Ukraine -
Was passiert mit einem Menschen, der sich dazu entschließt in der Heimat zu bleiben, obwohl dort Krieg herrscht? Die Stadt Charkiw im Osten der Ukraine wird seit Ausbruch des Krieges nahezu ununterbrochen von russischen Truppen beschossen. Über 4.500 Häuser wurden zerstört, ein Drittel der Einwohner sind geflohen. Diejenigen, die geblieben sind, leben einen neuen Alltag: immer wieder ohne Heizung, ohne Strom und in dauernder Angst vor der nächsten Rakete. Seit Kriegsbeginn ist Kontraste immer wieder mit Ukrainerinnen und Ukrainern in Kontakt - sie erzählen, wie das erste Kriegsjahr sie verändert hat.
Anmoderation: Charkiw – das ist nicht nur ein Ortsname, Charkiw ist längst zum Schreckenssymbol geworden. Einst war sie die zweitgrößte Stadt der Ukraine, in diesem Krieg hatte sie das Unglück, näher an der russischen Grenze und weiter im umkämpften Osten zu liegen als Kiew. Seit einem Jahr wird Charkiw ununterbrochen beschossen – die Stadt ist inzwischen fast ausgelöscht. Ihre Bewohner aber harren zum Großteil dort aus – trotzen allen Stromausfällen und immer neuen Angriffen. Zu einigen haben wir über dieses Kriegsjahr Kontakt halten können – und sie erzählen, was sie dort, was sie in Charkiw hält.
Am Bahnhof in Kiew vor wenigen Tagen.
Jurii Petruschewsky, Journalist
"Was sich im letzten Jahr durch den Krieg verändert hat? Es hat sich absolut alles geändert. Wir haben das Gefühl, dass die Russen nicht nur Abertausende von Menschenleben, sondern auch ein Lebensjahr von jedem von uns weggenommen haben. Das heißt, mein Lebensjahr vom 29. bis zum 30. ist einfach weg."
Vor einem Jahr hat Jurii Petruschewsky noch als Fernsehjournalist gearbeitet. Damals ist er schon einmal für Kontraste nach Charkiw gefahren. Wenige Tage später brach der Krieg aus.
Jurii Petruschewsky, Journalist
"Niemand sagt dir, was du tun sollst, wenn der Krieg zu dir nach Hause gekommen ist und der Feind drei Kilometer von deinem Haus entfernt steht. Sie beschießen dein Zuhause und versuchen es zu erobern. Ich habe dann beschlossen, dass ich mein Land, meine Stadt verteidigen muss."
Der Ukrainer schloss sich der freiwilligen Miliz in Kiew an. Zwei Tage nach Kriegsbeginn. Über Videos hielt er seitdem Kontakt mit uns, hier eines aus dem Schützengraben.
Archiv: Jurii Petruschewsky, Journalist
"Bis zum 24. Februar 2022 war ich ein Journalist bei einem ukrainischen Fernsehsender. Heute nicht mehr. Ich habe die Entscheidung getroffen, ein Gewehr in die Hand zu nehmen (…) und mein Land vor den russischen Besatzern zu schützen."
Als sich die russischen Truppen von der Hauptstadt zurückzogen, entschloss er sich, wieder als Journalist zu arbeiten. Rückblickend eine Entscheidung, die ihm das Leben gerettet hat.
Jurii Petruschewsky, Journalist
"Viele Menschen, die mit mir in der Territorialverteidigung waren, wurden getötet. Sie wurden nach Bachmut geschickt. Es überlebten nur 18 der 120 Leute aus meiner Einheit."
Nur 18 von 120 überlebten den Einsatz. Eine Information, die selten öffentlich gemacht wird. Die Regierung nennt keine konkreten Zahlen zu Kriegsopfern.
Elf Tage vor Beginn des Krieges war Jurii schon einmal in Charkiw, der zweitgrößten Stadt der Ukraine, nahe der russischen Grenze. Dort traf er den Bürgermeister der Stadt, Ihor Terechow. Einen Angriff Russlands auf die Ukraine hielt der damals für ausgeschlossen.
Archiv 13.2.2022: Ihor Terechow, Bürgermeister Charkiws
"Ich bin mir sicher, dass es keinen Krieg geben wird. Charkiv war ukrainisch und wird ukrainisch bleiben. Charkiw war friedlich und wird auch eine kreative und friedliche Stadt bleiben."
Doch wie so viele hat auch er sich geirrt. Nur elf Tage nach diesem Interview fielen die ersten Bomben auf Charkiw.
