Ukrainische Rettungskräfte und Freiwillige tragen eine verletzte schwangere Frau aus einer Entbindungsklinik, die durch Beschuss in Mariupol, Ukraine, beschädigt wurde. Bild: Evgeniy Maloletka/AP
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Zeitenwende - Wie Putins Aggression Europa eint

Niemals zuvor in der Geschichte haben die Regierungen der 27 EU-Staaten derart schnell gemeinsam reagiert wie bei der Verhängung von Sanktionen gegen Putins Russland. Noch vor den USA hat sich die EU darauf verständigt. Und zum ersten Mal kündigt sie Waffenlieferungen an. Gelingt es nun angesichts einer globalen militärischen Bedrohungslage, die Weichen für eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik zu stellen? Wenn nicht jetzt, dann nie, antworten Experten und mahnen Eile an. Denn eine Wiederwahl Trumps ist nicht ausgeschlossen – und damit wäre der Bestand der Nato bedroht. Europa müsse sich unabhängig machen – vor allem militärisch, auch mit einer eigenen nuklearen Abschreckung. Doch ist das wirklich der letzte Weg, um Aggressoren wie Putin auch künftig zu stoppen? Kontraste spricht mit dem ehemaligen Präsidenten der EU-Kommission Jean-Claude Juncker und dem Politikwissenschaftler Herfried Münkler.

Russlands Krieg macht auch vor einem ukrainischen Atomkraftwerk nicht Halt.   

Russland legt ukrainische Städte in Schutt und Asche.   

Die Skrupellosigkeit und die Brutalität dieses Krieges rufen die Europäische Union so schnell wie nie zuvor auf den Plan.   

In weniger als drei Tagen wird entschieden:  

Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission

"Zum ersten mal überhaupt wird die Europäische Union die Beschaffung und Lieferung von Waffen an ein Land finanzieren, das angegriffen wird. Das ist eine Wendepunkt."

Josep Borrell, Außenbeauftragter Europäische Union

“Das ist der Geburtsakt eines geopolitischen Europas.” 

Olaf Scholz, (SPD) Bundeskanzler

"Wir erleben eine Zeitenwende." 

Die EU einigt sich auf die härtesten Sanktionen ihrer Geschichte. Northstream 2 scheint am Ende. Viele Banken werden vom Swift-Bankenbezahlsystem abgeschnitten. Die russische Zentralbank wird blockiert – und sogar der ungarische Putin-Unterstützer Victor Orban fordert weitere Verschärfungen.

Bereiten ausgerechnet die Kriegsverbrechen Wladimir Putins den Weg zu einem neuen Europa?

In Brüssel treffen wir den ehemaligen Kommissionspräsidenten Jean-Claude Juncker, der Zeit seines Lebens auf Dialog gesetzt hat. Immer wieder suchte er das vertraute Gespräch mit Putin. Nun sorgt er sich, wie es nach einem Kriegsende weitergehen kann.  

 

Jean-Claude Juncker, ehem. Präsident der Europäischen Kommission

Es gibt keine europäische Sicherheitsarchitektur ohne Russland. Daran habe ich jahrelang gearbeitet, auch als Kommissionspräsident. Umso größer ist meine Enttäuschung, dass derjenige, mit dem ich das angedacht habe und weiter gedacht hat, nämlich Putin, jetzt genau das Gegenteil dessen tut, was man tun müsste, um die europäische Sicherheitsarchitektur nicht aufs Papier, sondern auch ins Handeln einzubringen. 

Das Scheitern der Gespräche mit Putin löst die Zeitenwende für Europa aus. Und Erinnerungen an 2014.     

Damals, nach der russischen Annexion der Krim, zogen sich die europäischen Sanktionsbeschlüsse wochenlang hin. Diesmal ging es so schnell, dass selbst die USA erst einen Tag später ihre Sanktionen verkünden konnten.   

Kaum ein Politikwissenschaftler hat sich so intensiv mit politischen Strategien, dem Agieren zwischen Diplomatie und Militärmacht beschäftigt wie Herfried Münkler. 

Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler 

"Ich bin auch der festen Überzeugung, (…) dass die Herausforderungen, vor denen man jetzt steht, die Zentripetalkräfte, also die zusammenhaltenden Kräfte, stärker macht. (…) Und insofern könnte es sein, dass in den Geschichtsbüchern, die in ein paar Jahrzehnten geschrieben werden, festgehalten wird, dass Putin der entscheidende Faktor bei der Konsolidierung des Europaprojekts gewesen ist. " 

Bisher kommt die 2007 im Vertrag von Lissabon festgeschriebene gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik kaum voran.

