Zeitungsausträger, Quelle: rbb

- Zeitungsausträger unter Druck - Mindestlohn nur für die Schnellsten

Das Mindestlohngesetz soll allen Arbeitnehmern einen Stundenlohn von 8,50 Euro garantieren. Doch der Gesetzentwurf von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles hat einen gravierenden Schönheitsfehler: Arbeitgeber können auch weiter nach Leistung bezahlen. Wer die Leistung nicht bringt, muss selbst sehen, wie er trotzdem an seine 8,50 Euro pro Stunde kommt.

Zimmermädchen, Kellner und Taxifahrer – sie und viele andere Beschäftigte der Niedriglohn-Branchen können sich freuen, wenn spätestens ab Anfang 2017 der gesetzliche Mindestlohn greift. 8,50 Euro die Stunde soll dann flächendeckend gelten. Doch das Gesetzesvorhaben, auf das Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles sehr stolz ist, hat einen gravierenden Schönheitsfehler: Es ist nämlich weiterhin zulässig, auch Stücklöhne zu zahlen!  Auf diese Weise könnten Tausende Zeitungsausträger am Ende trotzdem um ihren Mindestlohn gebracht werden! Sascha Adamek und Chris Humbs.

Früh um zwei in Bielefeld. Der 76-jährige Dieter Meise ist mit seinem alten Opel unterwegs: sechs Nächte die Woche. Er arbeitet bereits sein halbes Leben als Zeitungsbote – früher im Zweitjob, heute, um seine Rente aufzubessern.

Dieter Meise
Zeitungszusteller
„Ja, bei Wind und Wetter, ob Schnee, ob glatt.“

Der Kunde ist für ihn König, auch wenn er persönlich kaum einen kennt.

Dieter Meise
Zeitungszusteller

„Muss man hier festmachen, damit sie nicht nass wird. Das mache ich immer so. Die Leute wollen ja trockene Zeitungen haben.“

Viel kommt bei seiner Arbeit nicht rum: etwas Kilometergeld fürs Auto und ein paar Euro für die Zeitungen. Denn er wird nicht nach Arbeitszeit bezahlt, sondern pro Stück: für jede Zeitung bekommt er 9 Cent, für Prospekte 3 Cent. Stücklohn nennt sich das. Umgerechnet auf seine Arbeitszeit beträgt sein Stundenlohn knapp 4 Euro.

Durch den Mindestlohn soll damit bald Schluss sein, verspricht die Bundesarbeitsministerin auch heute wieder im Bundestag:

Andrea Nahles (SPD)
Bundesarbeitsministerin

„Ab dem 1. Januar 2017 gilt für alle Branchen ohne Ausnahme in Ost und West gleichermaßen ein Mindestlohn von 8 Euro 50.“

Doch viele Arbeitgeber, wie hier beim Verlag „Neue Westfälische“ in Bielefeld, haben ganz andere Pläne. Sie bereiten sich vor, eine Hintertür im geplanten Gesetz auszunutzen.

Die Menge der Zeitungen, die der Zusteller austrägt, darf nämlich auch weiterhin Grundlange für seinen Lohn sein, so der Gesetzentwurf.

Absurd: denn Mindestlohn heißt eigentlich: egal wie viele Zeitungen er austrägt, er bekommt für jede Arbeitsstunde 8 Euro 50.

Und was planen die Arbeitgeber jetzt? Sie wollen dem Zusteller vorschreiben, wie viele Zeitungen er pro Arbeitsstunde zu verteilen hat, egal wie lange er tatsächlich braucht. Für die Boten heißt das: Wer länger für seinen Arbeitgeber unterwegs ist, hat Pech gehabt: Bedeutet: unbezahlte Arbeitszeit.

Das Zustellunternehmen des Verlags teilt KONTRASTE mit, das sei eine „praktikable Umrechnung von Stück- auf Stundenlöhne.“

Die Arbeitgeber ermitteln mit Hilfe von Computerprogrammen, wie viele Zeitungen jeder Zusteller in welcher Zeit verteilen muss. Das zeigen uns Betriebsräte. Sekundengenau wird alles vorgegeben, für jeden Handgriff und jeden Schritt.

Mathias Haubrok
Betriebsrat

„Die Durchschnittsgeschwindigkeit wird mit 5 km/h angenommen und bei den Steckzeiten ist es so, dass der Erstwurf mit 20 Sekunden und jeder weitere Wurf mit 5 Sekunden berechnet wird.“

KONTRASTE

„Aber 5 km/h zum Laufen ist schon ganz schön sportlich!?“

Mathias Haubrok
Betriebsrat

„Das ist schon ganz schön sportlich, ja.“

Die Betriebsräte halten diese Berechnungen für unrealistisch. Wir testen gemeinsam mit dem Betriebsratsvorsitzenden eine Route von Zusteller Dieter Meise.

Wir messen seine Arbeitszeit ab der Abholung der Zeitungsstapel. Für diese Route hat der Computer eine Dauer von 14 Minuten ausgespuckt – darin enthalten: alle Fahrzeiten, Laufwege und Einwürfe.

Dieter Meise hat einen Vorteil: Er ist ein alter Hase und muss nicht lange suchen. Er weiß, durch welche Türen er gehen muss, kennt die Stellen, wo die Kunden die Zeitungen haben wollen.

Trotzdem schafft Dieter Meise die Tour nicht in der vorgegebenen Zeit.

