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Klassenzimmer | Bild: rbb

- Notstand im Klassenzimmer – Ersatzunterricht durch Billiglehrer

Immer mehr Schulen stellen billige Aushilfskräfte ein, weil qualifizierte Lehrer nicht zu bekommen sind. Pädagogische Erfahrung - bei den Ersatzkräften meist Fehlanzeige! Dennoch werden sie sogar als Klassenlehrer eingesetzt. Billiglehrer auf Abruf.

Stellen Sie sich vor, Ihr Kind kommt aus der Schule nach Hause und erzählt: „Unsere Klassenlehrerin ist gar keine Lehrerin, sondern Buchhalterin.“ Ein schlechter Scherz? Mitnichten. An deutschen Schulen ist es inzwischen normal, dass wegen des Lehrermangels ungelernte Aushilfskräfte unsere Kinder unterrichten. Bevor zu viel Unterricht ausfällt, greifen viele Schulen lieber auf billige Ersatzkräfte zurück. Was das für die Schüler, aber auch die Aushilfslehrer selbst bedeutet, haben sich Manka Heise und Chris Humbs angesehen.

Julia Günther auf dem Weg zu ihrer Klasse. Sie ist Aushilfslehrerin an der Gesamtschule Mühlenberg in Hannover. Ihr Job ist auf drei Monate befristet. Sie ist Klassenlehrerin der 6g - und das, obwohl sie keine pädagogische Ausbildung hat. Eigenverantwortlich unterrichtet sie 29 Schüler. Auch mal unkonventionell.

Julia Günther, Aushilfskraft, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„So. Was heißt denn Frühstücken?“
Schülerin
„Breakfast.“

Bevor Julia Günther an der staatlichen Schule anfing, arbeitete sie als Buchhalterin. Jetzt unterrichtet sie in der Klasse Deutsch, Gesellschaftskunde und Englisch. Von einem Tag auf den anderen.

KONTRASTE
„Hätten Sie es sich jemals träumen lassen, dass es in Deutschland möglich ist, dass man Klassenlehrerin an einer ganz normalen Schule ist, ohne jemals eine pädagogische Ausbildung gemacht zu haben?“
Julia Günther, Aushilfskraft, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Ob ich mir das jemals habe träumen lassen? Nein! Ich bin ja hier auch wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Ich habe mir darüber, ehrlich gesagt, noch nicht so viele Gedanken gemacht und auf einmal war ich es. So gut, so schlecht - mit allem was dazu gehört.“

Wegen des chronischen Personalmangels setzen die Schulbehörden auf Hilfskräfte wie Julia Günther. Sie hat Englisch und Religionswissenschaft studiert – auf Magister. Das reicht inzwischen aus, um in Deutschland sogar eine zeitlang Klassenlehrerin zu sein.

Die Kinder haben viele Probleme – unterschiedlichster Art. Für ihre Klasse ist Julia Günther letztlich Ansprechpartnerin für alles.

Julia Günther, Aushilfskraft, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Hey. Psst!“
Schülerin
„Da kommen immer Kinder rein und fassen immer die ganzen Sachen an. Sie gucken in die anderen Schulranzen und gehen an die Jacken. An dem Tag wurden auch Handys geklaut.“
Julia Günther, Aushilfskraft, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Wir machen das nächste Woche in der Verfügungsstunde. Okay?“

Die Kinder haben Julia Günther als ihre Lehrerin voll akzeptiert. Seit Hilfskräfte wie sie angeheuert werden, fällt kaum noch eine Unterrichtsstunde aus.

Julia Günther, Aushilfskraft, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Ich habe eure Fabeln korrigiert, die sind außergewöhnlich gut ausgefallen, ich bin total stolz auf euch. Ich hatte noch nie so viele Einsen. Ihr habt viel verstanden.“

Julia Günther ist über eine sogenannte Bewerberliste an die Schule gekommen. Bei der Schulbehörde hatte sie sich als Hilfskraft für Englisch eintragen lassen. Doch wegen des Notstands muss sie nun auch völlig fachfremden Unterricht erteilen - wie Deutsch und Gesellschaftskunde.