Es bleibt bei Initiativen einzelner Mitgliedstaaten.  

So bietet Frankreichs Präsident Emanuel Macron 2020 an, die französische Atomstreitmacht auch zum Schutz anderer EU-Länder einzusetzen. Und diese an militärischen Übungen zu beteiligen.  

Eine gemeinsame europäische nukleare Abschreckung als Ziel?  

Relevant wird diese Option, wenn Donald Trump tatsächlich eine zweite Amtszeit anstrebt. Er stellt die Mitgliedschaft der USA in der NATO in Frage – und damit Europas wichtigste Schutzmacht.

Es sei Zeit, nicht mehr nur auf die USA zu setzen, sagt Herfried Münkler.   

Herfried Münkler, Politikwissenschaftler 

"Im Augenblick glaube ich es wirklich vordringlich, so etwas wie eine europäische, gemeinsame europäische Verteidigungsfähigkeit herzustellen. (...) bislang hat sich das gewissermaßen in nationalen Egoismen und Besonderheiten verlaufen. Wenn man das zusammenfasst, kann man zuversichtlich sein, dass ein hinreichendes europäisches Abschreckungspotenzial vorhanden ist. Das Ganze verbunden mit einer eigenen nuklearen Abschreckung der Europäer. "  

Jean-Claude Juncker, ehem. Präsident der Europäischen Kommission

"Eine Atombombe für Russland oder eine in Amerika und in Frankreich würde genügen, um massive Zerstörungen provozieren zu können. Wieso brauchen wir Tausende davon? Ich verstehs nicht."  

Die Idee, dass die europäische Freiheit von Russland existenziell bedroht ist, rührt auch daher, dass Putin eisern an seiner geopolitischen Vision festhält. So fordert er am 21. Februar unmissverständlich   

Wladimir Putin, Präsident Russland 21.02.2022

Zitat „.. letztendlich die Rückführung der militärischen Kräfte und der Infrastruktur des Bündnisses in Europa auf den Stand von 1997“  

Das heißt: Er fordert nicht weniger als einen militärischen Rückzug der NATO aus allen seit 1997 dem Bündnis beigetreten EU-Staaten.  

Diese fürchten um ihren militärischen Schutz. Auch deshalb werden die Stimmen lauter, die Aufrüstung in Europa fordern.   

Und welche Rolle hat Deutschland in einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur?

Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler 

"Wenn die Deutschen mehr militärische Macht haben, ist das ein Problem immer in Europa gewesen, weil dann so manche Bilder aus der Vergangenheit bei den Nachbarn aufgetaucht sind. Aber wenn das in einer sehr engen Achse zwischen Berlin und Paris passiert, dann könnte es nicht eine Maßnahme des Misstrauens, sondern als eine des sichtbaren Vertrauens werden. Und da liegt der Ball, wenn ich das mal so sagen darf, im Spielfeld der deutschen Politik. Die Vorgaben von Macron sind da. Man muss sie aufnehmen, aber jetzt auch zügig voranschreiten." 

Olaf Scholz will Deutschlands Beitrag stärken.

Olaf Scholz, Bundeskanzler

 "Wir müssen deutlich mehr investieren in die Sicherheit unseres Landes, um auf diese Weise unsere Freiheit und unsere Demokratie zu schützen."   

100 Milliarden Sondervermögen gibt es für die Bundeswehr, dauerhaft will Deutschland zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben.   

Auch Jean-Claude Juncker unterstützt den deutschen Paradigmenwechsel, wenn er auch hadert:

Jean-Claude Juncker, ehem. Präsident der Europäischen Kommission

"Demokratie braucht Wehrhaftigkeit. Das haben wir zu klein geschrieben in den letzten 20 Jahren, das müssen wir verstärken, aber ich weigere mich anzunehmen, dass alle Konflikte der Welt und Europas gelöst werden können, indem man jetzt Milliarden Milliarden in Verteidigungsausgaben investiert. Das ist doch keine zivilisatorische Antwort auf die Lektionen, die man aus der Geschichte ziehen kann."  

Waffen allein genügen nicht, aber ohne sie geht es nicht. Das freie Leben in Europa verteidigen, mit einer europäischen Streitmacht? In Krisenzeiten sind die europäischen Staaten immer mal wieder zusammengerückt – wenn auch manchmal nur für kurze Zeit.  

Prof. Herfried Münkler, Politikwissenschaftler 

"Wenn es eine Chance gibt, ein neues Europa auf die Bahn zu setzen, dann besteht sie jetzt. Und wenn wir sie jetzt nicht nutzen, dann wird es wahrscheinlich nimmermehr möglich sein."

Beitrag von Sascha Adamek und Tina Friedrich