Demonstration gegen Hartz 4 (Quelle: rbb)

- Proteste gegen Hartz IV - Warum vor allem die Ostdeutschen den Vollkasko-Staat wollen

Was in Magdeburg als Bürgerinitiative begann, entwickelt sich zu einer gewaltigen Protestwelle. Enttäuscht vom Staat, gehen Zehntausende jeden Montag auf die Straße und machen ihrem Ärger Luft. Wenn der Staat schon nicht mehr zahlen will, dann soll er wenigstens für Arbeitsplätze sorgen. Olaf Jahn, Susanne Opalka und Kristina Tschenett mischten sich unter die Demonstranten.

Mehr als die Hälfte der Ostdeutschen findet unsere Demokratie nicht mehr attraktiv! Willkommen bei Kontraste, live aus Berlin. Mit den Montagsdemonstrationen vor 15 Jahren haben sich die Ostdeutschen für Freiheit und für Würde entschieden.

Die garantiert nicht jedem zu jeder Zeit einen Arbeitsplatz. Die garantiert aber auf jeden Fall, dass jeder und jede jederzeit sagen darf, was er oder sie denkt! Und das tun die Wähler in den neuen Bundesländern jetzt.

Höchste Zeit, dass die Politiker sich nicht mehr vor der Wahrheit drücken. Die aber ist bitter, zeigen jetzt Olaf Jahn, Susanne Opalka und Kristina Tschenett.


Reklamation bei der Regierung. Hartz IV einmal bitte Retour an den Kanzler.

Demonstranten:
"Hartz IV muss weg!"
"Das Ganze stinkt zum Himmel!"
"Es bringt nicht einen neuen Arbeitsplatz!"
"Der Staat hat vier Billionen Euro Vermögen!"
"Aber ist ja auch egal, wen wir wählen, beschissen werden wir von allen. Das ist seit 40 Jahren so."

Wut und Empörung, die Angst vor Hartz IV. Zehntausende fürchten den endgültigen sozialen Abstieg. Wer die Schuld trägt, ist klar: die Politiker. Das meint auch Marina Saebelfeld aus Berlin, sie ist selber langzeitarbeitslos:

Marina Saebelfeld:
"Die wissen gar nicht, wie das ist, wenn man jeden Monat wirklich ums Überleben kämpft, wenn man jeden Monat mit sehr, sehr wenig Geld auskommen muss."

Die Enttäuschung kocht hoch, vor allem im Osten. Fast 3,2 Millionen Menschen werden künftig Arbeitslosengeld II bekommen. In den Neuen Bundesländern trifft es im Verhältnis zweieinhalb Mal so viele Menschen wie im Westen. An Hartz IV entlädt sich ein Frust, der sich in 15 Jahren Erfahrungen mit dem neuen Deutschland aufgestaut hat.

Berlin-Marzahn, ein Bezirk im Osten der Stadt. 20 Prozent Arbeitslose. Marina Saebelfeld, 51 Jahre alt, allein stehend. Die studierte Ökonomin ist seit der Wende überwiegend ohne Job, bezieht Arbeitslosenhilfe. Sie wohnt im siebten Stock eines Plattenbaus, Ein-Raum-Wohnung, 34 Quadratmeter, unsaniert - alles in alter DDR-Schönheit.

Marina Saebelfeld:
"Ich war mehr als 20 Jahre lang voll berufstätig, habe so ganz nebenbei noch Kinder großgezogen, ja?! Und werde denn wie der letzte Dreck behandelt, vom Staat, von den Ämtern - warum? Wofür werde ich bestraft? Ich kann nicht dafür, dass unsere Firma dicht gemacht wurde, ich kann nicht dafür, dass ich definitiv keine Stelle bekomme. Ich möchte gerne arbeiten, aber wenn keine Arbeit vorhanden ist, kann ich sie nicht annehmen. Und da braucht auch kein Herr Schröder oder wer immer auch Druck ausüben. Was denn fürŽn Druck, ich brauche keinen Druck, ich brauche einfach nur Arbeit!"

