auch die Blase in Mitleidenschaft gezogen wurde."

Möglicherweise muss ihr jetzt sogar die Gebärmutter entfernt werden.

Damals trifft die Staatsanwaltschaft Bielefeld die folgenschwere Entscheidung die Ermittlungen einzustellen und vielen betroffenen Frauen nicht von den Vergewaltigungen zu berichten.

Jasmin G.

"Ich kreide das der Staatsanwaltschaft Bielefeld an, weil wenn sie mich früher informiert hätten, dann hätte ich diese ganzen Schmerzen fast zwei Jahre nicht gehabt. Das hat meinen Alltag total beeinträchtigt."

Sonja M.

"Jedes Opfer hat das Recht darüber informiert zu werden, damit ich mich behandeln lassen kann, damit ich in Ordnung bringen kann, was da mit mir passiert ist."

Gegen die Entscheidung in Bielefeld wird von Betroffenenanwälten zwar Beschwerde eingelegt – doch die nächsthöhere Behörde, die Generalstaatsanwaltschaft Hamm, bestätigt die Einstellung. Die Folge: viele Frauen werden weiterhin nicht informiert.

Auch wegen unserer Recherchen passiert etwas Ungewöhnliches. Das Justizministerium von Nordrhein-Westfalen schreitet ein. Der ehemalige Justizminister Peter Biesenbach entscheidet, den Fall wieder aufzumachen und an die Staatsanwaltschaft Duisburg zu geben. Exklusiv erzählt er uns, warum das notwendig war.

Peter Biesenbach (CDU), ehem. Justizminister NRW

"Die Entscheidung, die Betroffenen nicht zu informieren, war von Anfang an falsch. Und als sich dann auch noch die Geschlechtskrankheit herausstellte, war sie sogar evident rechtswidrig. Die Betroffenen hatten ein Anrecht darauf, informiert zu werden."

Das Justizministerium hinterfragt damals: ist die Generalstaatsanwaltschaft Hamm bei diesem Fall wirklich objektiv?

Peter Biesenbach (CDU), ehem. Justizminister NRW

"Bei uns in der Strafrechtabteilung entstand der Eindruck, dass gerade auch die Generalstaatsanwältin sich möglicherweise relativ frühzeitig auf einen Standpunkt festgelegt hatte, den sie zu verteidigen versuchte. Und dann sind Argumente gekommen, die aus der Sicht der Strafrechtsabteilung absurd waren. Und so entstand der Verdacht, dass möglicherweise nicht alle Ermittlungsansätze und auch nicht alle bekannten Tatsachen objektiv so gegeneinander abgewogen wurden, wie es dann auch, wenn Sie so wollen, sachgerechter Arbeit entspricht."

Die Staatsanwaltschaft Duisburg ermittelt nun seit fast einem Jahr weiter. Kontraste teilt sie mit: alle betroffenen ehemaligen Patientinnen der Klinik Bethel, insgesamt 29 Frauen, wurden mittlerweile informiert. Sie wissen nun, dass Philipp G. sie teilweise mehrfach vergewaltigte.

Wissen jetzt alle Opfer Bescheid? Kontraste und der Kölner Stadtanzeiger finden heraus – offenbar nicht! Es gibt wohl weitere Betroffene, die immer noch nicht informiert wurden.

Aus Ermittlerkreisen bekommen wir die Information, dass der Täter eine Liste mit 80 Frauennamen führte. Entschlüsselte Videodateien von ihm zeigen demnach wie er bereits seit 2014 Frauen sedierte und sexuelle Handlungen an ihnen vornahm. Auch Frauen aus seinem privaten Umfeld könnten betroffen sein. Die Dateien müssten bereits der Staatsanwaltschaft Bielefeld vorgelegen haben.

Kontraste und der Kölner Stadtanzeiger finden heraus: offenbar werden diese erst seit etwa einem Jahr von den Duisburger Behörden ausgewertet. Auf Nachfrage zum aktuellen Ermittlungsstand schreibt uns die Staatsanwaltschaft:

Zitat: Die Prüfung, ob es auch außerhalb des Klinikums zu Straftaten des Verstorbenen gekommen ist, dauert noch an. Damit ist derzeit noch unklar, ob und ggf. wie viele weitere möglicherweise Geschädigte/Opfer es gibt.

Die fragwürdige Entscheidung der Staatsanwaltschaft Bielefeld, die Ermittlungen einzustellen, hat Zeit gekostet. Zeit für die so wichtige Wahrheitsfindung für die verbleibenden noch uninformierten Opfer.

Wir fragen uns: Wie konnte Philipp G. so lange Frauen missbrauchen, ohne gestoppt zu werden?

Das ist Philipp G. privat. Eine scheinbar unbeschwerte Zeit verbringt er hier mit Freund*innen in Holland. Er scheint gern unter Menschen zu sein, geht feiern, ist in einem Schützenverein und Mitglied einer Band.

Es gelingt uns mit jemandem aus seinem näheren Umfeld zu sprechen. Die Person möchte anonym bleiben. Sie erzählt uns, Philipp G. habe in Bethel oft Nachtdienste übernommen. Das wäre gut angekommen, habe viele entlastet. Irgendwann habe er sich verändert.

"Er kam übermüdet und ungepflegt riechend zur Arbeit, war zeitweise unkonzentriert aber auch sehr überdreht und hyperaktiv. Das wurde durch Freunde bestätigt, auch dass er Drogen konsumierte. Irgendwann wurde sein Verhalten auffällig und an die Ärzteschaft weitergegeben."

Immer wieder gibt es Hinweise zum Verhalten von Philipp G. Vor allem zu seiner scheinbar grundlosen Verwendung von Propofol. Als der Chefarzt davon erfährt, untersagt er ihm die weitere Verabreichung des Narkosemittels. Doch das sei kein konsequentes Handeln erklärt Prof. Dr. Frank Wappler, Präsident der "Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin".

Prof. Dr. Frank Wappler, Präsident der "Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin"

"Dann wäre die logische und notwendige Konsequenz, diese Person von der Arbeit freizustellen. Er darf keinen Patientenkontakt mehr haben, weil hier ganz offensichtlich eine hochgefährliche Situation besteht, die weitab von jedem medizinischen Standard sich befindet und natürlich auch erwägen, hier juristischen Beistand hinzuzuziehen, um zu klären, ob hier eine auch strafbare Handlung vorliegt."

Trotzdem konnte Philipp G. auch nach dem Verbot Propofol anwenden – weitere sieben Monate! Wie kann das sein?

Die Klinik antwortet darauf nicht. In einer früheren Stellungnahme heißt es:

Damals wären alle erforderlichen Maßnahmen eingeleitet worden, um der nicht-sachgemäßen Medikamentengabe nachzugehen. Jetzt werde vollumfänglich mit den Behörden kooperiert. Die oberste Priorität hätte die Hilfe für die Opfer.

Sonja M. und Jasmin G. erinnern das komplett anders. Besonders als sie meldeten, dass der Assistenzarzt nachts in Ihrem Zimmer war, um ihnen etwas zu verabreichen.

Sonja M.

"Das wurde nicht ernst genommen, auch nicht von den Schwestern, wo allerdings der Chefarzt dabei war, wurde mir auch gesagt, ich hätte eine Krankenhausdepression und ich sollte einfach ein bisschen rausgehen, das kann nicht sein."

Geholfen habe ihnen damals niemand.

Beitrag von Simone Brannahl, Susett Kleine und Lisa Wandt