Ukraine-Krieg -
Die neue russische Offensive habe bereits begonnen, so NATO-Generalsekretär Stoltenberg. Mit immer neuen Angriffswellen und unter hohen eigenen Verlusten versucht Putin die Entscheidung im Donbass zu erzwingen. Auch wenn der Westen nun bereit ist, moderne Kampfpanzer an die Ukraine zu liefern, könnte das zu spät sein. Kontraste hat mit Expertinnen und Experten darüber gesprochen, worauf es jetzt ankommt und wie der Krieg sich wahrscheinlich entwickeln wird.
Anmoderation: Ein Jahr dauert dieser Krieg inzwischen – das ist lang genug, um ein Land zu zermürben – und zu kurz, um sich auch nur ansatzweise an den Gedanken zu gewöhnen, dass nicht weit von hier Menschen tagtäglich um ihr eigenes Überleben und das ihres Landes kämpfen. Sie und uns treibt vor allem eine Frage um: Wie wird es weitergehen in diesem Krieg?
Bilder von heute: Die lange befürchtete russische Offensive im Osten der Ukraine läuft.
Dieses Video zeigt die berüchtigte Wagner-Gruppe, die vor einigen Tagen einen Vorort von Bachmut eingenommen hat. Wieder einmal ist die Ukraine in diesem Krieg in einer besonders kritischen Lage.
Wie geht es nun weiter? Kontraste hat mit drei Expert*innen gesprochen: Gustav Gressel, Militärexperte am European Council on Foreign Relations; Sarah Pagung, Russland- und Sicherheits-Expertin der Körber-Stiftung; und Nico Lange, Zeitenwende-Beauftragter der Münchner Sicherheitskonferenz, ehemals Leiter des Leitungsstab im Verteidigungsministerium.
Beide Seiten hatten in den vergangenen Wochen und Monaten ihre Stellungen ausgebaut. Sich in Grabenkämpfen festgefahren.
Nico Lange
"Und jetzt versucht Russland an bestimmten Abschnitten der Front noch mal neue Kräfte, frische Kräfte und auch stärkere Kräfte reinzubringen, um Fortschritte zu erreichen [...] Im Grunde kann man es sich so vorstellen, fast wie im ersten Weltkrieg: Also eine große Masse von Soldaten wird vorgeschickt und muss auf Biegen und Brechen bis zu einem bestimmten Punkt vorstoßen."
Russland setzt auf Masse: Der ukrainische Geheimdienst geht inzwischen von 320.000 russischen Soldaten im Kriegsgebiet aus. Weitere 150.000 Rekruten werden in der Reserve vermutet.
Die Einheiten greifen in Wellen an – oft ohne Deckung. Die Verluste sind dementsprechend enorm. Insgesamt fielen dem Krieg wohl schon mehr als 300.000 Menschen zum Opfer. Genaue Zahlen gibt es nicht.
Die Ukraine meldet derzeit rund 1.000 gefallene russische Soldaten täglich. Putin nimmt das in Kauf.
Gustav Gressel
"Zurzeit ist er in einem Modus, wo für ihn ein schlechter Krieg besser ist als ein verwackelter Friede."
Zum Jahrestag des Krieges, spätestens aber bis Ende März, will er Gebietsgewinne präsentieren.
Der aktuelle Frontverlauf: Offenbar will Putin jetzt die beiden Regionen Luhansk und Donezk komplett einnehmen, zusammen bilden sie den Donbass. Die Offensive zielt vermutlich auch auf diese Bahnstrecke ab. Es ist die Hauptverbindung von Moskau in den Donbass.
Noch halten ukrainische Truppen trotz Dauerbeschuss die Stadt Bachmut.
Das russische Verteidigungsministerium präsentiert Bilder aus der Region: eine Feuerwalze.
In Bachmut sollen die Ukrainer aber inzwischen ungefähr gleich viel Artillerie zusammengezogen haben. Auch bewaffnete Drohnen kommen zum Einsatz. Doch für eine Gegenoffensive reicht es nicht.
Gustav Gressel
"Auf ukrainischer Seite ist es das Problem, dass eben zu wenig Kampffahrzeuge da sind, um jetzt wirklich breit mechanisiertes Gefecht zu führen."
Die Ukraine ist in der Defensive. Und je länger der Krieg dauert, desto mehr ist man auf den Westen angewiesen.
Sarah Pagung
"Das Kalkül, was in Moskau herrscht, ist, dass die westliche Unterstützung für die Ukraine auf Dauer nachlassen wird."
Von den zugesagten Kampfpanzern westlicher Bauart kam bislang noch kein einziger an. Immerhin: Die Ausbildung hat inzwischen begonnen. Das dauert - eine kritische Phase für die Ukraine. Denn in der Heimat können sie nur mit dem kämpfen, was da ist. Allerdings: Die Munition geht zur Neige. Die Nachlieferung aus dem Westen stockt.
Nico Lange
"Wenn Sie sehen, dass die Ukraine im Monat so viel Artillerie-Munition verschießt, wie bisher Europa und die USA nicht gemeinsam produzieren, dann sehen Sie die Größe der Aufgabe."
In Deutschland fährt inzwischen auch Rheinmetall die Produktion von Flugabwehr-Munition hoch. Bis Juli will man liefern.
Nico Lange
"Wenn die Lieferungen so spät kommen, muss man diese Zeit jetzt aufwenden, wenn Russland schon gleichzeitig angreift. Da ist eine Chance verpasst worden im Herbst."
Zu lange hat der Westen gezögert. Russlands Wirtschaft ist längst auf Krieg umgestellt. Und es sind keine Anzeichen von Kriegsmüdigkeit erkennbar.
Sarah Pagung
"Mit der Lieferung von Waffen und auch von Sanktionen [...] sind die Hebel eben auch zu einem gewissen Maße begrenzt, wenn wir uns diesen absoluten Willen auf russischer Seite anschauen."
Für die ukrainischen Kämpfer an der Front zeichnet sich trotz der geplanten Lieferungen bislang noch keine klare Überlegenheit ab.
Sarah Pagung
"Wir müssen uns ernsthaft mit dem Szenario auseinandersetzen, dass das ein Krieg, der vielleicht auch in unterschiedlicher Intensität, aber der über Jahre so weitergehen könnte. [...] Wir müssen uns natürlich auch fragen: Welche Hebel haben wir überhaupt, um da noch eine Beschleunigung zu erreichen?"
Beitrag von Chris Humbs und Daniel Schmidthäussler