Arbeit und soziale Sicherheit: Das fordern die wütenden Demonstranten auf der Straße - und zwar von den Politikern. Der Ruf nach dem Staat: ein Erbe der Vergangenheit.

"Gib uns Arbeit", schreien sie.

Die Proteste zeigen, dass die Vorstellungen vieler Demonstranten vom Staat verletzt sind, meint der renommierte Politologe Karl Schmitt von der Universität Jena:

Prof. Karl Schmitt, Institut für Politikwissenschaften, Universität Jena:
"Nämlich die Vorstellung, dass der Staat eigentlich dafür zuständig ist, und verantwortlich ist auch dafür, dass jeder einzelne in diesem Land, sagen wir es mal pathetisch, in Würde leben kann, auch ökonomisch so abgesichert ist, dass er in Würde leben kann."

So wie damals in der DDR. Die Arbeiter waren dem Staat treu ergeben, der totalitäre Wohlfahrtsstaat sorgte für ihr Dasein: Von der Krippe bis zum Arbeitsplatz.

Er garantierte Wohnung, Krankenversorgung. Manchmal gab es auch ein Auto.

Prof. Karl Schmitt, Institut für Politikwissenschaften, Universität Jena:
"Was auf der Hand liegt ist natürlich, das alte Muster des fürsorglichen Staates wiederzubeleben und zu sagen: Also, der Staat muss dass jetzt machen und notfalls soll er eben Arbeitsplätze schaffen, indem er selbst die Leute anstellt und mit den Steuermitteln, die da sind, bezahlt - um es ganz trivial auszudrücken. Nur vergessen die Leute, dass ein solches System zum Bankrott geführt hat bereits einmal."

Hammer und Zirkel hatten ausgedient. Und dann kam Helmut Kohl, der "Retter".

Jetzt sollte der Bundeskanzler fürs Wohlergehen sorgen. Er versprach:

Helmut Kohl (Archiv):
"...dass wir die neuen Bundesländer in blühende Landschaften gestalten werden."

Ein fataler Satz. Er lässt viele Menschen glauben, sie würden nun von einer Betreuung in die nächste wechseln. Vollmundig auch der nächste Kanzler:

Gerhard Schröder (Archiv):
"Wir werden die mutigste Arbeitsmarktreform machen, die es bisher in Deutschland gegeben hat."
Peter Hartz (16.8.2002):
"So sind wir zu dem Ergebnis gekommen, dass es machbar ist, zwei Millionen Arbeitslose in drei Jahren beginnend ab heute 11:00 Uhr - dass wir das schaffen können."

Nach 300 Bewerbungen hat Marina Saebelfeld aufgehört zu zählen, sie hat Fortbildungs- und Trainingsmaßnahmen durchlaufen, sich mit Nebenjobs knapp über Wasser gehalten: Putzen, Kassieren, Zeitungen verkaufen. Sie war sich für nichts zu schade. Eine feste Stelle hat sie immer noch nicht.

Marina Saebelfeld:
"Und das Schlimmste ist, dass ich keine Perspektive habe. Meine Chancen auf dem Arbeitsmarkt sind gleich null, und wenn ich Pech habe, bin ich bis zur Rente noch arbeitslos. Also zu wissen, dass das nicht besser wird, im Gegenteil, dass das von Jahr zu Jahr schlimmer wird, ja, das ist eine ganz schlimme Situation, wo ich sehr drunter leide. Sehr!"

So wie Marina Saebelfeld geht es vielen im Osten. Ihnen fehlt jede Perspektive. Deshalb sind schon über eine Million Arbeitssuchende in den Westen abgewandert. Jetzt stehen 1,6 Millionen Arbeitslosen in den neuen Ländern 50.000 offene Stellen gegenüber.