Dieter Meise
Zeitungszusteller

„Schön zumachen, damit es nicht nass wird.“

Statt der festgelegten 14 Minuten zeigt unsere Uhr über 30 Minuten an.

KONTRASTE
„Sie hätten für diese Strecke 14 Minuten brauchen müssen, haben jetzt aber deutlich über 30 Minuten gebraucht. Haben Sie getrödelt?“

Dieter Meise
Zeitungszusteller

„Nein, nicht getrödelt.“

Unser zweiter Test: Dieses Mal mit einem Zusteller, der seine Arbeit zu Fuß verrichtet. Der Bote möchte lieber unerkannt bleiben. Auch er ist seit Jahren dabei.

Seine Wegstrecke führt ihn von der Ablagestelle in ein Wohngebiet, das ein gutes Stück entfernt ist. Rund 200 Zeitungen und etliche Kilometer liegen vor ihm.

Das Computerprogramm der Arbeitgeber hatte dafür gerade 48 Minuten veranschlagt. Doch er braucht für die Strecke mehr als 1 Stunde 38 Minuten.

KONTRASTE
„Ja, 1:38, laut dem Computersystem hätten sie das in 48 Minuten schaffen müssen. Wie finden Sie das? Kann man das schaffen?“

Jakob F.
Zeitungszusteller

„Nein.“

Die Betriebsräte sehen ihre Befürchtungen bestätigt. Das Computerprogramm könnte von den Arbeitgebern mit falschen Informationen gefüttert werden – das führt zu Lohnkürzungen. So würde man den Mindestlohn unterlaufen.

Mathias Haubrok
Betriebsrat

„Wenn eine Viertelstunde bezahlt wird und der eine halbe Stunde braucht, dann kriegt er auch nur die Hälfte bezahlt. Dann hat er nur die Hälfte an Stundenlohn, die kommen dann reell wieder auch nur auf 4 Euro. Und das ist natürlich nicht das, was die Politik mit dem Mindestlohn machen wollte.“

Wir wollen von der Ministerin selbst erfahren: warum verbietet die Regierung nicht einfach im Mindestlohngesetz solche Stücklohnmodelle?

KONTRASTE
„Ist das nicht grundsätzlich ein Problem, in dem Bereich Stücklohn weiter zuzulassen, das widerspricht ja eigentlich dem Gedanken eines Zeitlohnes, was ja der Mindestlohn ist?“

Andrea Nahles (SPD)
Bundesarbeitsministerin

„Nein, es gibt in vielen Branchen Stücklohn, das ist keinesfalls auf die Zeitungsverleger beschränkt. Und aus meiner Sicht gibt es da eine gute Praxis und eine gute Tradition in Deutschland und das allein für sich genommen ist aus meiner Sicht kein Grund, den Stücklohn jetzt grundsätzlich zu verbieten.“

Der Plan der Regierung: Die „Finanzkontrolle Schwarzarbeit“ des Zolls soll sich jetzt auch noch darum kümmern, dass die Arbeitgeber beim Umrechnen von Stück auf Zeit nicht betrügen. Doch wie soll bei zigtausend Betroffenen und undurchsichtigen Abrechnungssystemen die Einhaltung des Mindestlohns überprüft werden? Dies sei unmöglich, meint die Zollgewerkschaft.

Dieter Dewes
Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft

„Wir bräuchten heute schon, um den Mindestlohn flächendeckend zu kontrollieren – ohne diese Ausnahmetatbestände – zwischen 2000 und 2500 Arbeitskräfte, also Beschäftigte; die man zusätzlich einstellen müsste, und solche Systeme zu durchschauen und zu durchleuchten ist aus meiner Sicht derzeit überhaupt nicht zu schaffen.“

Den Gesetzentwurf der Ministerin hält er für inkonsequent, die Umgehung des Mindestlohnes wird ein einfaches Spiel.

Dieter Dewes
Deutsche Zoll- und Finanzgewerkschaft

„Das Mindestlohngesetz würde eigentlich jetzt die Gelegenheit bieten, endlich von den Stücklöhnen wegzukommen, denn dieses Gesetz sieht ja eindeutig die Zeitarbeitsstunde vor als Entlohnung.“

Die Arbeitsrechtsexpertin und ehemalige Richterin Christiane Brors kritisiert die Politik der Ministerin. Es sei ein fauler Kompromiss im Sinne der Zeitungsverleger.

Prof. Christiane Brors
Arbeitsrechtlerin, Universität Oldenburg

„Für die Zukunft schließt das Gesetz nicht die Lücke, die Stücklohnvereinbarungen offen lassen. Arbeitgeber werden weiterhin versuchen, über Stücklohnvereinbarungen oder über Arbeitszeitmanipulation den Mindestlohn zu unterlaufen.“

Für viele Zeitungszusteller könnte sich also trotz Mindestlohn-Gesetz nichts  im Geldbeutel ändern. Das finden die Zusteller der „Neuen Westfälischen“ in Bielefeld besonders bitter. Denn ihr Verlag gehört mehrheitlich der Medienholding der SPD.

 

Noch haben die Gewerkschaften Gelegenheit, gegenzusteuern. Bis Juli soll im Bundestag noch über den Mindestlohn gestritten werden, weitere Änderungen sind nicht ausgeschlossen. Geplant ist, dass der Gesetzentwurf dann bis zur Sommerpause verabschiedet ist.


Beitrag von Sascha Adamek und Chris Humbs