Russische Panzer drangen in die Vororte ein, bereits in den ersten Tagen des Krieges. Über drei Monate beschossen russische Truppen die Gebiete Charkiws ununterbrochen - zerstörten über 3.500 Wohn- und Verwaltungsgebäude, die Universität und Krankenhäuser.
Eine Zeit lang verlief die Front in der Nähe dieses Wohngebiets. Viele der Häuser sind unbewohnbar.
Hier trifft unser ukrainischer Kollege vor wenigen Tagen den Bürgermeister wieder.
Ihor Terechow, Bürgermeister Charkiw
"Wir haben ehrlich nicht geglaubt, dass im 21. Jahrhundert jemand gegen die Ukraine in den Krieg ziehen würde, dass Russland das machen würde. Es sind viele Menschen bereits gestorben."
Hunderttausende Einwohner seien geflohen. Über 100.000 obdachlos. Obwohl die Stadt auch weiter bombardiert wird, wird hier überall gebaut. Ihor Terechow lässt viele Häuser wieder in Stand setzen.
Ihor Terechow, Bürgermeister Charkiw
"Trotz dieses ganzen Schreckens und Horrors, wir arbeiten rund um die Uhr. Auch damit Charkiw wieder Strom, Wärme und Wasser hat. Das ist schwierig. Trotzdem kehren die Bewohner aus Charkiw wieder in ihre Stadt zurück."
Noch einmal will er sich von Putin nicht überraschen lassen.
Ihor Terechow, Bürgermeister Charkiw
"Ich kann nicht sagen, was Russland jetzt noch tun wird. Niemand weiß, was in ihren Köpfen vorgeht. Die Frage ist nicht, ob sie vorrücken, sondern ob wir bereit sind."
Jurii Petruschewsky, Journalist
"Und sind Sie bereit?"
Ihor Terechow
"Ja! "
Vor einem Jahr hatte Jurii auch Olena kennengelernt. Die Wirtschaftsingenieurin lebte da noch mit ihrer Tochter in Charkiw. Und wollte sich in einem Selbstverteidigungskurs auf den drohenden Krieg vorbereiten – ihre Stadt im Ernstfall verteidigen können. Doch die Ukrainerin, die hier eigentlich Stärke beweisen wollte, hatte Todesangst.
Olena Chachonina
"Wir wollen, dass hier Frieden herrscht, ich will nicht von hier weggehen. Ich will, dass meine Kinder und Enkel hier weiterleben können. Ich will nicht unter den Ruinen meines eigenen Hauses sterben."
Dann brach der Krieg aus. Trotz des ständigen Beschusses hat es die 58-Jährige geschafft mit uns in Kontakt zu bleiben – schickte uns Videos aus ihrem Versteck im Keller.
Jetzt, ein Jahr später, zeigt sie unserem Kollegen Jurii diese Zuflucht – und erinnert sich an ihre Schrecken des Krieges: Mehrmals wurde ihr Haus bombardiert, auf der Straße geriet sie in einen Bombenhagel. Die Tochter ist mit dem Enkelkind geflohen. Heute wirkt Olena traumatisiert. Sie hat angefangen zu malen – vielleicht auch um das Erlebte zu verarbeiten.
Olena Chachonina
"Ich hoffe, wenn ich das Bild fertig gemalt habe, werden wir gesiegt haben. Deswegen muss ich mich beeilen und will das Bild schneller fertigkriegen. Ich fühle mich immer schuldig, dass ich nicht genug getan habe, dass jemand nicht überlebt hat, dass jemand verletzt wurde. Ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass ich mehr tun muss."
Bevor Jurii zurück nach Kiew fährt, hat er noch eine Botschaft an das Kontraste Publikum.
Jurii Petruschewsky, Journalist
"Sie haben es nicht gehört, liebe Zuschauer, weil alles auf Deutsch übersetzt wurde, aber Charkiw hat angefangen ukrainisch zu sprechen. Das ist eine der Städte in der Ukraine, wo eigentlich russisch gesprochen wurde. Jetzt haben die Leute angefangen ukrainisch zu sprechen. Bei dem Versuch Charkiw russisch zu machen, hat man es noch ukrainischer gemacht."
Und noch etwas lässt Jurii hoffnungsvoll in die Zukunft schauen. Er hat seiner Freundin Nastya einen Heiratsantrag gemacht. Und – sie hat Ja gesagt.
Beitrag von Susett Kleine und Yurii Petrushevskyi