Eine dramatische Situation. Dabei haben die Bundesregierungen in der Vergangenheit soviel versucht. Billionen flossen in den Osten. Für Wirtschaftshilfe, für den Straßenbau und die Sanierung von Städten. Das Aufbauprogramm hatte Erfolge. Der Stimmung half es wenig.

Prof. Karl Schmitt, Institut für Politikwissenschaften, Universität Jena:
"Das was sich in den Jahren 1990 und folgende, Mitte der 90er vollzogen hat hier im Osten, also gigantische Fortschritte auch des Massenwohlstandes, der ja nicht geleugnet werden kann. Diese Fortschritte werden als selbstverständlich empfunden, und da erinnert man sich nicht mit der selben Heftigkeit dran, als an Dinge, die negativ sind."

Trotz der Fortschritte: 40 Prozent der Arbeitslosen im Osten suchen schon länger als zwei Jahre einen Job - mit jedem weiteren Monat sinken ihre Chancen auf eine Rückkehr ins Arbeitsleben. Vielen ist kaum zu helfen - auch nicht vom Staat.

Der Politologe Karl Schmitt von der Universität Jena formuliert, was kein Politiker auszusprechen wagt.

Prof. Karl Schmitt, Institut für Politikwissenschaften, Universität Jena:
"In jeder Gesellschaft gibt es unterschiedliche Lebenschancen. Und wenn ich ehrlich bin, denke ich, muss ich auch in der ökonomischen Diskussion sagen, es gibt Situationen, in denen es erstens Durststrecken da sind, und in denen unter Umständen bestimmte Bevölkerungskreise nur bis zu einem bestimmtem Niveau gefördert werden können, und dass es so etwas wie eine verlorene Generation oder verlorene Generationen geben kann."

Verlorene Generation: das heißt nie wieder Arbeit, nie wieder eigenes Geld, abhängig für immer.

Marina Saebelfeld wird mit Hartz IV ab Januar von monatlich 345 Euro plus Mietkosten leben müssen. Elf Euro weniger als bisher.

Marina Saebelfeld:
"Also Elf Euro bedeuten für mich, dass ich noch mehr kürzen muss. Das Problem ist bloß, ich weiß nicht, was ich noch kürzen soll, also ich verzichte ja wirklich schon auf Reisen, ich gehe nicht ins Theater, nicht ins Kino, ich kann mir keine Monatskarte mehr kaufen, ich halte mich jetzt hier überwiegend in Marzahn-Hellersdorf auf, und ich hab ungefähr noch zehn Euro jetzt, jetzt haben wir noch zehn Tage oder elf Tage, also habe ich ungefähr noch jetzt im Portemonnaie pro Tag einen Euro."

Bundeskanzler Gerhard Schröder versucht dennoch weiter Hoffnungen zu wecken. Die PDS schürt Ablehnung und verspricht den Kampf für den Vollkasko-Staat. Die ganze Wahrheit sagt den Wählern niemand. Für Karl Schmitt ein schwerer Fehler:

Prof. Karl Schmitt, Institut für Politikwissenschaften, Universität Jena:
"Ich bin der Meinung, dass die Demokratie davon lebt, dass es Politiker gibt, die genau dieser sehr schweren Aufgabe nicht entziehen: Wahrheiten zu sagen, auch wenn sie unangenehm sind, und dass die Demokratie dann untergegangen ist, wenn es keine mehr gibt, die dazu bereit sind."

Heute sind nur noch 30 Prozent der Ostdeutschen zufriedene Demokraten.

Zu viert in einer 60 m²-Wohnung! Ohne Zentralheizung. Kein Telefon, kein Auto? Eine Zumutung. Richtig. Die Realität: der meisten DDR-Bürger noch vor 15 Jahren. Deshalb auch haben sie mit ihren Montagsdemonstrationen ihrem Staat zum Zusammenbruch verholfen.