Bei Personalnotstand müssen die Schulleiter die Namen auf einer landesweiten Liste der Schulbehörde abtelefonieren. Oben stehen die voll ausgebildeten Pädagogen, weiter unten Bewerber ohne Lehrerausbildung.

Horst Menze, Stellv. Schulleiter, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Ich telefoniere hier also ab und siehe dann zum Beispiel, dass beim ersten Namen da war keiner erreichbar, da spreche ich auf den Anrufbeantworter. Beim zweiten Namen ist die Bewerberin dann schon nach Hameln verschwunden. Und so geht es dann auch weiter. Der vierte Name will nicht, gibt es also auch. So gehe ich die Liste durch und irgendwann taucht dann Frau Günther auf, sie rufe ich an und die sagt dann: ‚Ich komme in die Schule zu einem Vorstellungsgespräch‘.“
KONTRASTE
„Welche Nummer hatte Frau Günther?“
Horst Menze, stellvertretender Schulleiter, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Frau Günther hatte die Nummer 32.“

Sie war die 32. Wahl. In diesem Fall ging die Sache gut aus. Die Schulleitung ist mit ihrer Leistung sehr zufrieden.

300 Kilometer weiter: Die Martin-Buber-Oberschule in Berlin. Hier ist die Situation ähnlich. Auch Ute Fischer ist eine Aushilfskraft. Die Studentin unterrichtet an der staatlichen Oberschule Französisch. Heute steht bei ihrer Klasse ein Vokabeltest auf dem Plan.

KONTRASTE
„Woher wissen Sie, wie man einen Test schreibt und wie man benotet?“
Ute Fischer, Aushilfskraft, Martin-Buber-Oberschule Berlin
„Naja, erstmal aus der eigenen Schulzeit und von den Kollegen. Man hat gesehen, wie Mustertests aussehen. Man hat das ein, zwei Mal mit den Kollegen durchgesprochen und dann macht man das selber.“
KONTRASTE
„Schon ein bisschen ein Sprung ins kalte Wasser?“
Ute Fischer, Aushilfskraft, Martin-Buber-Oberschule Berlin
„Ja! Schwimm oder geh unter.“

Bevor sie an die Schule kam, fand hier kaum noch Französischunterricht statt.
Die Ersatzkraft musste viel aufholen – aber: Trotz des Arbeitspensums wird sie geschätzt.

KONTRASTE
„Wie ist der Unterricht von Frau Fischer?
Schüler
„Ich fand den eigentlich am besten. Weil unsere erste Lehrerin, die fand‘ ich irgendwie komisch. Die zweite hatten wir nicht lange, deswegen kannte ich die nicht so richtig gut. Frau Fischer ist eigentlich fair und nett.“
Schülerin
„Sie gibt uns das Gefühl, dass sie möchte, dass wir Erfolg haben und nicht, dass sie da steht und sagt: ‚Ist mir eigentlich egal, was ihr macht.“
KONTRASTE
„Wisst ihr, dass Frau Fischer gar keine ausgebildete Lehrerin ist?“
Schülerin
„Nö, keinen Plan.“

Bei weitem nicht alle Aushilfskräfte sind so beliebt wie Ute Fischer. Auch ohne Ausbildung konnte sie sich in ihrer Klasse durchsetzen. Ute Fischer unterrichtet neun Stunden in der Woche. Doch bei den neun Stunden bleibt es nicht.

