Nonne und Frauen mit Kopftuch

- Wismar - Stadt ohne Zukunft?

Wie wichtig Bildung für die soziale Integration ist, das wiederholen die Politiker seit Jahren mantraartig. Doch wirklich verbessert hat sich nicht viel. Die Schulabbrecherquote zum Beispiel liegt bei sieben Prozent bundesweit. Was aber tun, wenn schon 12- oder 13-Jährige die Schule komplett verweigern? Manka Heise und Chris Humbs sind dorthin gefahren, wo fast jeder vierte Schüler nicht mal den Hauptschulabschluss schafft.

Celine, 12 Jahre alt, mit ihrer Mutter im Wohnzimmer. Celine ist Dauer-Schulschwänzerin. Auch heute ist sie mal wieder zu Hause geblieben. Eine reguläre Schule besucht sie schon lange nicht mehr.

KONTRASTE
„Celine, warum bist du nicht zur Schule gegangen?"
Celine Gudlautzki
„Ja, weil die doof war, die Schule, einfach nur doof, ich mochte die nicht. Die Lehrer mochte ich nicht, also die war echt schon richtig doof die Schule."

Celines Mutter, alleinerziehend und arbeitslos, hat es aufgegeben, ihre Tochter zum Unterricht zu schicken. Trotz Schulpflicht.

Nicole Gudlautzki
„Ich habe alles versucht, sie morgens aus dem Bett zu kriegen. Es ging nicht. Und ich habe nachher gesagt, ich kann sie nicht zur Schule prügeln, das geht nicht."

Celine verweigert die reguläre Schule. Sie ist jetzt bei einem Projekt angemeldet, das sich um Problemkinder in Wismar kümmert - aber auch dazu hatte sie heute keine Lust. Ihre Chance, jemals einen Abschluss zu bekommen, ist schlecht.

Mit dieser düsteren Aussicht steht die Zwölfjährige gerade in Wismar nicht allein da.

Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann Stiftung, hat die Hansestadt ein gravierendes Bildungsproblem. Im bundesweiten Vergleich hat die Kommune die höchste Schulabbrecherquote. Hier schaffen 24 Prozent, also jeder 4. Schulabgänger, noch nicht einmal den Hauptschulabschluss. Und das, obwohl es hier kaum Ausländer und somit keine Integrationsschwierigkeiten gibt.

Warum hat also gerade die Hafenstadt Wismar die höchste Schulabbrecherquote in Deutschland? Wir begeben uns auf Spurensuche.

Auf den ersten Blick deutet bei diesen hübschen Fassaden nichts auf Probleme hin. Die Altstadt ist saniert, zählt sogar zum Unesco-Weltkulturerbe. Doch der Schein trügt.

Im Rathaus ist die alarmierende Statistik der Bildungsmisere schon länger bekannt. Thomas Beyer, Bürgermeister, sieht das Hauptproblem bei den vielen Langzeitarbeitslosen in seiner Stadt.

Thomas Beyer (SPD), Oberbürgermeister
„Wenn Kinder über viele Jahre hinweg erleben, dass ihre Eltern, ja, auch keine Perspektive für sich sehen, dann kann das natürlich durchschlagen."

Dass sich die Schwierigkeiten in den Familien auf die Leistungen der Kinder auswirken, ist für die Schulen in Wismar nichts Neues. Trotzdem sind sie mit der Situation überfordert.

Die Stadt verschiebt das Problem. Schulverweigerer wie Celine werden in eine spezielle Maßnahme gesteckt: in die so genannte Schulwerkstatt. Einmal in der Woche gibt es Sport - dann kommen fast alle. Auch Celine.

Ihre Mitschüler Thorsten und Marcel machen sich von der Sporthalle auf den Weg zur Englischstunde. Marcel, 14, ist schon seit zwei Jahren in der Schulwerkstatt. Er gilt als verhaltensauffällig, randalierte im Unterricht.

KONTRASTE
„Fällt Dir das schwer, dich an Regeln zu halten?"
Marcel
„Manchmal schon. Aber ich finde, Regeln sind da, um sie zu brechen."

Für Marcel und Celine bietet die Werkstatt individuelle Betreuung, in kleinen Gruppen wird gelernt, viel gesprochen. Das Ziel: die Kinder irgendwann wieder in das normale Schulsystem zu integrieren.

Doch der Weg dahin ist mühsam. Das Verhalten der Kinder hat sich längst verfestigt. Eigentlich müsste man bereits in der Grundschule ansetzen, doch die Schulwerkstatt betreut Kinder erst ab dem zwölften Lebensjahr.

So sind manche Lehrer schon froh, dass die Jugendlichen überhaupt hier auftauchen.

Lehrerin
„Bevor sie auf der Straße rumlaufen, ist das ein Weg, haben sie einen Anlaufpunkt, wo sie morgens hinkommen können."

Hier bekommen sie wenigstens regelmäßig etwas zu essen. Ihren Eltern Bußgeld anzudrohen, wenn sie ihre Kinder morgens nicht in die Schule schicken, bringt nichts. Die meisten leben von Hartz IV

Im Jugendamt von Wismar arbeitet Peter Fröhlich. Er ist zuständig für die Schulwerkstatt. Mehr staatliches Einwirken, etwa die Kinder jeden Morgen von zu Hause abholen zu lassen, übersteigt seine Möglichkeiten.

Peter Fröhlich, Jugendamt Wismar
„Man kann nicht in jeder Familie, wo man dann meint, da ist der morgendliche Start nicht in Ordnung, einen Sozialarbeiter schicken, dann brauche ich 40, 50 Stück."

Schon jetzt gibt die Stadt enorme Summen für die Jugendhilfe aus. Viel mehr, als die klammen Kassen hergeben. Erst auf den zweiten Blick wird klar: Hinter den vielen schönen Fassaden leidet die Stadt noch immer unter dem Jobabbau, der nach der Wende stattfand.

Symbol dafür ist die Werft, die zu DDR-Zeiten 6.000 Menschen beschäftigte. Nach 20 Jahren sind es gerade mal 700. Viele wanderten aus Wismar ab, vor allem die mit guter Ausbildung. Die Einwohnerzahl schrumpfte von einst gut 58.000 auf heute lediglich 44.800.

Am Hafen von Wismar entstehen zwar neue Arbeitsplätze - etwa in der Holzindustrie - doch die Jobs reichen nicht aus. Keine Arbeit, keine Hoffnung. Inzwischen wird diese Stimmung von Generation auf Generation übertragen. Eine unaufhaltsame Abwärtsspirale.

KONTRASTE
„Wie wirkt sich denn solch eine hohe Schulabbrecherquote auf die Stadt Wismar aus?"
Peter Fröhlich, Jugendamt Wismar
„Na, sie produziert im Zweifel eine noch höhere Zahl, eine Gruppe, die wieder von Langzeitarbeitslosigkeit bedroht ist."

Sozialhilfeempfänger produzieren Sozialhilfeempfänger. Viele Eltern haben aufgegeben. Sie engagieren sich selbst kaum noch und glauben auch nicht, dass ihnen der Staat dabei helfen könnte, ihre Kinder wieder in die Schule zu bringen.

Nicole Gudlautzki
„Ich weiß auch nicht, da hat sie ihren eigenen Willen."
KONTRASTE
„Denken Sie manchmal, sie müssten da wirklich noch mehr Hilfe bekommen?"
Nicole Gudlautzki
„Nee, mehr Hilfe bringt mir auch nichts."

Und trotzdem sollte nie ein Kind aufgegeben werden.