Ute Fischer, Aushilfskraft, Martin-Buber-Oberschule Berlin
„Ich muss vorarbeiten, ich muss nacharbeiten, ich muss Klassenarbeiten korrigieren, ich muss Tests konzipieren, ich muss Klassenarbeiten konzipieren, ich sammle zwischendrin Hausaufgaben ein. Ich muss meinen Unterricht vorbereiten, das gehört natürlich alles dazu. Und das kommt natürlich auch noch dazu.“

Mit Nach -und Vorbereitung des Unterrichts arbeitet sie weit mehr als 20 Stunden in der Woche. Für sie ist es faktisch ein Halbtagsjob. Lohn erhält sie aber nur für die neun Stunden Unterricht. Dafür zahlt ihr der Staat gerade mal 600 Euro brutto im Monat.

Aber nicht nur im armen Berlin ist das Einkommen der Hilfskräfte niedrig – auch in Niedersachsen spart man bei der Bildung. Der Staat setzt beim Lehrerersatz auf Lohndumping – obwohl es in der Praxis so manches Mal keine Unterschiede zwischen den Aushilfslehrern und denen mit einer ordentlichen Berufsausbildung gibt.

Isabel Rojas, Lehrerin, Gesamtschule Mühlenberg, Hannover
„Ich finde das ein Unding, wie die Personen verheizt werden und wie gering die Personen dafür bezahlt werden. Ja, es sind prekäre Arbeitsverhältnisse, die Ferien werden nicht bezahlt, die Arbeitverhältnisse gehen dann meist nur bis zu den Sommerferien. Eventuell werden sie nach den Sommerferien verlängert, das wissen die Leute meistens nicht bis kurz vor die Sommerferien.“

Bis dahin wird sie auch gleich noch für die Pausenaufsicht eingesetzt. Während alle anderen Lehrer über die unterrichtsfreie Zeit bezahlt werden, muss Julia Günther in den Sommerferien Hartz IV beantragen. Ihre Verträge gehen immer nur über drei Monate.

Julia Günther hatte gehofft, über diese befristete Stelle bald als reguläre Lehrerin anerkannt zu werden.

Doch so flexibel wie die Aushilfskraft sind die Behörden nicht. Sie verlangen von ihr: zwei Jahre lang Seminare zu besuchen und ganz nebenbei auch noch zu unterrichten. Das alles für 1000 Euro. Für eine allein erziehende Mutter eigentlich nicht zu schaffen.

Wieder in Berlin. Ute Fischer durfte nach dem Abi nicht auf Lehramt studieren. Dafür hätte sie einen Notendurchschnitt von 1,7 gebraucht. So gut war sie damals nicht. Bevor sie diese Schüler regulär als Lehrerin unterrichten darf, müsste sie noch mal fünf Jahre lang studieren, ein komplettes Lehramtstudium nachholen.

Ute Fischer, Aushilfskraft, Martin-Buber-Oberschule Berlin
„Das System ist in meinen Augen nicht okay, weil es Menschen verbaut wird, die wirklich Lehrer werden möchten, in den Schuldienst zu gehen.

Ihre Schulleitung hätte sie gerne als Französischlehrerin behalten. Aber nein – die Formalien sprechen dagegen. Trotz Lehrermangel – an den formalen Voraussetzungen für diesen Beruf wird nicht gerüttelt. Nun befürchten viele Schulleiter, dass sich bald niemand mehr unter diesen Bedingungen auf die Bewerberlisten setzen lässt.

Lutz Kreklau, Schulleiter, Martin-Buber-Oberschule Berlin
„Ich gehe davon aus, dass niemand länger als ein, zwei Jahre durchhalten wird. Einfach, weil die Ferien nicht bezahlt werden, man ist unter Umständen sehr schnell draußen und es sind ja alles junge Menschen, die nicht mehr ganz jung sind. Die gehen ja alle gegen die 30. Das heißt, alles was Lebensplanung ausmacht, ist für die ja gar nicht mehr möglich.“

Zwei Frauen – geschätzt, gewollt, gebraucht. Aber: schlecht bezahlt, ausgenutzt, ohne Perspektive. Ohne sie, bleibt nur der Unterrichtsausfall. Und gegen den sind einst alle Schulminister vollmundig angetreten.


Autoren: Manka Heise und Chris Humbs